Es gibt genügend Gründe, den Disney-Konzern zu kritisieren: Etwa seine Monopolstellung in der Filmindustrie; oder die Aneignung queerer Stories bei der kompletten Verweigerung von tatsächlicher queerer Repräsentation. Der Großteil aktueller Disney-Produktionen stellt kaum etwas anderes dar als so überteuerte wie einfallslose Bombast-Filme mit dem Ziel, möglichst viel Merchandise an Menschen zu verhökern, die aus Fan-Dasein eine komplette Persönlichkeit gemacht haben. Dann ist da die Tatsache, dass sich die Gewinne des Unternehmens in den letzten Jahren sich auf Rekordhoch befanden, die Löhne der Arbeiter:innen in den Themenparks und Animationsstudios jedoch weitestgehend stagnieren und die Merchandise-Artikel in Sweatshops hergestellt werden. Studiogründer Walt Disney war Rassist und Antisemit– das Unternehmen hinter beliebten Familienfilmen hat alles andere als eine weiße Weste.
Seit einigen Jahren versucht Disney, sich zunehmend progressiv darzustellen, beispielsweise durch Filme, die Geschichten marginalisierter Menschen erzählen oder durch einen lesbischen Kuss, der sich jedoch schnell herausschneiden lässt, um den Markt in Russland oder Saudi-Arabien nicht zu verärgern. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Konzern primär von einer Sache motiviert ist: Geld. Und seit einigen Jahren darf dies auch aus den Taschen nichtweißer oder queerer Menschen kommen.
Interne Streitigkeiten
Gerade wegen des Vorwurf des „Queerbaiting“ – also dem Andeuten schwuler oder lesbischer Beziehungen, um diese dann doch niemals darzustellen – steht Disney seit Jahren unter Kritik. Dass im Anfang 2022 publik wurde, dass das Unternehmen eine sechsstellige Summe an die Republikanische Partei Floridas unter dem Hardliner Ron deSantis gespendet hatte, verstärkte diese Kritik noch einmal. DeSantis und der Senator Dennis Baxley sind die treibenden Kräfte hinter dem queerfeindlichen „Don’t say gay“-Gesetz, das es verbietet, in Schulen über homoerotisches Begehren oder transgeschlechtliche Identität aufzuklären. Wie der Podcast QAnon Anonymous deutlich darlegt, soll das bewusst wage gehaltene Gesetz vor allem einer Sache dienlich sein: der Unsichtbarmachung von allem, was auch nur ein Quäntchen von der heteronormativen Kleinfamilie abweicht. Diese Gesetzgebung ist ein konkreter Angriff auf die LGBTQ-Community, und vor allem auf schwule, lesbische, bisexuelle oder transgeschlechtliche Kinder und Jugendliche. Die Angestellten des Unternehmens traten daraufhin in den Streik und setzten sich im Rahmen ihrer Arbeitskämpfe für mehr queere Sichtbarkeit in Disney-Produktionen ein und forderten, dass sich Disney-CEO Bob Chapek von deSantos distanzieren müsste. Chapek ließ sich nach mehreren Wochen zu einer halbgaren Entschuldigung hinreißen. Inzwischen schwört das Unternehmen Besserung. Karey Burke, Präsidentin von Disney General Entertainment Content, sprach sich in einem Ende März publizierten Video dafür aus, dass das Unternehmen demnächst mehr Wert auf bessere Repräsentation legen würde: 50 Prozent der Figuren in kommenden Produktionen würden entweder queer oder nichtweiß sein. Als Mutter eines pansexuellen und eines transgeschlechtlichen Kindes sei ihr dies ein Herzensanliegen, so Burke. Zudem sprachen sich zwei Nachfahr*innen Disneys, eine*r davon eine nichtbinäre Person, gegen die die Gesetzgebung und für mehr Repräsentation bei Filmen aus.
Von Tucker Carlson bis QAnon
Jegliche Verbesserung der Lebensumstände marginalisierter Menschen, selbst wenn diese aus monetären Interessen geschieht, ist jedoch ein Dorn im Auge reaktionärer Bewegungen. Republikanische Staaten und Vertreter:innen der Alt-Right torpedieren seit Jahren die Rechte queerer Menschen in den USA, und die Debatte um das „Don’t say gay“-Gesetz und Disney haben diese zusätzlich verstärkt. Denn, wenn Menschen wie dem zunehmend rechtsradikal agierenden FOX News-Sprecher Tucker Carlson oder der verschwörungsgläubigen Politikerin Marjorie Taylor Greene Glauben geschenkt werden darf, dient das Sprechen über oder das Zeigen von Lebenswelten abseits der patriarchalen Kleinfamilie nichts geringerem als dem Grooming von Kindern.
Bereits 2020 forderten User:innen der Plattform 4chan dazu auf, Postings zu LGBTQ-Inhalten mit dem Slogan „OK Groomer“ zu versehen – eine Ableitung des Kommentars „OK Boomer“, der von Millenials oder der Generation Z als Reaktion auf den herablassenden Paternalismus älterer Menschen entwickelt wurde. Inzwischen ist auch dieser Aspekt der „Memetic Warfare“ aus dem Internet in den politischen Mainstream übergeschwappt. Als Grooming (zu Deutsch sinngemäß Anbahnung) wird die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.
Der rechtsradikale Aktivist Christopher Rufo, der durch seine Kampagnen gegen das Schreckgespenst „Critical Race Theory“ größere Aufmerksamkeit erlangt hatte, twitterte am 30. März entsetzt einen Ausschnitt aus einem internen Disney-Meeting, in dem die Diversitäts-Managerin des Unternehmens, Vivian Ware, davon sprach, geschlechtsbezogene Begrüßungsformeln in den Themenparks durch genderneutrale Ansprachen zu ersetzen. Innerhalb weniger Stunden echauffierten sich rechte Persönlichkeiten wie Carlson, Ben Shapiro, Caitlyn Jenner, Candace Owens oder Laura Ingram darüber, demnächst mit „Liebe Gäste“ statt „Ladies und Gentleman“ begrüßt werden zu müssen und fordern einen Disney-Bokott. Carlson sprach in seiner Talkshow explizit darüber, dass Disney daran arbeiten würde, Kinder zu indoktrinieren, dass sie durch „chemische Kastration“ ihr Geschlecht ändern könnten, „einfach nur, weil sie es sich wünschen“. Er führt als zusätzlichen Beweis an, dass sich unter über 100 Menschen, die in Florida im Rahmen einer Polizeioperation gegen Menschenhandel inhaftiert worden, vier in unterschiedlichen Resorts tätige Disney-Angestellte befanden.
Disney würde unterschwellige Botschaften nutzen, um die Kinder zu groomen,also sie in Missbrauchsabsicht anzusprechen. Diese würden anschließend, so ein auf Telegram verbreitetes Video, durch geheime Tunnel in Disneyland der pädophilen, satanistischen Elite des Deep State zugeführt werden – das klassische QAnon-Narrativ. Ein als Beweisführung herangezogenes Bild zeigt Mickey und Minnie Maus und behauptet, Minnies Kleid würde wie ein Penis aussehen.
Das Bild wird nicht nur in QAnon-Telegramgruppen oder auf dem rechtsextremen Twitter-Klon Gettr geteilt, auch beispielsweise der republikanische Kandidat für den Senat von Oklahoma, Jarrin Jackson, echauffiert sich anhand des Bildes auf Twitter über „Pädophile bei Disney“, die eine „satanistische, gottlose, Kinderschänder-Perspektive“ vermarkten wollen. News-Outlets der radikalen bis extremen Rechten wie Breitbart veröffentlichen weitere Texte, in denen das Verschwörungsnarrativ verbreitet wird. Auch der zunehmend abgehalftert wirkende ehemalige Trump-Berater Steve Bannon hetzt in seinem Podcast „War Room“ gegen die drohende LGBTQ-Diktatur der großen Maus. Kurz: ein breites Bündnis aus Republikaner:innen, der Alt-Right, christlichen Fundamentalist:innen und Verschwörungsideolog:innen ziehen in den reaktionären Kulturkrieg gegen Disney. Am 07. April organisierten christliche Fundamentalist:innen eine Demonstration vor Disney World in Florida, um zu protestieren gegen vermeintliches Grooming, Menschenhandel und die pädophile Kabale, die unter Disney agiert. Teilnehmende trugen Schilder mit Sprüchen wie „OK, Groomer“ oder „Kindliche Unschuld! Keine LGBQTIA-Gehirnwäsche! Keine Geschlechter-Verwirrung! Beschützt Kinder von der woken Disney-Psycho-Operation!“
QAnon in Deutschland
Deutschland ist nach den USA das Land mit den meisten Anhänger:innen der antisemitischen QAnon-Bewegung. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass das Verschwörungsnarrativ von Disney als Institution, die Kinder zu Sexsklav:innen erzieht, auch hier Verbreitung findet.
Dies geschieht primär auf Telegram-Kanälen, die stellenweise über 100.000 Abonennt:innen haben. Einerseits reproduzieren die deutschsprachigen Verschwörungsgläubigen Narrative aus den USA, andererseits kreieren sie auch fleißig eigene Inhalte, die in ihrer Wahnhaftigkeit denen aus dem englischsprachigen Raum in nichts nachstehen. Hier ist zu lesen, dass Lady Gaga Teil der Disney-Kabale sei oder dass Walt Disney gemeinsam mit einem Nazi-Wissenschaftler die Mondlandung nachgestellt hätte. . Ein über 17.000 Mal angesehenes deutschsprachiges Video zeigt deutlich auf, wie verschwörungsideologisches Denken fungiert. Der Sprecher zeigt Mädchen in unschuldigen Prinzessinnen-Kostümen und verurteilt diese als sexualisiert. Er behauptet anhand manipulierter Bilder, dass Disney-Charaktere den Satansgruß zeigen und somit satanistische Botschaften verbreiten wollen. Jede noch so zufällige Szene wird als Beweis für die QAnon-Ideologie herangeführt, selbst wenn die Beweisführung offensichtlich falsch ist. So zeigt der Sprecher einen Ausschnitt aus der Disney-Serie „Gravity Falls“, in der das Internet-Meme „Slenderman“, eine große, unheimliche Figur, als Easter-Egg im Hintergrund zu sehen ist, und behauptet, dies sei ein Code für einen Pädophilen.
Aber auch weniger explizit verschwörungsideologische Medien-Plattformen haben sich des Diskurses angenommen. Epoch Times, Junge Freiheit, PI News und der Heimatkurier haben allesamt Artikel publiziert, die besorgt über die „woke Agenda“ bei Disney lamentieren. Die Autor:innen schreiben über diverse Repräsentation als „Gehirnwäsche“, die Kindern schaden würde. Im Heimatkurier, dessen Artikel unter anderem von IB-Chef Martin Sellner geteilt wurde, fordert die Autorin „verantwortungsvolle Eltern“ dazu auf, Konsequenzen zu ziehen – also zum Boykott. Typisch für den Kulturkampf von Rechtsaußen, der immer zuerst die Existenz von Frauen und queeren Menschen attackiert, wird die Repräsentation von queeren Lebenswelten in Medien oder in der Schule als „Ideologie“ tituliert. Die Autorin von Tichy’s Einblick verbreitet die unter Transfeind:innen ungebrochen populäre Falschbehauptung, dass die Akzeptanz von Transgeschlechtlichkeit bei Kindern und Jugendlichen diesen sogar aktiv schaden würde. Die rechtspopulistische Plattform CitizenGo hat sogar eine Petition gestartet, mit dem Ziel, Disney zu stoppen “Die LGBTQ-Agenda zu fördern”. Der Petitionstext besagt unter anderem: „Die Walt Disney Co., die wir kennen und lieben gelernt haben, ist so gut wie tot. Das heutige Disney-Imperium verfolgt einen anderen Weg. Es unterstützt die globale Linke in deren Bemühungen, Kinder auf einen “zeitgemäßen” LGBTQ+ Lebensstil vorzubereiten.In einem durchgesickerten Video eines internen Disney-Treffens prahlte Disneys Konzernchefin Karey Burke offen mit ihren Plänen, kleinen Kindern immer mehr LGBTQ+-Indoktrination zu vermitteln. Disney ist die neue politische Kraft für die LGBTQ+-Agenda. Und besorgte Familien, wie Ihre und meine, sind ihre Gegner.“ Untermalt ist die Petition mit einem Bild von Cinderella als Drag-Queen mit Bart und Strapse, im Hintergrund ein flatterndes Band in Regenbogen-Farben.
All diese Narrative lassen sich auf eine recht simple Formel herunterbrechen. Progressive Politik oder Repräsentation im Bezug auf Geschlechtsidentitäten oder sexuelle Orientierung ist gezielte Propaganda, um unmündigen und leicht beeinflussbaren Kindern zu schaden und sie zu Schachfiguren in einer gezielten Kampagne gegen eine heteronormative, patriarchale Gesellschaft zu machen. Außerdem seien queere Inhalte Ausdruck von Grooming, also dem sexuellen Gefügigmachen von Kindern. So wird die bei Rechtsalternativen beliebte Gleichsetzung: „geschlechtliche Diversität und queere Repräsentation bedeuten sexuelle Ausbeutung von Kindern“ aufgemacht. Dies ist nicht nur die Relativierung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, sondern ausgesprochen projektiv. Während Republikaner:innen sämtliche Lehrkräften, die im Unterricht besprechen, dass es Frauen gibt, die andere Frauen begehren, verklagen wollen, hat die Partei in Tennessee versucht, ein Gesetz zu legaliseren, dass Ehen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gestattet. Glücklicherweise ist der Entwurf gescheitert.