„Down the rabbit hole“ heißt eine neue Handreichung von No World Order, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und gibt Einblicke in Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und Möglichkeiten der Intervention. Der folgene Text ist ein Auszug aus der Broschüre: Wie Verschwörungserzählungen das Leben in einer modernen, extrem komplexen Welt einfacher machen.
Große Sorge wird in rechten und rechtskonservativen Kreisen geäußert über den „Gender-Wahn“, die „Frühsexualisierung unserer Kinder“, die „Verweichlichung der deutschen Männer“ oder gleich des ganzen „deutschen Volkes“. Letztlich deuten diese „Sorgen und Ängste“ – oder exakter formuliert Ressentiments und Stereotype – häufig auf ein spezifisches verschwörungsideologisches Weltbild hin.
Antifeminismus und bedrohte Männlichkeit
Jene, die Männer per se als bedrohte Menschen wahrnehmen oder Männlichkeit in einer Krise wähnen, gehen davon aus, dass Kämpfe um Emanzipation und Gleichberechtigung von Nicht-Männern die „natürliche“ gesellschaftliche Ordnung gefährden. Natürlich ist hier gleichbedeutend mit gut und richtig, in einem von Gott und der Natur gewollten Sinn. In fast allen rechten, rechtskonservativen und verschwörungsideologischen Kreisen kursieren identitäre bis völkische Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft. Völkisches Gedankengut ist stark mythisch geprägt und daher dogmatisch-religiösem Denken sehr ähnlich. Darin enthalten ist eine mystifizierte Idee von Natur als absolut Gutem, von dem wir durch die Moderne entfremdet wurden.
Im Mittelalter wurde die gesellschaftliche Ordnung von einer göttlichen Ordnung abgeleitet und damit legitimiert. Gottes Wille war Gesetz. Es galt das, was durch den Klerus oder den von Gottes Gnaden ernannten Herrscher als Gottes Wille verkündet wurde. Im völkischen Denken, wie wir es in der Moderne finden, wird die gesellschaftliche Ordnung durch das festgelegt, was als natürlich begriffen wird. Das betrifft zunächst die Geschlechterordnung. Im völkischen Denken gibt es idealtypisch ausschließlich Männer und Frauen, die in heterosexuellen Beziehungen zusammenleben. Diese Zweigliedrigkeit (Binarität) ist prägend für die gesamte Gesellschaftsordnung und darf nicht durcheinander geraten. Denn eine Unordnung im Geschlechterverhältnis stellt die gesellschaftlichen Machtverhältnisse infrage.
In der zweigeschlechtlichen Ordnung ist zudem eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern angelegt. Mit Männlichkeit werden Stärke, Autonomie, Aktivität, Vernunft etc. verbunden, während Weiblichkeit vor allem mit Emotionalität, Passivität und Schwäche assoziiert wird. Alle diese Eigenschaften sind durchaus wünschenswert. Allerdings sind vor allem die männlich konnotierten Qualitäten nötig, um in einer patriarchalen Gesellschaft Teilhabe und Macht zu erlangen.
Geschlecht ist, nicht nur im völkischen, sondern auch im bürgerlichen Verständnis prägend für die Identität der Einzelnen. Nur langsam lernen wir, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, dass nicht alle Menschen die Pronomen er oder sie tragen usw. In einem langwierigen Emanzipationsprozess erkämpften insbesondere FLTIQ* (Frauen, Lesben, Trans-, Intersexuelle, Queers und andere) Gleichberechtigung und eine progressive Vorstellung von Geschlecht. Feminist:innen wiesen als erste darauf hin, dass es sich bei Geschlechtsidentitäten um gesellschaftliche Kategorien handelt, die historisch und kulturell unterschiedlich definiert waren/sind. Eine patriarchale Gesellschaft basiert auf einer als natürlich festgeschriebenen Ungleichheit und daraus folgenden Ungleichwertigkeit von Menschen aufgrund ihres Geschlechts.
Je stärker die Identität eines Menschen auf seiner Geschlechtsidentität beruht, desto wichtiger ist es für diesen, dass seine Vorstellung von Geschlecht so wenig Widersprüche, Brüche oder Uneindeutigkeiten wie möglich aufweist. Zudem kann ein Auflösen der Geschlechtergrenzen auch mit Einbußen verbunden sein. Insbesondere, wenn man zu der gesellschaftlichen Gruppe gehört, die von patriarchalen Strukturen direkt profitiert hat.
Aber: ein Cis-Mann leidet vielfach ebenfalls unter den rigiden Vorstellungen davon, was er sein oder leisten muss, sowie unter der Gewalt anderer Männer etc. Nicht umsonst sind auch Männer Feministen und streiten damit auch für ihre eigene Befreiung von patriarchalen Strukturen. Für einige Männer bedeutet Feminismus bzw. ein Angriff auf patriarchale Strukturen jedoch eine Einschränkung ihres Verhaltens, die Einbuße von Macht und letztlich die Bedrohung ihrer Identität, also ihres Selbst. Innerhalb dieser Vorstellungswelt löst der Feminismus eine Krise der Männlichkeit aus, die gleichbedeutend ist mit einer gesamtgesellschaftlichen Krise, da sie die Grundfesten des Selbst sowie der gesellschaftlichen Ordnung infrage stellt.
Antifeminismus und Antisemitismus – „Die Verschwörung gegen den Mann“
Es handelt sich beim Antifeminismus jedoch nicht nur um eine politische Haltung, sondern vor allem um ein Ressentiment. Das heißt, die Verfechter:innen dieser Position vertreten sie, um Unsicherheiten zu kompensieren, indem sie sie auf Feminist:innen oder Frauen an sich projizieren. In verschwörungsideologischen Kreisen kursiert die Verschwörungserzählung, die „Rockefeller Foundation“ habe den Feminismus erfunden, um ihre Macht und Herrschaft auszubauen. So soll Nicholas Rockefeller gesagt haben, dass der Feminismus vom „Großkapital“ geschaffen worden sei, um die Familie zu zerstören, mehr Steuern einzutreiben, Macht über die Kinder zu erhalten und letztlich eine „kaputte Gesellschaft aus Egoisten“ zu erzeugen, „die arbeiten (für die angebliche Karriere), konsumieren (Mode, Schönheit, Marken), dadurch unsere Sklaven sind und es dann auch noch gut finden“.
In dieser Erzählung wird der Feminismus zum Instrument der antisemitisch beschriebenen Herrschenden. Bestandteile moderner Gesellschaft, die von Antisemit:innen abgelehnt werden, können so über antifeministische Stereotype auf Feminist:innen oder sogar auf Frauen an sich projiziert werden. Antifeminismus und Antisemitismus weisen also große Ähnlichkeiten zueinander auf, gehen häufig miteinander einher und bedienen sich jeweils im Stereotyp-Fundus des anderen. Viele antisemitische Stereotype verwenden beispielsweise das Bild des verweiblichten Juden oder der wunderschönen, triebhaften Jüdin, die deutsche Männer verführt. Auch der Vernichtungswille, der im modernen Antisemitismus immer angelegt ist, findet sich in extremen Formen des Antifeminismus, nämlich dann, wenn dieser zu Frauenhass (Misogynie) wird.
Misogynie (Frauenhass) und Vernichtungswille
Frauenfeindliche Inhalte finden sich überall dort, wo ihnen nicht aktiv Einhalt geboten wird. Menschenfeind:innen unterschiedlichster Couleur können sich im Internet vernetzen, sich gegenseitig in ihrer Ideologie bestätigen und ihrem Hass niedrigschwellig Ausdruck verleihen. Diese Feindlichkeit beginnt meist bei degradierenden oder diskriminierenden Äußerungen, die häufig recht schnell zu lebhaften Beschreibungen von (sexualisierter) Gewalt und Mord eskalieren.
Ein Beispiel hierfür sind Teile der Incel-Onlinecommunity (involuntary celibats – unfreiwillig zölibatär lebende Männer), die ihre Gemeinschaft auf den gemeinsamen Hass gegen Frauen gründen. Innerhalb von Incel-Milieus wird ein Frauenbild geteilt, welches Frauen als triebhafte, „degenerierte“ Wesen begreift, die ihre eigentliche mentale und körperliche Unterlegenheit Männern gegenüber dadurch ausgleichen, dass sie durch Sex und körperliche Anziehung Männer manipulieren. Durch das Anbieten bzw. Verweigern von Sex seien Frauen dazu in der Lage, Männer und dadurch letztlich die Welt zu beherrschen. Frauen werden in diesen Kreisen also gleichzeitig als kaum menschliche Bestien und als übermenschliche Herrscherinnen wahrgenommen. Ihnen wird die Verantwortung sowohl für globale als auch für die persönlichen Krisen einiger Männer aus dem Incel-Milieu zugeschrieben.
Gewalt gegen Frauen gilt in diesen Kreisen als heldenhafter Akt aus „Notwehr“ – Attentäter werden wie in rechtsextremen Online-Kreisen zu Märtyrern stilisiert. Einer dieser Attentäter aus Isla Vista (Kalifornien) fantasiert 2014 in seinem Manifest von einer Welt, die von Frauen befreit ist und in der Männer in Frieden und ohne Sexualität miteinander leben. Frauen gäbe es lediglich in begrenzter Zahl und in Lagern konzentriert, um dort Kinder auszutragen. Sich selbst sieht er als mächtigen Herrscher über diese für ihn perfekte Welt. Da er jedoch weder diese Welt aufbauen noch weibliches Begehren erzwingen kann, kommt er zu folgendem Schluss: „Die Ablehnung der Frauen ist eine Kriegserklärung mir gegenüber, und wenn Krieg das ist, was sie wollen, dann sollen sie es auch haben. Es wird ein Krieg sein, dessen Ergebnis ihre vollständige und vollkommene Vernichtung sein wird.“
Er begreift den Mangel an weiblicher Aufmerksamkeit, den er zu erfahren meint, als aggressive Ablehnung und damit Bedrohung seiner Person. Dieser Angriff erscheint ihm so fundamental, dass die einzige Lösung eine Welt ohne Frauen wäre. Vernichtung erscheint ihm als legitime, rationale Schlussfolgerung aus dem Verhalten aller Frauen. Mit sich selbst und seinem Verhalten bringt er seine Lage zu keinem Zeitpunkt in Verbindung.
Nun könnte unterstellt werden, dass es sich bei diesem Attentäter um eine psychisch kranke Person handelte, die zu rationalem Denken nicht mehr fähig war. Dies ist durchaus möglich. Das Entscheidende ist jedoch, dass er von einer Fangemeinde – die nicht nur aus Männern besteht – zu einem Märtyrer stilisiert und als Vorbild gefeiert wird. Seine frauenfeindliche, auf Vernichtung abzielende Ideologie, so verrückt sie auch klingen mag, fällt also auf fruchtbaren Boden.
Antisemitismus und Antifeminismus, vor allem in Form von Frauenhass (Misogynie), haben folgendes gemeinsam: Ihre Anhänger:innen fantasieren eine Gruppe von Menschen zu einer Mischung aus „Untermenschen“ und zugleich übermächtigen Gegner:innen. Diese vermeintliche Gruppe kann letztlich nicht einfach nur verdrängt oder bekämpft werden, da sie als innere Feind:innen agieren. Frauenhasser:innen und Antisemit:innen sehen sich im Kern ihres Seins, in den Grundfesten ihrer Identität angegriffen. Ihrer Auffassung nach wird ein Krieg gegen sie und ihre völkische Gemeinschaft geführt. Diese Bedrohung legitimiert nicht nur drastische Maßnahmen, sie fordert sie sogar, um die Gemeinschaft vor der Vernichtung zu bewahren.
Der zentrale Unterschied zwischen antisemitischem Vernichtungswahn und den Auslöschungsfantasien des Frauenhasses ist, dass eine Welt ohne Jüdinnen und Juden für Antisemit:innen vorstellbar ist. Frauen werden, auch aus antifeministischer Perspektive, (noch) für Reproduktionszwecke, also für das Fortbestehen der Gesellschaft durch Fortpflanzung und Versorgung der Nachkommen benötigt. Zudem sind sie in die Identitäts- und Emotionswelten männlicher Individuen verflochten. Die willentlich oder unfreiwillig zölibatären Männercommunitys zeigen jedoch den Wunsch auf, sich dieser Verflechtung zu entledigen.
Die neue Broschüre Down the rabbit hole — Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien können Sie hier herunterladen oder bestellen.