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„Down the rabbit hole“ Moderne Gesellschaften und Verschwörungsideologie

(Quelle: Unsplash)

Down the rabbit hole“ heißt eine neue Handreichung von No World Order, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und gibt Einblicke in Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und Möglichkeiten der Intervention. Der folgene Text ist ein Auszug aus der Broschüre: Wie Verschwörungserzählungen das Leben in einer modernen, extrem komplexen Welt einfacher machen.

Die Moderne hat keinen eindeutigen historischen Beginn, auf den sie zurückgeht. Manche Historiker:innen machen die Reformationszeit als Beginn aus, andere die Industrialisierung, wieder andere die Französische Revolution. Recht haben sie alle, denn Säkularisierung, kapitalistische Wirtschaftsweise und eine bürgerliche Vergesellschaftung, die sich auf unveräußerliche Rechte wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beruft, sind zentrale Elemente der Moderne. Die gesellschaftliche Organisation, die sich in dieser Epoche entwickelt und etabliert hat, zeichnet sich durch hohe Komplexität und abstrakte Formen von Herrschaft und Wirtschaft aus.

Um besser nachvollziehen zu können, wie komplex diese Art der gesellschaftlichen Organisation ist, hilft es, sie mit ihrem Vorgänger, der feudalen Ständegesellschaft des Mittelalters, zu vergleichen. Im Feudalismus lebten die Menschen in einer vermeintlich von Gott gegebenen und deshalb „natürlichen“ Ordnung. Laut dieser Ordnung wurden Menschen in einen Stand geboren – lebten also beispielsweise als Großgrundbesitzer oder Leibeigene. Herrschaft war im Feudalismus klar geregelt und deutlich sichtbar. Wer in den Stand einer Bäuerin:eines Bauern geboren wurde, konnte in der Regel eine höhere gesellschaftliche Position nicht erreichen.

Moderne Gesellschaften verschreiben sich dagegen dem Grundsatz unveräußerlicher gleicher Rechte aller Staatsbürger:innen sowie grundsätzlicher Menschenrechte. Daher legt der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes fest, dass die Würde des Menschen unantastbar und es Aufgabe der staatlichen Gewalt ist, sie zu schützen und zu achten. Der Idee nach soll dieser Grundsatz universelle Gültigkeit beanspruchen. In der gelebten Realität jedoch ist gesellschaftliche Teilhabe nicht für alle Menschen in gleicher Weise erreichbar: Faktoren wie soziale/geografische Herkunft oder Geschlecht wirken sich stark auf den Lebensweg aus, den der:die Einzelne einschlagen kann. Diese Chancenungleichheit wird im öffentlichen Diskurs häufig nicht benannt. Stattdessen dient der Grundsatz „jeder ist seines Glückes Schmied“ als Leitspruch moderner liberaler Gesellschaften. Wem dies nicht gelingt, die:der scheitert und trägt dafür, gemäß dieser Vorstellung, auch selbst die Verantwortung. Die Individuen in modernen Gesellschaften konkurrieren und kämpfen demensprechend dauerhaft um Teilhabe.

Der moderne Konkurrenzdruck beschränkt sich nicht auf die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten der Einzelnen, sondern wirkt sich belastend auf das Individuum als Ganzes aus. Es muss mit seiner und durch seine Identität gesellschaftlich mithalten. Identität als Konzept funktioniert in der Regel so, dass wir eine Vorstellung davon haben, wie wir sein sollen/wollen bzw. von anderen wahrgenommen werden sollen/wollen, und unser Auftreten, Aussehen, unseren Besitz, unsere Sprache etc. (die Performance) entsprechend anpassen – sowohl bewusst als auch unbewusst, sowohl gewählt als auch durch die Gesellschaft geprägt. In diesem Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung treten notwendigerweise Brüche und Widersprüche auf. Dies liegt zunächst daran, dass Wahrnehmungen unterschiedlicher Menschen niemals ganz deckungsgleich sind – vor allem, wenn es um die eigene Person geht. Denn die Selbstwahrnehmung wird wesentlich beeinflusst durch Wünsche und Zwänge, denen der:die Einzelne unterliegt. Diese sind ständiger Veränderung unterworfen. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen, in denen wir uns befinden, sowie die Personen, mit denen wir dort zu tun haben, fordern uns unterschiedliche Eigenschaften bzw. Persönlichkeitsattribute ab. Das heißt, viele Menschen ändern ihre Performance, je nachdem, ob sie es mit ihren Vorgesetzten, den Eltern, Freund:innen, Partner:innen oder Feind:innen zu tun haben. Bei Personen, deren Außendarstellung sich je nach Kontext stark verändert und die ebenso stark auf eine äußere Bestätigung dieser Darstellung angewiesen sind, können Widersprüche schnell zu Verunsicherung führen.

Außerdem verfügen nicht alle Menschen über die gleichen Ressourcen, aus denen sich ihre Identität speisen kann. Prekäre Lebensweisen können sich bspw. negativ auf das Selbstbild und dementsprechend auch negativ auf das eigene Identitätskonstrukt auswirken. Dies ist jedoch kein Sachzwang – nicht alle Menschen, die über wenig Geld verfügen oder eine schwierige Kindheit hatten, sind automatisch gebrochen in ihrer Identität. Denn die wirksamsten persönlichkeitsstärkenden Faktoren sind nicht direkt an äußere Gegebenheiten gebunden. Eine starke Persönlichkeit entsteht vielmehr aus einem positiven Bezug auf die eigenen Fähigkeiten oder Eigenschaften. Je besser jemand dazu in der Lage ist, Brüchigkeit und Widersprüche in ihrer:seiner Identität zu akzeptieren, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie:er sich eindimensionalen äußeren Identitätsangeboten zuwendet.

Autoritäre Weltbilder und die darin enthaltenen Vorstellungen von (kollektiver) Identität bieten sich in diesem Zusammenhang an, da sie absolute Eindeutigkeit suggerieren und (gewaltsam) durchsetzen. Diese Sehnsucht nach autoritärer Widerspruchsfreiheit findet sich in diversen politischen Lagern und gesellschaftlichen Milieus – von der gesamten extremen Rechten bis zu Teilen der radikalen Linken, vom Islamismus bis zu Teilen der Bundeswehr und Polizei sowie in der Mitte der Gesellschaft.

Ein sehr populäres autoritäres Identitätsangebot ist das des völkischen Nationalismus. Das Volk wird in diesem Mythos als homogene, natürliche „Schicksalsgemeinschaft“ verstanden, die durch Blut und Boden und die Fantasie einer Jahrtausende alten Geschichte zusammengehalten wird. Die Volksgemeinschaft wird als Ausweg aus der Komplexität und Widersprüchlichkeit moderner Gesellschaften wahrgenommen. Die Vereinzelten, die sonst immer miteinander konkurrieren und sich selbst täglich neuerfinden müssen, lösen sich in der Volksgemeinschaft auf und erfüllen ihre „Bestimmung“ im großen Ganzen des „Volkskörpers“. Dieses falsche Glücksversprechen kann sich jedoch niemals erfüllen. Gleichheit bedeutet im völkischen Nationalismus immer Zwang. Einzelinteressen, Abweichungen oder Pluralität sind in diesem Konzept nicht vorgesehen, werden sogar als Störung oder Gefahr bekämpft. Zur Volksgemeinschaft darf nur gehören, wer durch Blut und Boden mit ihr verbunden ist. Es handelt sich dabei um eine rassistische Ideologie, denn sie basiert auf der Fantasie, es gäbe eine verbindende Eigenschaft oder Qualität, die einer bestimmten Gruppe Menschen angeboren wird. Dieser Ideologie zufolge teile das „deutsche Volk“ spezielle „natürliche“ Prägungen, die auf Abstammung und Heimatbezug beruhen.

Auch weniger rigide Eingrenzungen völkischer Gemeinschaften sind letztlich gewaltförmig, da sie den Zwang voraussetzen, alle gleich machen zu müssen und Störer:innen auszugrenzen oder sogar auszuschalten. Der Mythos der Volksgemeinschaft kommt dementsprechend nicht ohne Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungsideologie aus. Denn überall dort, wo er an seinen eigenen Widersprüchen (wie bspw. unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen) zu scheitern droht, wird der Widerspruch ausgelagert.

In modernen Gesellschaften bedeuten Freiheit und Gleichheit idealerweise die Freiheit, sich individuell zu entfalten, und die Gleichheit vor Recht und Gesetz. Dennoch treten vielfach Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Ideologie und materieller Realität auf. Durch ihre sehr komplexe Organisation und die Abstraktheit der Prozesse, die innerhalb moderner Gesellschaften ablaufen, sind diese Widersprüche bisweilen schwer zu benennen – insbesondere, da es wenig öffentlichen Raum dafür gibt, über diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität zu verhandeln. Gesellschaftliche Widersprüche können und sollten benannt werden. Das heißt jedoch nicht, dass sie dadurch verschwinden. Verschwörungsideologien geben jedoch vor, komplexe Widersprüche aufzulösen und in ein Schema zu übersetzen, in dem alles, was passiert, einem konkreten Prinzip folgt. Diesem Prinzip zufolge gibt es einen äußeren mächtigen Feind. Dieser Feind bzw. diese feindliche Gruppe, so behaupten Verschwörungsideologien, hat Einfluss auf alles, was sich im Weltgeschehen zuträgt, und leitet es entsprechend seinem Willen, um seine Macht zu vergrößern und alle anderen zu vernichten.

Diese Lüge, so schrecklich auch das Szenario sein mag, das sie ausmalt, kann zunächst entlastend wirken. Wer sie glaubt, muss nicht mehr mit der verunsichernden Uneindeutigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse umgehen, sondern geht davon aus zu wissen, „was wirklich gespielt wird“. Die persönliche Verantwortung sowohl für das eigene Leben als auch für die Gesellschaft, in der man lebt, beschränkt sich bei Verschwörungsideolog:innen vor allem auf die „Aufdeckung“ und Bekämpfung der „großen Verschwörung“. Formen persönlichen Scheiterns, Unsicherheiten, gesellschaftliche Probleme werden der feindlichen Gruppe zugeschrieben. Durch diese Auslagerung können sie der eigenen bzw. kollektiven Identität (z.B. der Volksgemeinschaft) nicht mehr gefährlich werden. Verschwörungsideolog:innen und die autoritären Gemeinschaften, in denen sie sich bewegen, werden durch ihren Verschwörungsglauben jedoch umso gefährlicher für jene, die von ihnen zu Feindbildern gemacht werden.

Trotz der Unvollkommenheit moderner Gesellschaften ist es wichtig, dafür zu streiten, ihre propagierten Grundwerte umzusetzen. Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Sinne einer offenen Gesellschaft sollten heißen, frei zu sein von Leid und gleichwertig zu sein, ohne gleichartig sein zu müssen.


Die neue Broschüre Down the rabbit hole — Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien können Sie hier herunterladen oder bestellen.

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