Über den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul lassen sich viele Dinge sagen, schön sind davon die wenigsten. In einem Spiegel-Bericht aus dem Jahr 1992 zitiert das Magazin den damaligen CDU-Generalsekretär: Wer die „Vergiftung des öffentlichen Klimas durch Roma und Sinti“, nicht erkennen könne, lebe „auf einem anderen Stern“.
Der Bericht stammt vom 7. September 1992. Nur wenige Wochen zuvor kam es in Rostock-Lichtenhagen zu den größten rassistischen Angriffen auf Asylbewerber*innen – unter anderem viele Sinti*zze und Rom*nja – seit der Nachkriegszeit. Tausende applaudierten, als Molotow-Cocktails durch Fensterscheiben in die Wohnungen von Familien flogen. Die Antwort der Bundesrepublik auf das Pogrom: Die Angegriffenen wurden „evakuiert“, weiter drangsaliert und erhielten keine Entschädigung – bis heute. Die angreifenden Rechtsextremen konnten ihre vom deutschen Bürgertum beklatschten Attacken als „Erfolg“ verbuchen.
Bis 1995 dauerte es, ehe Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland erstmals die Anerkennung als nationale Minderheit erhielten: Kultur und Lebensrealitäten der Bevölkerungsgruppe sind seither grundlegend als schützenswert eingeordnet und ihre Diskriminierung ist unter Strafe gestellt. Auch die Wahrnehmung des Fakts, dass schätzungsweise zwischen 220.000 und 500.000 Angehörige der Minderheitengruppe während des Nationalsozialismus systematisch ermordet wurden, hat gedauert: Vor ziemlich genau 42 Jahren, am 17. März 1982 erfolgte die offizielle Anerkennung des Völkermords durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Kurz zuvor gründete sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
Heute beschäftigen sich Bildungseinrichtungen und Antidiskriminierungsstellen mit dem Thema Antisintiismus und Antitromaismus – der Begriff „Antiziganismus“ wird von einigen Rom*nja und Sinti*zze abgelehnt, weil er sich aus einer diskriminierenden Fremdbeschreibung ableitet – wenngleich die teils jahrzehntelange Verschiebung und Verdrängung der Aufarbeitung nachwirkt.
Wie tief die Ressentiments bis heute sitzen, das musste Kelly Laubinger schon mehr als einmal erfahren. Die gelernte Erzieherin arbeitet hauptamtlich in der Sinti Union Schleswig-Holstein und ist ehrenamtliche Vorsitzende der Bundesvereinigung der Sinti und Roma. Im Oktober vergangenen Jahres wollte sie den Schriftsteller Max Czollek für einen Vortrag ins schleswig-holsteinische Neumünster einladen und für diesen ein Hotelzimmer buchen. Das Hotel reagierte zunächst positiv, in einer zweiten Mail erhielt Laubinger allerdings eine Absage: Man habe „mit der Familie Laubinger schlechte Erfahrungen gemacht“.
Kelly Laubinger kann sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen, wenn sie diese Aussage am Telefon zitiert: „Ich bin Kind zweier Großfamilien, es gibt sehr viele Laubinger hier. Aber selbst alle Laubinger sind nicht miteinander verwandt, auch nicht in Neumünster. Man kann das Vergleichen mit dem Nachnamen Meier.“ Sie wertet den Fall als direkte Diskriminierung, auch da sie die Absage erst erhielt, als sie sich als Vertreterin der Sinti Union Schleswig Holstein zu erkennen gab.
Seitdem hat sich der Geschäftsführer des Hotels mehrfach erklärt, unter anderem in einem Fernsehbeitrag, und sprach von einem Missverständnis: Ein Gast mit dem Namen Laubinger hätte einmal ein Zimmer verwüstet. In einem Artikel der Schleswig-Holsteinischen Zeitung SHZ heißt es, der Hotelbetreiber habe sich deswegen entschieden, niemandem mit diesem Namen mehr zu beherbergen. „Das ist eigentlich schon ein Witz an sich“, sagt Kelly Laubinger, „würde man das mit dem Namen Meier auch machen? Ich glaube nicht. Alle anderen sind Individuen, nur wir leider nicht.“ Sie spricht von einer „Homogenisierung“ und einer „kollektiven Haftbarmachung“.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Kelly Laubinger meldete sich bei der Antidiskriminierungsstelle des Landes Schleswig-Holsteins und reichte schließlich Zivilklage ein. Es ist bereits das zweite Mal, dass die Enkelin dreier Holocaustüberlebender öffentlichkeitswirksam gegen ihre Diskriminierung vorgeht. 2021 klagte sie erfolgreich gegen ein Neumünsteraner Fitnessstudio, das ihr die Aufnahme verweigerte – vorgeblich aufgrund von begrenzten Kapazitäten wegen der Corona-Pandemie. Als Laubinger feststellen musste, dass dasselbe Studio nicht nur weiter Werbung für Neumitglieder schaltete, sondern Bekannte aus ihrem Umfeld ohne einen entsprechenden Verweis problemlos einen Vertrag abschließen konnten, sah sie sich diskriminiert. Laubinger reichte Zivilklage ein – das Amtsgericht Neumünster stellte fest, dass es sich bei dem Fall um einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz handelt, Laubinger erhielt ein Schmerzensgeld. Damit war sie die erste Sintezza bundesweit, die eine Diskriminierungsklage erfolgreich durchsetzen konnte.
In ihrer Rolle als öffentliche Interessenvertreterin der Community der Sinti*zze und Rom*nja sieht sie sich auch einen stellvertretenden Kampf führen, für viele Andere, die das nicht können oder wollen. Schätzungsweise – exakte Zahlen existieren nicht – zwischen 70.000 und 150.000 Sinti*zze und Rom*nja leben in Deutschland. Ihre Lebensrealitäten, beziehungsweise „Diskriminierungsrealitäten“ beleuchtete jüngst der Band „Antisintiismus und Antiromaismus“ der Autorinnen Leah Carola Czollek und Gudrun Perko.
Der Band vereint 17 qualitative Interviews, die frappierend deutlich schildern, wie Sinti*zze und Rom*nja auch in der Gegenwart in so ziemlich sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens Diskriminierung erfahren – von der Schule über die Ämter bis hin zum Arbeitsplatz. Benachteiligungen bei der Jobsuche, Beleidigungen und gewalttätige Angriffe in der Schule oder im öffentlichen Raum bis hin zum aktiven oder passiven Ausschluss aus Gemeinschaftsräumen gehören für viele zum Alltagserleben.
Wenngleich Fortschritte zu verzeichnen seien – der Sammelband spricht unter anderem von einem „größeren Interesse der Öffentlichkeit und Nichtbetroffenen“ hinsichtlich der Diskriminierungserfahrungen –, halten sich rassistische Klischees über Sinti*zze und Rom*nja hartnäckig und schlagen sich alltäglich in Sprache und Handlungen nieder. Einige Betroffene gehen daher dazu über, ihre Diskriminierungserfahrungen nicht zu thematisieren oder ihre Nationalität oder Identität so gut wie möglich versteckt zu halten, um in der Gesellschaft nicht weiter aufzufallen.
Kelly Laubinger entschied sich gegen das Verstecken. An den Betreiber des Hotels, das ihr eine Zimmerbuchung verweigerte, stellte sie Forderungen: 1.000 Euro Schmerzensgeld, eine „öffentlichkeitswirksame Entschuldigung“ für die „Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit“ sowie ein Antidiskriminierungstraining für ihn und seine Mitarbeiter*innen. Ein Schiedsverfahren, das auf dieser Grundlage zu einer außergerichtlichen Einigung kommen sollte, scheiterte am 19. März. „Auf meine Forderungen wurde nicht in dem Umfang eingegangen, in dem ich mir das gewünscht hätte“, sagt Laubinger. Sie kündigt nun an, vor Gericht zu ziehen.