„Down the rabbit hole“ heißt eine neue Handreichung von No World Order, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und gibt Einblicke in Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und Möglichkeiten der Intervention. Der folgene Text ist ein Auszug aus der Broschüre.
In manchen satirischen oder dokumentarischen Darstellungen von Verschwörungsideolog:innen wird der Eindruck vermittelt, es handele sich bei ihnen um „Verrückte“. Die Darstellung aller Anhänger:innen als psychisch krank blendet jedoch bestimmte Aspekte aus, die innerhalb dieser Gesellschaft Verschwörungsideologien hervorbringen können. Es gibt also zwei Ebenen, auf denen aus wissenschaftlicher Perspektive Ursachen für den Glauben an Verschwörungsideologien benannt werden können: die gesellschaftliche und die individuelle.
Individuelle Ursachen
Nicht alle Menschen sind anfällig für den Glauben an Verschwörungsideologien. Als individuelle Ursache für den Glauben an eine Verschwörungsideologie wird eine Verschwörungsmentalität als Teil der psychischen Strukturen bestimmter Menschen angenommen. Sie entsteht, wenn Kinder von ihren Eltern besonders autoritär erzogen werden. Anschließend neigen sie nicht nur eher dazu, Feindseligkeit gegen andere und Schwächere zu entwickeln, sondern auch dazu, an die Existenz des Bösen in der Welt zu glauben. Dieser Glaube an das Böse macht sie anfällig dafür, an Verschwörungsideologien zu glauben, denn Verschwörungsideologien folgen der Einteilung der Welt in Gut und Böse. Bestimmte Menschen glauben also aufgrund ihrer ausgebildeten Verschwörungsmentalität an Verschwörungsideologien und nicht, weil diese besonders überzeugende Erklärungen bieten.
Menschen mit einer Verschwörungsmentalität müssen nicht jederzeit offen Verschwörungsideologien vertreten. Ihre Anfälligkeit für dieses Denken kann sich auch verdeckt in einzelnen Einstellungen äußern. Die weltweiten Entwicklungen seit der Mitte der 2010er Jahre verdeutlicht jedoch, dass verschwörungsideologische Inhalte immer offener verbreitet werden. So hat die Funktion von Gatekeeper:innen an Bedeutung verloren. Deren Autorität basiert(e) auf Vertrauen und einer rationalen Begründung der Auswahl ihrer Informationen. Das Wegbrechen von Gatekeeper:innen hat öffentliche Diskurse für Verschwörungsideologien geöffnet. Verschwörungsideologisch-“alternative“ Blogs und Medien produzieren Inhalte, die von Menschen aktiv in Sozialen Medien, in der Bahn, an der Bar oder beim Abendessen verbreitet werden.
Gesellschaftliche Ursachen
Die gesellschaftlichen Ursachen für den Glauben an Verschwörungsideologien lassen sich in allgemeine, gesellschaftliche und politische Ursachen unterteilen. Verschwörungsideologien haben zu bestimmten Zeiten Konjunktur. Große gesellschaftliche Veränderungen begünstigen die Verbreitung von Verschwörungserzählungen in der Bevölkerung. So wurde bereits die Fran–zösische Revolution (1789) von ihren Gegner:innen als Verschwörung „der Juden“, Freimaurer und Sozialisten bezeichnet. Auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) oder den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA blühten Verschwörungsideologien auf. Der Bürgerkrieg in Syrien und die daraus resultierenden Migrationsbewegungen haben 2015 zur massenhaften Verbreitung der Verschwörungsideologie vom „Großen Austausch“ geführt. Als gewaltiger gesellschaftlicher Umbruch muss auch die Herausbildung des kapitalistischen Wirtschaftssystems gewertet werden. Die dem System innewohnende Dynamik und Wandelbarkeit führt zu stetigen Veränderungen im Leben der Menschen. Dies gilt besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den damit verbundenen Veränderungen für die ehemaligen realsozialistischen Gesellschaften.
Große gesellschaftliche Umbrüche haben weitreichende Folgen für die Individuen. Es kommt zu Verunsicherungen des eigenen Denkens und zu Abstiegsängsten. Die gewohnte Art, dem Weltgeschehen einen Sinn zuzuordnen, wird erschüttert. Doch nicht nur der Systemwechsel führt zu Verunsicherung, sondern auch die Dynamik und Wandelbarkeit, die dem kapi–talistischen Wirtschaftssystem selbst innewohnt.
Agitator:innen und falsche Prophet:innen
Die bloße Existenz individueller Verschwörungsmentalitäten und gesellschaftlicher Umbruchprozesse reicht jedoch nicht aus, damit Verschwörungsideologien sich verbreiten. Letztlich bedarf es Menschen, die mit ihrer Agitation diese Aufgabe übernehmen. Dazu können sie beispielsweise Reden halten, Bücher schreiben, Beiträge in Sozialen Netzwerken veröffent–lichen oder gleich eigene Medien mit Zeitschriften, Fernseh- und Radiosendern gründen. Grundsätzlich geht es dabei darum, einer breiten Öffentlichkeit die eigenen Verschwörungsideologien zu präsentieren, darin bestimmte Gefühle und Beschwerden der Bevölkerung aufzugreifen und zu ordnen, um schließlich die eigene Gefolgschaft zu entsprechenden Handlungen zu motivieren. Diese „falschen Prophet:innen“ (Leo Löwenthal) versprechen in ihrer Agitation und Propaganda ein Ende des Leidens auf der Welt und para–diesische Zustände, wenn nur die „Bösen“ endlich zur Rechenschaft gezogen würden. Das Internet hat hierbei einen wichtigen Beitrag geleistet.
Die Missstände und emotionalen Hintergründe sind jedoch nicht nur in der Einbildung von Verschwörungsideolog:innen vorhanden. Sie sind der Ausdruck eines großen sozialen Unbehagens, das die Gesellschaft durch ihren politischen und wirtschaftlichen Aufbau in den Menschen hervorbringt. Von daher ist die Annahme zu einfach, bei Verschwörungsideolog:innen handle es sich ausschließlich um Wahnsinnige. Verschwörungsideologien stellen eine Möglichkeit dar, Halt in einer sich stetig verändernden Welt zu finden.
Die neue Broschüre Down the rabbit hole — Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien können Sie hier herunterladen oder bestellen.