Donnerstag, den 06. Juli 2023. Die Hitze da draußen auf dem glühenden Pflaster der sonnendurchfluteten Straßen Berlins war ganz spürbar, drinnen wandelten sich Dachgeschosswohnungen übergangslos in Dampfbäder. Doch auch unter der Glaskuppel des Reichstagsgebäudes kochte es. Bei mir lief der Fernsehsender Phoenix, und zwar mit einer Live-Übertragung aus dem Bundestag. Es ereignete sich eine „Aktuelle Stunde“, wie es in der parlamentarischen Nomenklatur so schön heißt.
Eine Aktuelle Stunde findet generell auf Verlangen einer der vertretenen Fraktionen statt, kann aber auch von mindestens fünf Prozent der Abgeordneten bestimmt oder auch durch eine Vereinbarung im Ältestenrat ermöglicht werden. Ebenfalls können eine Fraktion oder mindestens fünf Prozent der Abgeordneten auffordern, dass es, beispielsweise nach den Antworten der Bundesregierung in der wöchentlichen Fragestunde auf eine mündliche Frage, unmittelbar danach zu einer Aussprache kommt. So oder so dürfen die Abgeordneten in einer Aktuellen Stunde jeweils nicht länger als fünf Minuten das Wort führen. Na gut, soweit Lektion 487 der Bürgerkunde.
Gemäß einer Aufforderung der Alternative für Deutschland (AfD) debattierten an diesem Tag im Bundestag die Parteien über die „gewalttätigen Unruhen in Frankreich“. Das war wenigstens das Thema, das die AfD mit schwelender Süffisanz auf die Agenda setzte. Ist das ein Wunder? Gar eine Wunderwaffe? Das Thema ist vielmehr ein wunder Punkt der demokratisch gesinnten, vor allem links-sozialen Parteien, die Schnappatmung verspüren, wenn es darauf ankommt, „Ausländerkriminalität“ und „Integrationsfehler“ öffentlich anzusprechen.
Fakt ist, die AfD befindet sich im Aufwind. Wäre der vergangene Sonntag Wahltag gewesen, wäre die AfD mit 20 % (+ 2%) zweitstärkste Kraft geworden. Eine Partei, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz für einen „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ gehalten wird. Eine Partei, deren Jugend der Verfassungsschutz sogar jüngst als „gesichert rechtsextrem“ hochgestuft hat. Eine Partei, in der durchschnittlich jedes dritte Mitglied, d.h. rund 10.200 aus knapp 30.000, als rechtsextrem gilt. Das, wohl bemerkt, auch und gerade nach der zumindest formalen Auflösung des berüchtigten, völkisch-nationalistischen „Flügels“ um Björn Höcke.
Ein Brecheisen? Oder ein Bumerang?
In Anbetracht solcher Höhenflüge des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik hätte die Aktuelle Stunde eigentlich eine Steilvorlage für die AfD sein müssen. Denn die Proteste und die Plünderungen nach der Erschießung des 17-jährigen Schwarzen Junge Nahel M. dauern an, auch wenn der mutmaßliche Schütze, der weiße Polizist Florian M. wegen unrechtmäßiger Tötung in U-Haft sitzt. Migrant*innen als Feindbilder darzustellen, das ist nicht nur eine Wahltaktik der Partei, es ist das Brot und Butter der Gesinnungsgenoss*innen.
Es geiferten nicht nur hinterwäldlerische Hinterbankler*innen. Gottfried Curio, habilitierter Physiker und innenpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, sprach von einer „Tyrannei von gewalttätigen Minderheiten“ und warnte vor ähnlichen Zuständen in Deutschland. Darum ging es wohl. Ja, wohl oder übel. Denn die AfD wähnte in ihrem Thema Frankreich ein Brecheisen zur Bundesrepublik, aber sie warf somit einen Bumerang und konnte sich nicht flink genug in Deckung bringen.
Dennoch gibt es Momente, an denen selbst die Blauen gleichsam ihr blaues Wunder erleben. Neben dem Ende der 115. Sitzung nahm ein Herr aus der Fraktion der Christdemokraten seinen Platz am Rednerpult. Der gebürtige Aachener ist Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe, und er ergriff das Wort, wie man bei ihm selten erlebt hatte.
„Ich habe gehört, wie gedroht wurde“, reagierte er emotional, aber unbeirrt. „Dass aufgeräumt würde, wenn sie an die Macht kommen. […] Wir werden dafür sorgen, dass Sie nie Verantwortung in diesem Land haben!“ Überdies durchschaute er sofort die Taktik der AfD. Denn es sei in Wirklichkeit weder um Frankreich noch um die Ursache des Problems gegangen, sondern um sogenannte „Parallelgesellschaften in Deutschland“. Diese Parallelgesellschaft habe es in der Tat gegeben, jedoch in der Form vom NSU, „der zehn Jahre mordend durchs Land zog. […] Ihre Gesinnungsgenossen haben Menschen ermordet in diesem Land!“
Ja und Armin
Der CDUler, dem es gelungen ist, die AfD an diesem heißen Nachmittag aufs Glatteis zu führen, ist Armin Laschet. Ja, der Armin Laschet, der als Kanzlerkandidat der Union bei der Bundestagswahl 2021 mit 24,1 % ihr schlechtestes Ergebnis in der Bundestagswahl-Geschichte der Union stellte. Derselbe Armin Laschet, der lange darauf erpicht schien, bei jedweder Veranstaltung mit einem Korb voller Fettnäpfchen aufzukreuzen, die er dann fleißig auf den Boden warf und als Fußabtreter verwendete. Wie auch bei seinem Lachanfall im Hochwassergebiert.
Aber Ehre, wem Ehre gebührt. Laschet las der AfD unmissverständlich die Leviten. Sein knapp 4:45 Minuten langes Konter war die Philippika eines Politikers, der Größe zeigte, Groll hegte und sich vor Gram verzehrte. Gram, aber nicht Wehmut. Es war eher Wehner als Wehmut. Man erinnere sich an Herbert Wehner (1906 – 1990), den rhetorisch robusten Einpeitscher anno dazumal aus der SPD-Fraktion, dessen Schlagabtäusche mit dem CSU-Urgestein Franz Josef Strauß das Bonner Wasserwerk wie den altrömischen Senat aussehen ließen.
Anstatt mit woker Betroffenheit aufzuwarten, ging Laschet wie ein Maschinengewehr auf die AfD los. Der ehemalige Ministerpräsident von NRW (2017 – 2021) ist übrigens nicht nur Träger des Ordens wider den tierischen Ernst, sondern jüngst im vergangenen Mai wurde er von Emmanuel Macron zum Kommandeur im Nationalen Orden der französischen Ehrenlegion ernennt, und zwar mit Bezug auf sein „überragendes und konstantes Engagement“ für die deutsch-französischen Beziehungen. Seine Kenntnisse gerade in dieser Hinsicht kamen während seiner schonungslosen Replik an die AfD zur Geltung. Zum einen betonte er, es handele sich bei den randalierenden Jugendlichen zu 90 Prozent nicht um „Ausländer“, sondern um Menschen mit der französischen Staatsbürgerschaft.
Die Leute in den französischen Banlieues, ergänzte er, sind „zum Teil Angehörige der französischen Kolonialmacht, die auf der Seite Frankreichs gekämpft haben und denen Frankreich dann ermöglicht hat, nach Paris einzuwandern.“ Dabei erläuterte er die wahren Gründe für die Integrationsdefizite in Frankreich: „Der große Fehler war: Man hat sie in Banlieues untergebracht, sie hatten kaum eine Aufstiegschance in der französischen Gesellschaft. Und die Präsidenten Frankreichs haben nach 2005 erkannt, dass man mehr Geld nehmen muss, für Bildung, für Aufstiegschancen und für Stadtviertel, für den Abriss von manchen Hochhäusern“.
Laschet uns beten
Anschließend gab es im Bundestag parteiübergreifendes Lob für Laschet, natürlich nur nicht bei der AfD und das Video seiner Aussprache ging sofort viral. Beim Applaudieren können wir kurz die Hände zusammenfalten. Laschet uns beten, dass ein gewisser Friedrich Merz und seine Jünger diese Moralpredigt zur Kenntnis nehmen. Merz, der bleibende Aprilscherz. Der Pascha der Pauschalisierungen, der bei Wutanfällen nur Grün sieht. Viel wichtiger ist allerdings, wie einfache Parteimitglieder und vor allem unabhängige Wähler*innen darauf reagieren.
Angry Old White Men, wenn sie auf der richtigen Seite stehen, können effektive Verbündete im Kampf gegen den Rechtsextremismus sein. Warum auch nicht? Ihr Einfluss und ihre Tragweite sollten zur Geltung kommen. Natürlich ist Vorsicht geboten. Man denke an den selbstdienenden Zynismus von Franz Josef Strauß anno 1987, als die deutschen Republikaner Aufwind spürten: „Rechts von der CDU/CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben.“ Das Rennen, um den rechten Rand zu erobern, schadet der Union selbst. Denn Nazis sind die besseren Nazis, und solche hatten keine Hemmung, deutsch Polizist*innen und den Kasseler CDU-Politiker Walter Lübcke zu ermorden.
In meinem Überschwang für Laschets Aussprache gegen die AfD vergesse ich sowieso niemals, dass die CDU bis 1997 brauchte, um mehrheitlich für die Bestrafung von Vergewaltigung in der Ehe zu stimmen, von Merz wiederum abgesehen. Auch die Unionspositionen zu § 175 StGB und zum Selbstbestimmungsgesetz sind alles andere als erfreulich. Doch gerade deswegen ist eine Erweiterung der Perspektive nötig, um „neue“ Betroffene der Unterdrückung zu entdecken. Es wäre gewissermaßen eine Sache der Parteiräson, Konservative zur Vernunft zu bringen. Zur Vernunft über die Wahrnehmung und die Würdigung der Vielfalt, die es eigentlich seit langem in diesem Lande gibt.
Eine scharfzüngige Sonntagsrede mitten in der Woche ist wunderbar, aber die Bereitschaft zum Alltagshandel muss vorhanden sein. Es ist vonnöten, die Bedürfnisse der diversen Gesellschaft nach Chancengleichheit, stabilen Wohnverhältnissen und Schutz zu pflegen. Laschets hoffentlich nicht nur situative Feinfühligkeit muss, ob in einer Regierung oder von der Oppositionsbank aus, den Willen zeigen, gegen die brutale Bürokratie und Bigotterie zu kämpfen, die sich auch in den kleinsten Stübchen der Behörden breitgemacht hat, wo es tatsächlich Beamt*innen gibt, die ihren bestenfalls dünn verschleierten Rassismus als patriotische Pflicht betrachten. Die AfD und die US-Republikaner*innen haben es allzu gut verstanden, kommunale Ämter sowie nicht zuletzt die Richterbank nach und nach zu erobern.
Eine konservative „Volkspartei“ muss sich aus dem Kult der ewiggestrigen Vaterlandsverehrung endgültig befreien. Wie wäre es mit konsequenter Verfassungsverehrung? Wenn sie Anspruch hegt, modern zu sein, dann muss sie die Multikulturalität als Realität erkennen – und nicht prahlen, wie viele türkischstämmige Wähler*innen und Mitglieder sie habe oder Schwarze Tokens mit auf die Bildfläche holen.
Ein parteiübergreifendes Bündnis, das in Wort und Tat gegen den Rechtsextremismus agitiert bzw. agiert, und zwar nachhaltig, ist wünschenswert. Es muss sich allerdings nicht auf einen Wunschtraum beschränken. Alles, was zu solch einem Bündnis führt, ist eine Investition in die Zukunft.