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Documenta 15 Mit Entmenschlichung und Antisemitismus gibt es keine Kuschelgrundlage

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Antisemitismus negieren bis zum bitteren Ende: Blick in einen documenta 15-Raum im Areal Hafenstraße am 17.09.2022. (Quelle: BTN/SR)

Die documenta 15, so wurde nach Bekanntgabe des kuratierenden Künstlerkollektivs Ruangrupa aus Indonesien vermutet, könnte ein Antisemitismus-Problem haben. Und das hatte sie dann auch gleich nach der Eröffnung im Juni 2022 sehr augenfällig auf ihrem zentralen Hauptbild „People’s Justice“ der indonesischen Gruppe Taring Padi. Auf diesem Wimmelbild waren die Aggressoren, die „das Volk“ unterdrückten und Angriffen, unter anderem in antisemitischen Stereotypen in der Tradition des nationalsozialistischen „Stürmers“ abgebildet. Das war so offensichtlich, ahistorisch und unerträglich, dass das Banner abgebaut wurde – unter wiederum antisemitischen Protestrufen: „From the River to the sea – palestine will be free“, das meint: Israel soll von der Landkarte verschwinden, und Jüdinnen*Juden gleich mit (vgl. Belltower.News).

Die Kurator*innen und viele der anderen künstlerischen Kollektive reagierten mit vollständiger Fassungslosigkeit und Unverständnis. Danach war klar, dass das Thema Antisemitismus diese documenta begleiten wird – aber nicht als Diskurs- oder Debattenthema, sondern als Streitthema. Weil israelbezogener Antisemitismus für die Leitung und die teilnehmenden Künstler*innen offenbar höchstens ein Nebenwiderspruch ist, oft genug aber auch eine Notwendigkeit im eigenen Weltbild. Ruangrupa ging es doch laut Eigendarstellung um Verständigung und gemeinsames Erleben und um die Sichtbarmachung marginalisierter Kunstschaffender aus Ländern des „globalen Südens“. Es geht weniger um Kunst als eigenständige Ausdrucksform, als um Rassismus, Diskriminierung, Marginalisierungserfahrungen und Gegenwehr.

So weit, so spannend, aber: In der deutschen Einstellungsforschung ist etwa seit 15 Jahren nachgewiesen, dass Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit miteinander in Verbindung stehen – und nur miteinander bearbeitet werden können, wenn es uns ernst ist mit demokratischen Werten wie Gleichwertigkeit aller Menschen. Das heißt: Wer gegen Rassismus arbeiten möchte, kann dies nicht erfolgreich tun, wenn der dabei Antisemitismus oder auch Sexismus ignoriert, oder genauer: Antisemit*innen und Sexist*innen. Denn wer eine Gruppe abwertet – seien es Juden, seien es Frauen – der neigt dazu, das irgendwann auch (wieder) auf andere Gruppen zu übertragen, die er oder sie als „fremd“ definieren (vgl. Belltower.News). Das Interessante ist: Das lässt sich auf der documenta fifteen auch deutlich sehen.

Der Schwarm ist nicht intelligent

Wie ästhetisch lapidar diese documenta 15 ist, wie wenig Eindruck, konstruktive Reibung oder Begeisterung viele der Anti-Kunst-Werke erzeugen, sei den Betrachtungen der Feuilletons überlassen. Das war ja eine kuratorische Ansage: Ruangrupa wollte Anti-Kunst ausstellen, die nicht im Museum hängen soll und die nicht von einzelnen Künstler*innen, sondern von Kollektiven kollaborativ geschaffen werden soll. Interessant ist aber die Frage: Wie gut funktioniert der Kollektivgedanke – oder gar der Gedanke von Schwarmintelligenz? Viele Werke entstehen erst in den vier Monaten documenta-Laufzeit, nicht wenige auch unter Einbeziehung des Publikums, das mitmalen, mitschreiben, mitgestalten darf. Es ist ein Versuch unter gar nicht so schlechten Ausgangsbedingungen, gelten doch kunstinteressierte Menschen oft als gebildet und intellektuell, politisch linksliberal, zumindest aber demokratisch orientiert. Zumindest sehen sie sich gern selbst so.

Wer aus der Welt der Online-Kommentarspalten kommt, hat sicherlich aus der Erfahrung der Internet-Welt Zweifel daran, dass ein Schwarm zwingend auch Intelligenz ausbilden muss, aber immerhin könnte er es ja tun – vielleicht hier? In der documenta-Halle, einem der zentralen Orte der Welt-Kunst-Ausstellung, steht eine Skaterrampe der Künstlergruppe Baan Noorg, die das Publikum beschriften darf. Was schreibt der documenta-Schwarm sich hier von der Seele? „Regel Nummer eins: Flauschig bleiben.“ „No Rain, No Flowers.“ Ein Penis wird gemalt. „documenta ist kringe“ (sic). „Willst Du mit mir gehen?“ „Free Lina“, „Viva Cuba“.

Es ist banal, es ist plakativ, es ist wie eine ausgestellte Kommentarspalte. Nichts hängt mit nichts zusammen. Alles ist seicht. Dazwischen schreiben Menschen aber auch politische Botschaften. Die werden mit Verve verbreitet, an verschiedenen Stellen wiederholt. Deshalb gibt es viel „Free Palestine“ zu lesen – warum auch nicht. Es gibt aber auch zu lesen: „Free Palestine – Stop the Genocide“. Und als wäre diese Gleichsetzung israelischer Politik mit einem Völkermord nicht deutlich genug, daneben als fingierter Hashtag „#modernholokaust“. Der Schreibfehler lässt zunächst denken: „Mit Bildung wär das nicht passiert“. Aber das wäre schon fast das Niveau dieser in der Beschriftung an Klotüren erinnernden Kunst. Wichtiger ist aber, dass diese klare Holocaustrelativierung offen und groß auf dem zentralen Werk in einer der zentralen documenta-Locations steht, nicht von den Künstler*innen geschaffen, aber auch nicht von den Künstler*innen kommentiert, eingeordnet, moderiert. In Hate-Speech-Workshops nennen wir das „Schweigen wird als Zustimmung wahrgenommen“ – und so erscheint es auch hier. Allerdings gibt es auf dieser Skaterrampe auch Gegenrede-Versuche – das soll nicht verschwiegen werden: Unter ein „Free Palestine“ schreibt ein anderer Stift „from Hamas“. Oder „from Abbas“. Immerhin ist das nicht durchgestrichen, das sieht schon fast wie ein Erfolg aus.

 

Die Bildungsstätte Anne Frank hat auf der documenta einen Informationsstand über Antisemitismus aufgebaut, nachdem das Banner „People’s Justice“ von Taring Padi abgehängt wurde. Im Interview mit dem RND berichtet Leiter Meron Mendel, dass rund 25 Prozent der Besucher*innen dort vor allem hätten „Frust abladen“ wollen, vor allem antisemitisch: „Wir hörten Dinge wie, dass die Bildungsstätte Anne Frank hier nichts zu suchen habe, dass Juden die Documenta kaputtmachen, dass das alles eine Medienkampagne ist, um von der Situation in Palästina abzulenken.“ (vgl. RND) Böse könnte man fragen: Wie sollen Jüdinnen und Juden denn die documenta kaputt machen – es ist doch kein einziger jüdischer Künstler dabei? Israel allerdings, als staatliche Verkörperung des Bösen in der Welt, auch dargestellt mit antisemitischen Symboliken wie kapitalistischen Kraken, hakennasigen Bösewichten oder kapitalistischen Schweinen, ist oft gegenwärtig. Antisemitismus ist ein Thema, dass die documenta durchzieht.

Entmenschlichung und Gewalt

Die Künstlergruppe Taring Padi, deren Banner „People’s Justice“ abgehängt wurde, darf auf der documenta noch einen ganzen Ort allein bespielen, ein ehemaliges Hallenbad. Das ist zum einen verständlich, ist Taring Padi doch eines der wenigen Kollektive, das zwar sehr plakative, aber doch auch künstlerisch-gestalterisch ansprechende Werke zeigt. Sie sind bunt, groß, laut. Auf vielen Einzelwerken und Ensembles geht es gegen Rassismus, für Frauenrechte, für Geflüchtete, für LGBTIQ*-Rechte. Selten allerdings wird sich einfach für etwas ausgesprochen – meist werden auch diejenigen gestaltet, die diesen emanzipatorischen Werten entgegenstehen. Das sind in der Welt von Taring Padi Kapitalismus, Politik, Militär, Medien. Die Vertreter*innen dieser Gruppen werden unmenschlich gezeigt: Es sind Schweine, Ratten, Wölfe, Büffel. Die politischen Gegner*innen werden damit komplett entmenschlicht – und dann, wenn „das Volk“, das als gute Kraft entgegengesetzt wird, es vermag, werden sie auf den Bildern geteert und gefedert, verbrannt, aufgespießt, beschossen.

Natürlich soll das ein Ausdruck der Empörung sein gegen unterdrückende Mächte – aber gerade in der vielteiligen Reihung sind solche Bilder doch auch eine Legitimierung von und ein Aufruf zu Gewalt. Nicht wenige gerade der „kapitalistischen Schweine“ sind auch mit antisemitischen Andeutungen versehen – allerdings subtiler als bei „People’s Justice“, dafür kontinuierlicher. Eine demokratische Lösung, eine Debatte, ein Ausgleich, wird hier nicht als Teil einer politischen Auseinandersetzung angeboten – nur Aggression und Gewalt. Auf einem zentralen Bild im Hallenbad, „Das Land den Menschen“, ist in der oberen Hälfte wieder eine Ansammlung des Bösen in der Welt dargestellt, und wer der kapitalistische Krake im Zentrum nicht antisemitisch genug versteht, für den ist am linken Bildrand noch besetztes Land gemalt, mit den Flaggen Palästinas und Israels. Das Werk ist von 2021 und erklärt, warum sich Taring Padi nicht mit dem Antisemitismus ihres Werkes „People’s Choice“ auseinandersetzen wollten. Weil sie ihn weiterhin vertreten.

Schweine-Allegorien bei Taring Padi:

Letzter Akt: Trotz und Täter-Opfer-Umkehr

Wer also der Meinung ist, dass sich Rassismus, Antisemitismus und andere Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nur dann wirkungsvoll bearbeiten lassen, wenn wir ihren menschenfeindlichen Gehalt insgesamt erkennen, reflektieren und bearbeiten, der hat es schwer auf der documenta fifteen. Denn es wäre das Mindeste, darüber reden zu können – am besten mit einer Offenheit, auch eigene Positionen zu hinterfragen. Chancen auf diese Debatte gab es hier nicht viele, entsprechende Veranstaltungen wurden schon im Vorfeld abgesagt.

Auf die Kritik am antisemitischen Gehalt einiger Werke reagierte das Leitungskollektiv erst mit Beschwichtigung („lokale indonesische Traditionen“). Als dies nicht mehr haltbar war, mit Schweigen und dem Wunsch nach einem Schlussstrich der Debatte. Aber viele Besucher*innen hatten doch keine Lust auf Lumbung-Chillen und Kuschelkurs mit Antisemit*innen. Die Kasseler documenta-Leitung agierte hilflos und versuchte dann, das Kind im Brunnen an andere weiterzugeben. Im letzten Akt dieses Trauerspiels wurde eine renommierte Expertenkommission eingesetzt (vgl. RND), den Antisemitismus ausgewählter Werke zu begutachten. Das taten die Expert*innen, empfahlen daraufhin die Entfernung antisemitischer Propagandafilme in der Videoreihe „Tokyo Reels“, die von einem ehemaligen Mitglied der Japanischen Rote Armee Fraktion mitinitiiert wurde, die im Mai 1972 in Tel Aviv wahllos das Feuer eröffnete und 26 Menschen ermordete. Die Videoreihe verbreitet vor allem: Israelhass (vgl. taz).

Die Reaktion des documenta-Leitungs-Kollektivs plus weiterer Künstler*innen: Trotz und Täter-Opfer-Umkehr. Das Werk werde weiter gezeigt, man sei wütend, traurig, müde und vereint. Okay, aber dann kommen alle großen verbalen Geschütze: Antisemitismus als Antisemitismus zu benennen seien Feindseligkeit, Rassismus und Zensur! Das habe die documenta „verschlungen“ und es sei bösartig, die Präsentation der Tokyo Reels zu zensieren, bloß weil die unkommentiert antiisraelischen Terrorismus zeigen. Die Wissenschaftler*innen hätten nur aus der feindseligen, schlecht recherchierenden Presse abgeschrieben, statt selbst zu forschen (ja, das „Lügenpresse“-Narrativ ist auch da).

Das klingt wie auf einem verschwörungsideologischen Telegram-Kanal, und so geht es auch weiter: „In diesem feindseligen Umfeld waren Akteure mit einer koordinierten Agenda entschlossen, jeden Hinweis auf eine vorgefasste „Schuld“ zu finden, jedes kritische Detail in eine vereinfachende antisemitische Lesart zu verdrehen (…). Es ist für uns offensichtlich, dass dieselben Mechanismus genutzt werden für Cybermobbing und von rassistischen Bloggern, das haben die Mainstream-Medien adaptiert, ebenso die rassistischen Angreifer vor Ort, dann auch Politiker und schließlich sogar die Wissenschaftler.“

Immer nur Antisemitismus

Dabei, so Ruangrupa, solle sich Deutschland endlich mit Rassismus befassen statt immer nur mit Antisemitismus. Deutlicher lässt sich wohl kaum sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Umfeld hier offenbar komplett ausgeblieben ist, trotz fünfjähriger Vorbereitung. Sonst hätten ihnen die Betroffenen von Antisemitismus in Deutschland wohl spiegeln können, dass Antisemitismus hier immer noch ein gesellschaftliches Thema ist, ebenso wie Rassismus. Das Statement von Ruangrupa zeigt abschließend, dass die Künstlergruppe offenbar keine Reflexionsfähigkeit bei diesem Thema mehr zulassen kann – etwa darüber, dass politischer Protest natürlich eine legitime Äußerung ist, nicht aber der Ruf nach der Auslöschung eines Landes, seiner Bewohner*innen oder gar der Jüdinnen und Juden, die in Deutschland leben.

Wobei Ruangrupa und Co. immerhin schreiben, dass sie das Existenzrecht Israels anerkennen würden, es ginge ihnen nur um „anti-koloniale Kämpfe“. Wie die Lösung dieser Kämpfe aussehen soll: Schweigen. Lösungsgedanken gibt es nicht. Wie so oft auf dieser documenta. Dafür wird Deutschland vorgeworfen, die deutsche Schuld aus der Geschichte nun auf die ganze Welt übertragen zu wollen. Moment. Das wird Deutschland vorgeworfen? Ja. „Wir lehnen die eurozentrische – und in diesem Fall speziell die Deutschland-zentrische – Überlegenheit als eine Form der Disziplinierung, Verwaltung und Zähmung ab.“ Heißt: Wir wollen gern unsere eigenen Antisemiten sein? Hart. Aber deshalb gibt es eben auch Kritik. Nur kann Ruangrupa damit offenbar nicht umgehen.

Damit die letzten Besucher*innen der documenta dieses Täter-Opfer-Umkehr-Statement auch ja nicht verpassen, sind aktuell an diversen documenta-Orten fotokopierte Plakate angebracht, mit einem Spruch und dem QR-Code zum Statement. Darauf steht „Wer ist hier antisemitisch?“ (das Statement gibt darauf eine klare Antwort!), oder wissenschaftsfeindlich: „Wir wollen ein Gremium aus Arbeitern, nicht aus Wissenschaftlern“, oder „Free Palestine from German guilt“. Dass die documenta-Kollektive so selbst dazu beitragen, diesen Konflikt überallhin in die Ausstellung zu tragen, und damit Aufmerksamkeit abziehen von anderen Werken und Themen, die die Aufmerksamkeit vielleicht konstruktiv verdient haben, finden die Kollektiv-Künstler*innen offenbar nicht problematisch.

Nur das Plakat „BDS: Being in Documenta ist a struggle“ bietet Grund für ein Lächeln. Ja, wer Israel abschaffen will wie die BDS-Bewegung (Boycott, Divestments, Sanctions), der stößt hier auf Gegenwind, eben wegen der deutschen Geschichte und ja, wegen der deutschen Schuld. Und das sollte ein ermutigendes Zeichen sein, dass Menschen manchmal aus Geschichte lernen, nicht immer schnell genug und umfassend genug, aber immerhin. Das wünschen wir auch der documenta, deren 15. Ausgabe am Wochenende endlich endet: Dass sich die Ausstellungsorganisation nun die Zeit nimmt, aus diesem Sommer zu lernen, der Verständigung schaffen wollte und in einem komplett zerstörten Dialog endet. Denn so kann es definitiv nicht weitergehen.

 

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