„Down the rabbit hole“ heißt eine neue Handreichung von No World Order, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und gibt Einblicke in Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und Möglichkeiten der Intervention. Der folgene Text ist ein Auszug aus der Broschüre: Wie Verschwörungserzählungen das Leben in einer modernen, extrem komplexen Welt einfacher machen.
Linke Verschwörungsideolog:innen verorten sich vor allem innerhalb links geprägter Friedensbewegungen, die seit den 1980er Jahren immer wieder Popularität erlangen. Hier entstanden Überschneidungen zu rechten Bewegungen, sogenannte Querfronten, wie sie beispielsweise bei den „Montagsmahnwachen“ seit 2014 sichtbar wurden. Diese propagierten die Abschaffung sozialer Ungleichheit und bedienten sich dazu einer linken Klassenkampf-Rhetorik. Die identitäre Ausrichtung von Montagsmahnwachen und Friedensbewegung ist geprägt durch die Vorstellung, auf der Seite der Schwachen und Abgehängten des Kapitalismus zu stehen und sich für die Unterdrückten einzusetzen. Für die Ungerechtigkeiten, die sie bekämpfen, machen sie vor allem „die politische und ökonomische Elite“ verantwortlich. Daran knüpfen innerhalb linker Milieus dominierende Verschwörungserzählungen an, die sich insbesondere auf eine vermeintliche Unterwanderung des Staates („tiefer Staat“) und die „Gedankenkontrolle“ seiner Bevölkerung beziehen.
„Der tiefe Staat“
Als Feind betrachten Verschwörungsideolog:innen zunächst den „tiefen Staat“. Damit sind vor allem die Geheim- und Nachrichtendienste der US-Regierung gemeint. Ihnen wird unterstellt, das Weltgeschehen zu ihrem ökonomischen Nutzen und, darauf aufbauend, zur eigenen Herrschaftssicherung zu beeinflussen. Die USA und Israel als ihr engster Verbündeter werden in den entsprechenden Verschwörungserzählungen für alle negativen Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als Verantwortliche angeklagt. In der Konsequenz müssten die Angehörigen des „tiefen Staates“ bekämpft werden, um ein gesellschaftliches Gleichgewicht wieder herstellen zu können. Diese Idee knüpft an die Erzählung einer „New World Order“ an. Diese Welterklärung ist so stark vereinfacht, dass sie die Komplexität des Kapitalismus und des globalen Geschehens nicht erfassen kann.
Einige wenige sollen ihr zufolge für alles Böse auf der Welt verantwortlich sein, zusammengefasst in der Verschwörungsidee des „tiefen Staates“. Jede politische Handlung, die dem „tiefen Staat“ zugeschrieben wird, wird dementsprechend dämonisiert und als Beweis für seine Bösartigkeit herangezogen. Der tiefe Staat müsse permanent seine Autorität auf der Weltbühne verteidigen, so die Erzählung, da sonst die neoliberale kapitalistische Ordnung in ein Ungleichgewicht gerate. Es soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass politisches Handeln durchaus auch von ökonomischen oder machtpolitischen Interessen getrieben sein kann. Die absolut zielgerichtet böswillige, eindimensionale Absicht, die bspw. den USA häufig unterstellt wird, hat jedoch nichts mit einer differenzierten Kritik zu tun. Denn hierbei werden nur Aspekte berücksichtigt, die das eigene vorgefasste Weltbild bestätigen.
9/11 als linke Verschwörungserzählung
Das Narrativ des „tiefen Staates“ findet sich auch in der verschwörungsideologischen Erzählung zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Zu jedem Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center als Sinnbild für den Kapitalismus der westlichen Welt überschlagen sich Webseiten und Accounts in den Sozialen Medien förmlich darin, ihre Verschwörungstheorien zum Ereignis zu verbreiten. Die Annahme, dass die US-Regierung durch ihre Geheimdienste die Anschläge selbst initiiert habe, um einen Krieg um Rohstoffe im Irak zu legitimieren, ist bei linken wie rechten Verschwörungsideolog:innen gleichermaßen beliebt. Sie argumentieren mit Fachleuten aus den eigenen Reihen, um eine wissenschaftliche Basis zu konstruieren. Diese sind vor allem von der physikalischen Unmöglichkeit der „offiziellen“ Darstellung der Ereignisse des 11. September 2001 überzeugt. Des Weiteren seien die Terroristen von der US-Regierung beauftragt worden, weshalb sie auch nur als „Bauernopfer“ und nicht als Täter zu bewerten wären. Eigene Interessen werden den islamistischen Terroristen auf diese Weise abgesprochen. Diese These wird auch auf weitere Anschläge (etwa Madrid 2004, Paris 2015) ausgeweitet. So schreibt Albrecht Müller auf den „NachDenkSeiten“: „Wenn 9/11 Staatsterrorismus war, ähnlich den Operationen der Geheimarmeen der Nato (sic!) in Europa in den 70er und 80er Jahren, waren dann die Anschläge in Paris, Madrid, Barcelona usw. nicht vielleicht auch verdeckte Anschläge des tiefen Staates, die man Terroristen in die Schuhe schieben will?“
Die Frage wird durch den Autor natürlich nicht beantwortet, da sie rein rhetorischer Natur ist. Dies wiederum ist aufmerksamen Leser:innen bewusst, da sie Glaubensgrundsätze um die Machenschaften des „tiefen Staates“ teilen. Müller beantwortet die gestellte Frage implizit, indem er gleichzeitig eine weitere Verschwörung „aufdeckt“. Diese Argumentationstaktik folgt der Strategie, Großereignisse nach einem stark vereinfachenden Freund-Feind-, Opfer-Täter- bzw. Aktion-Reaktion-Schema ins Weltgeschehen einzuordnen. Dabei geht es nicht darum, den Gegebenheiten tatsächlich auf den Grund zu gehen, sondern vor allem darum, das eigene Weltbild in dem Ereignis gespiegelt zu sehen. Die eigentliche Verschwörung muss dazu nicht klar benannt werden, da durch Buzzwords (Signalwörter) wie „der tiefe Staat“ Raum für verschwörungsideologische Projektionen der Lesenden geschaffen wird. Das Feindbild ist freilich nicht willkürlich gewählt. Aus dem Gesamtzusammenhang des Artikels/Postings bzw. aller Inhalte einer Website oder Social-Media-Seite wird der Kreis der „Schuldigen“ der jeweiligen Verschwörungserzählung eingrenzt auf bestimmte Staaten (USA, Israel), Institutionen (CIA, Mossad, FED etc.) und Gruppen (Finanzkapitalist:innen, Zionist:innen etc.).
Wie andere Verschwörungsideolog:innen verstehen sich auch linke als Kritiker:innen gesellschaftlicher Missstände, die sie vermeintlich hinterfragen. Anstatt jedoch die strukturellen Ursachen dieser Missstände zu kritisieren und sich selbst in diese Kritik mit einzubeziehen, äußern sich in ihren Erzählungen vor allem Ressentiments. Beantwortet wird hier nur die Frage: Cui bono? – Wer ist eigentlich schuld an allem? Durch die Projektion auf ein Feindbild scheint nicht nur die Welt ein wenig einfacher verstehbar, das Böse hat auch nichts mit uns zu tun, ist bekämpfbar und kann letztlich vernichtet werden.
Gehirnwäsche 2.0
KenFM, „NachDenkSeiten“, linkezeitung.de und Rubikon geben vor, einen subversiven und revolutionären Denkanstoß in die „richtige“ Richtung zu vertreten. Diese Internetblogs ernennen sich selbst zu Nachrichtenseiten, auf denen sie vermeintlich „unbequeme“ Fragen stellen und diese dann auch beantworten. Nach ihrer Meinung fälsche „der tiefe Staat“ gezielt Informationen über das Weltgeschehen, um die Bevölkerung für seine Ziele einzunehmen. Diese Ziele sind jedoch nicht klar definiert. Laut einem Artikel der „NachDenkSeiten“, der u.a. auch bei „KenFM“ (einem Blog des ehemaligen rbb-Radiomoderators Ken Jebsen) erschienen ist, sei Wikipedia in der Hand des israelischen Geheimdienstes Mossad. Dieser würde das Internet mit „pro-israelischen Inhalten überfluten“ und vor allem Aktivitäten „anti-israelischer Aktivisten zum Erliegen bringen“. Wikipedia „herrsche“ auf diesem Weg „absolut“ und hätte „ein Machtmonopol aufgebaut, das sich nicht mit der Demokratie vertrage“. Des Weiteren bestimmten die Nachrichtendienste des „US Imperiums“, also erneut der „tiefe Staat“, auch hierzulande die Medien und sorgten somit für eine „gleichgeschaltete“ Berichterstattung. Hier stünden abermals die Interessen des Kapitals im Vordergrund, die mit den Lebensrealitäten der Bevölkerungen in Europa nichts gemein hätten. Dies anzuprangern, sei die Aufgabe besagter „Gegenmedien“, die im Interesse der Bürger:innen berichteten – im Gegensatz zu den Interessen der eigenen Regierung, die sich vorgeblich mit denen der USA/des Kapitals decken.
Diese „Wahrheits“-Blogs dienen als zentrales Sprachrohr der Anhänger:innen linker Verschwörungsideologie. Setzt man sich näher mit ihren Themen auseinander, ist erkennbar, dass sie Informationen vorenthalten oder Gerüchte in die Welt streuen, um gängige Verschwörungs-Narrative bedienen zu können. Die Journalist:innen betreiben gezielte Agitation gegen ein Feindbild, das sie durch ihre manichäische Einteilung der Welt in Gut und Böse selbst geschaffen haben. Sie nutzen also eben jene Methoden, die sie ihren vermeintlichen Gegner:innen vorwerfen. Die Autor:innen der Blogs sind davon überzeugt, mit ihren alternativen Medienangeboten im Sinne des Humanismus Aufklärung zu betreiben und auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Sie propagieren Pressefreiheit, indem sie die (also ihre) „Wahrheiten“ präsentieren, die allen anderen „gesteuerten Medien“ zu „unbequem“ seien.
Zugleich finden auf den Seiten der linken Verschwörungsideolog:innen ebenfalls klassisch linke Debatten statt: Es wird über den gesellschaftlichen Rechtsruck berichtet, anerkannte Wissenschaftler:innen werden zu gesellschaftlichen Problemen befragt. Dadurch gewinnen die Blogs an Akzeptanz. Interessierte, die sich mit innerlinken Debatten oder/und gesellschaftlichen Streitfragen auseinandersetzen wollen, kommen auf diese Weise mit Verschwörungsideologien in Berührung, da sie die problematischen Inhalte unter Umständen nicht direkt entschlüsseln können.
Sinnstiftung und Vernetzung
Die Community linker Veschwörungsideolog:innen ist auf den ersten Blick überschaubar. Die Blogs veröffentlichen und verlinken gegenseitig ihre Artikel, um möglichst viele Menschen anzusprechen und für ihre „Wahrheit“ empfänglich zu machen. Durch dieses gemeinsam geteilte Wissen fühlen sich die Anhänger:innen von Verschwörungsideologien miteinander verbunden. In diesen Gesamtzusammenhang eingeordnet, ergeben auch die Leiden der Gegenwart einen Sinn. Jedoch unterschlägt dieses „Wissen“ die Komplexität des kapitalistischen Gesellschaftssystems und konstituiert eine stark verkürzte Herrschaftskritik. Denn es ist nicht einfach so, dass Herrschaft überall linear von oben nach unten ausgeübt wird. Herrschaftsformen moderner Gesellschaften sind wesentlich vielschichtiger, als linke Verschwörungsideologien glauben machen. Ihre Protagonist:innen stilisieren sich so zugleich selbst zu Opfern eines Diskurses, der sie zu „Verschwörungstheoretikern“ mache. Auf der anderen Seite sehen sie sich als einzige „wache Menschen“ und Helden, die die Wahrheit erkennen und auszusprechen wagten. Aus diesem Grund betrachten sie das Internet als revolutionäres Element und als Chance, ihre Art der „Wahrheit“ zu verbreiten.
Dennoch werden von den Autor:innen glücklicherweise keine expliziten Handlungsempfehlungen gegeben. Die Leser:innen der Blogs sollen selbst Schlüsse aus dem Gelesenen ziehen und sich gegen die Auswirkungen des „tiefen Staates“ zur Wehr setzen, auch wenn sie sich als Pazifist:innen sehen. An diesem Punkt der Kritik fängt meist eine antisemitische Verschwörungserzählung an: Die Autor:innen konstruieren ein Unten, bei dem sie sich selbst als Basis verorten, um gegen die Unterdrückung durch die Elite aufzubegehren. Auch wenn hinter diesen Konstruktionen Ohnmacht und Wut stehen mögen, da es in einer komplexeren globalisierten Welt immer schwieriger wird, den Ereignissen einen Sinn zu geben, kann dieses Denken zu diskriminierenden oder sogar gewaltvollen Handlungen gegen Andersdenkende heranreifen. Denn die Erzählungen der Blogs werden auch über die Community hinaus geglaubt und rezipiert. Verschwörungserzählungen und -ideologien, die sich in den politischen Milieus überschneiden, werden durch Schauspieler:innen, Musiker:innen, YouTube-Stars und andere Prominente verbreitet und finden auf diesem Weg in der Popkultur Anklang. Die Gefahr, mit verschwörungsideologischen Erzählungen in Berührung zu kommen, ohne explizit nach diesen zu suchen, ist demnach nicht zu unterschätzen.
Abgrenzung, Gemeinsamkeiten, Identität
Linke Verschwörungsideolog:innen verorten sich an der Basis einer Bewegung, die für Pressefreiheit, Menschenrechte und Demokratie einsteht. Dabei agitieren sie selten rassistisch und setzen sich für Minderheiten ein, solange sie diese als „Unterdrückte“ klassifizieren. Sie wollen die Gesellschaft gemäß einem linkspolitischen Anspruch im emanzipatorischen Sinne verändern; ihre Kritik greift jedoch nicht, da sie die strukturelle Verfasstheit moderner Gesellschaften nicht in den Blick nimmt. Ein Grundzug antisemitischer verschwörungsideologischer Welterklärungsmodelle – insbesondere, wenn sie von linker Seite vertreten werden – ist ihr vermeintlich rebellischer Charakter. Antisemitische Verschwörungsideologie stellt sich dar als Kampf gegen das Establishment, gegen „die da oben“ oder gegen den Kapitalismus an sich. Im Gegensatz zu rechtsextremen Antisemit:innen wollen linke jedoch keine sein. Ein linkes Selbstbild beinhaltet die Vorstellung, zu „den Guten“ zu gehören, und basiert in der Regel auf dem Anspruch der Gleichwertigkeit aller Menschen. Daher äußert sich linker Antisemitismus als (falsche) „Kapitalismuskritik“, „Israelkritik“ oder „Antizionismus“, manchmal auch als „Globalisierungskritik“, Hass auf sogenannte Yuppies, „die Wallstreet“ etc. Entscheidend ist, dass es nicht in ein (vor allem deutsches) linkes Selbstbild passt, Jüdinnen und Juden zu hassen. Denn grundsätzlich wird Menschenhass basierend auf vermeintlich ethnischer oder religiöser Markierung abgelehnt. Hass darf nur sozial oder politisch begründet sein, dann lässt er sich rationalisieren.
Die Personifizierung von Macht und Herrschaft, wie sie im Antisemitismus stattfindet, entlastet von dem Konflikt, sich selbst als Teil der gehassten Struktur begreifen zu müssen. Stattdessen dürfen linke Antisemit:innen diejenigen sein, die heldenhaft gegen die verschwörerische Unterdrückung durch „die Mächtigen“ ankämpfen. Das haben sie mit allen Antisemit:innen gemein. Nur kämpfen linken Verschwörungsideolog:innen seltener für die Befreiung des „deutschen Volkes“, sondern lieber für die anderer „Völker“, mit denen sie sich besser identifizieren können. Auf diese Weise äußert sich ein Wunsch nach völkischer Gemeinschaft (völkische Sehnsucht), dessen sich linke Verschwörungsideolog:innen nicht bewusst sind und/oder den sie nicht wahrhaben wollen. Denn Gleichwertigkeit aller ist mit einer Volksgemeinschaft nicht umzusetzen. Dieser Widerspruch zwischen linken Idealen und der regressiven, autoritären völkischen Gemeinschaft wird über Verschwörungsideologien verdrängt und letztlich ausgelagert. Das eigentliche Problem ist dann nicht mehr das eigene regressive Bedürfnis, sondern der äußere Feind.
Die neue Broschüre Down the rabbit hole — Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien können Sie hier herunterladen oder bestellen.