Es ist ein Dienstag im November im sächsischen Grimma, grau und feucht. Eine lange Straße, die zu einer Brücke über die Mulde führt, ist gesäumt von Laternen, auf denen rote Sticker kleben. Darauf ein grimmiger Smiley mit Daumen nach unten, umrandet von dem flüchtlingsfeindlichen Schriftzug „Asylantenheim? Nein Danke!“. Auf der anderen Uferseite führt ein Weg zur alten Spitzenfabrik. Hier ist das „Dorf der Jugend“ (DdJ) zu Hause. Eine von Jugendlichen geschaffene Utopie in der sächsischen Provinz. Seit 2014 dient es den jungen Menschen aus Grimma und Umgebung als Treffpunkt. Das Besondere an diesem Jugendprojekt ist, dass die jungen Menschen diesen Ort komplett selber gestalten.
Auch am Dienstagmittag ist hier einiges los. Menschen werkeln in der Werkstatt. Jugendliche meistern mit ihren BMX-Bikes den Parkour auf der Skatebahn. Handwerker*innen begutachten die Stromtrassen auf dem alten Fabrikgebäude und drei Hühner tapsen im Gemüsegarten umher. Außerdem sind Carolyn Reg’n und Sarah Schröder heute im „Dorf der Jugend“. „Ach, da sind schon wieder Nazi-Sticker?“ fragt Carolyn. Sie ist die Sozialarbeiterin, die dieses Jugendprojekt mittlerweile betreut. „Die wurden doch erst letzte Woche abgeknibbelt“, ärgert sich die junge Frau mit den Dreadlocks.
Die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und in Thüringen haben gezeigt, dass besonders der Osten Deutschlands einen Rechtsruck erlebt. In Grimma liegen die Wählerstimmen für die AfD bei über 30 Prozent. Natürlich ist das Verfangen von rechter Propaganda kein rein ostdeutsches Phänomen, doch besonders hier, im ländlichen Raum, scheinen sich rechtsradikale Einstellungen verfestigt zu haben. Eine Ursache ist auch die sterbende Jugendkultur und Jugendsozialarbeit auf dem Land. Die 19-jährige Sarah meint: „Hier gibt es einfach nicht viele Möglichkeiten für junge Menschen.“ Es entsteht ein Vakuum, wo Sozialarbeit für junge Menschen nicht mehr finanziert wird und wegfällt. Das spielt den Neonazis im ländlichen Raum in die Hände. Besonders die sogenannte „neue“ Rechte geht gezielt in ländliche Regionen, in denen das Angebot für junge Menschen stetig schrumpft, um dort rechtsextreme Angebote zu schaffen. Das „Dorf der Jugend“ ist in dieser Entwicklung ein herausragendes Gegenbeispiel.
Schaut man sich auf dem Areal der alten Spitzenfabrik um, wird schnell klar, welche Einstellung die Jugendlichen hier haben, sie ist auf den bunten Graffitis und auf Stickern zu lesen. Die Jugendlichen setzen sich für Demokratie und gegen Rassismus und rechtes Gedankengut ein. Für Sarah ist das „Dorf der Jugend“ und seine Menschen wie eine Familie, erzählt sie. Und während sie berichtet von den unterschiedlichsten Projekten, die sie hier umgesetzt haben, merkt man ihr an, wie sehr ihr dieser Ort ans Herz gewachsen ist.
„Hier bekommt man kein vorgefertigtes Programm vor die Füße geknallt. Es heißt nicht, entweder dir gefällt das, oder dir gefällt das halt nicht und wenn es dir nicht gefällt, dann gehste halt wieder“, beschreibt Sarah. Die Jugendlichen lieben diesen Ort, an dem sie nicht als Kinder behandelt werden. Sie haben hier Verantwortung. Viele Jugendliche verbringen den Großteil ihrer Zeit im DdJ, gestalten ihren Freiraum mit eigenen Ideen. „Irgendwann meinten die Skater*innen, sie bräuchten einen Skatepark und dann haben wir eben einen gebaut“, erklärt Sarah. Und in der Tat ist es erstaunlich, wenn man sich anschaut, was die Jugendlichen alles selbst gestemmt haben: Unter Anleitung von Expert*innen haben die Jugendlichen unter anderem Betonwände hochgezogen, ein Containercafé aufgebaut, einen Grillplatz gepflastert, Fenster verglast, Bühnen gebaut und einen Hühnerkäfig gezimmert.
„Im Vergleich zu anderen Angeboten für junge Menschen holt unser Projekt die Jugendlichen mehr ab“, meint Sarah und Carolyn wirft ein: „Vor allem machen die Jugendlichen hier die Angebote ja auch selbst.“ Ein Projekt, auf das hier alle besonders stolz sind, ist das „Crossover-Festival“. Am letzten Augustwochenende fand das Festival zum 14. Mal statt. Organisiert wurde es, wie alles beim „Dorf der Jugend“, von den Jugendlichen selbst. Sie kümmerten sich um Workshops, Aktivitäten und Vorträge. Eigentlich rechneten die Jugendlichen in diesem Jahr mit rund 400 Besucher*innen, es kamen tatsächlich knapp 1.000. Vielleicht kamen auch so viele junge Menschen, weil das „Crossover“ komplett kostenlos ist. „Wir wollen nicht, das Geld für Jugendliche ein Hindernis darstellt“, erklärt Sarah. Andere Veranstaltungen im Dorfprojekt wie Konzerte sind auf Spendenbasis, jede*r gibt so viel, wie man geben kann und möchte.
2014 pachtete Tobias Burdukat, der damalige Sozialarbeiter, die Fabrik und das dazugehörige Gelände am Stadtrand von Grimma und überließ es größtenteils den Jugendlichen, das Gelände nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Seit 2016 ist der „Förderverein für Jugendkultur und Zwischenmenschlichkeit e.V.“ (FJZ) Pächter des Geländes. Die Jugendlichen verwalten das „Dorf der Jugend“ selbst, finanzieren es mit einem Containercafé, haben einen Skatepark gebaut, eine Fahrradwerkstatt eröffnet, einen Bolzplatz vom Dickicht befreit und feiern ab und zu Partys.
Mittlerweile ist das Projekt jedoch so groß geworden – weil es so erfolgreich ist und dementsprechend von den Jugendlichen angenommen wird -, dass es für einen hauptamtlich tätigen Sozialarbeiter nicht mehr stemmbar war. Im September 2018 hat das Dorfprojekt deshalb beim Jugendamt Mittel beantragt, um weitere Sozialarbeiter*innen einstellen zu könne. Doch das wurde ihnen nicht genehmigt.
Als sich der Trägerverein des „Dorf der Jugend“ 2019 als freier Träger der Jugendarbeit anerkennen lassen wollte, stand vor allem Burdukat im Mittelpunkt der Kritik. Die Verantwortlichen nahmen unter anderem Anstoß daran, dass auf die Toiletten des Jugendtreffs, gemalt ist: „Kacken ist wichtiger als Deutschland“, außerdem störten sie sich an einem „FCK AFD“-Sticker. Zeitweise schien es, als ob das ganze Projekt auf der Kippe stünde. Bis tief in die Nacht wälzte sich Sarah damals das erste Mal in ihrem Leben durch das Sozialgesetzbuch, um zu verstehen, worum es hier geht und um eine sachliche Auseinandersetzung mit den zuständigen Behördenmitarbeiter*innen führen zu können. „Was uns damals so wütend gemacht hat, ist, dass zwar immer über uns geredet wurde, doch nie mit uns“, erklärt Sarah. Das sei damals eine „super emotionale und bedrückende Zeit“ gewesen. In einer aussichtslos erscheinenden Lage entschieden die Jugendlichen, die Öffentlichkeit zu suchen. Das zeigte Wirkung. Inzwischen hat das Dorf die Anerkennung als freier Träger. Die Sicherung der Sozialarbeiter*innen-Stelle ist jedoch noch nicht gesichert. Tobias Burdukat hat sich mittlerweile als Sozialarbeiter aus dem Dorfprojekt zurückgezogen. Nun begleitet Carolyn das Dorfprojekt. „Die Kritik von den öffentlichen Behörden an Tobias als Privatperson wurde mit dem Projekt gleichgesetzt. Das war weder fair noch produktiv“, erklärt Carolyn.
In Sachsen stehen linke, alternative Jugendzentren in vielen Orten bereits einer rechtsextremen Mehrheit gegenüber. Und so sind auch die örtlichen Neonazis und rechtsextreme Aktivist*innen der sogenannten „Identitären Bewegung“ aus dem Ort sind nicht besonders begeistert von dem alternativen und dezidiert antifaschistischen Dorfprojekt. „Ab und an passiert mal was, dann werfen sie unsere Fenster ein, schmieren rechte Zeichen an die Wände, werfen unsere Fußballtore um oder gießen Beton in unseren Briefkasten“, erzählt Carolyn. Aufgeben sei aber keine Option meint Sarah. „Ich glaube, dass das ‘Dorf der Jugend‘ etwas ganz Besonderes ist.“