Nun stellt sich für einen Menschen, der nicht komplett verroht ist, die naheliegende Frage: wieso das eigentlich alles? Klar, Gamifizierung des Hasses. Dehumanisierung des Gegenübers durch die Memefication eines Menschen. Mobbing als Zeitvertreib. Aber was sind eigentlich die sozialpsychologischen Voraussetzungen, dass es so weit kommen kann?
„Haider“ verbringen über Jahre hinweg mehrere Stunden in der Woche damit, sich nicht nur Winklers YouTube-Content anzuschauen, sondern diesen sogar zu transkribieren und zu kommentieren, um das Ergebnis dann für den Rest der Community in einer ausschließlich Winklers Treiben gewidmeten Online-Zeitung zu veröffentlichen (dass diese Zeitung seit 2015 hingebungsvoll betrieben wird, sagt mehr über die dahinterstehenden Personen als über Winkler aus). Einige von ihnen entwickeln Videospiele, deren Inhalt es ist, vor Winkler zu fliehen. Oder verbringen ihre Wochenenden, an denen sie vielleicht auch ihrer kranken Großmutter einen Besuch abstatten könnten, mit der Organisation von Mitfahrgelegenheiten nach Altschauerberg, um dort einen Mann in den psychischen Untergang zu mobben. Oder organisieren eine Demonstration vor Rainer Winklers Haus um ihrem Hass Ausdruck zu verleihen weil das anscheinend ein aufrechter, würdiger Grund ist, auf die Straße zu gehen.
Sadismus und Langeweile
Laut einer Studie der Universität von Manitoba von 2014 ist die Affinität zu Online-Trolling eng mit der „dunklen Tetrade“ von Persönlichkeitszügen verbunden: Sadismus, Machiavellismus, Narzissmus und Psychopathie. Es macht Trollen also genuin Spaß, andere zu belästigen und zu demütigen. Wie die 2020 publizierte Studie „On the relation of boredom and sadistic aggression” ausführt, tritt der Sadismus von Trollen in der Regel in Verbindung mit Langeweile auf: „Sadistische Tendenzen sind bei Menschen, die über Langeweile im täglichen Leben berichten, stärker ausgeprägt“, jedoch sei Sadismus und nicht Langeweile der ausschlaggebende Faktor: „Wenn mehrere Verhaltensalternativen verfügbar sind, motiviert Langeweile nur bei denjenigen Individuen sadistisches Verhalten, bei denen Sadismus bereits als dispositionelle Eigenschaft vorhanden ist.“ Zusammengefasst: Trolle demütigen Menschen, weil ihnen langweilig ist. Das Opfer wird zum Zeitvertreib gedemütigt und hier spricht auch die Bezeichnung „Drachengame“ und das Deklamieren, es würde sich um Unterhaltung wie ein Videospiel oder eine Fernsehserie handeln. Die Obsession, mit der die „Haider“ ihrem Hobby nachgehen, ist demnach ein Beweis dafür, wieviel Zeit und Langeweile sie haben müssen: Die in einer Online-Cloud archivierten Inhalte zu Winkler umfassen inzwischen fast ein Terrabyte.
Schuldabwehr und die Rechtfertigung der Gewalt
Diejenigen unter Winklers Anti-Fans, die noch nicht bereit sind, ihr Abarbeiten an Winkler freimütig als Freizeitbeschäftigung zu adressieren, rationalisieren ihre Handlungen gerne mit der Aussage, dass sie doch einfach nur berechtigte Kritik an einem problematischen Menschen üben würden. Der Betreiber des bereits erwähnten Blogs zu Winkler schreibt als Antwort auf die Frage, ob das „Drachengame“ nicht Cybermobbing sei: „Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Großteil der Hater froh darüber wären, wenn Rainer sein Leben wenigstens ein bisschen in den Griff bekommen würde – aber er ist leider vollkommen beratungsresistent und lernt nicht aus seinen Fehlern. Außerdem versuche ich den Drachen nicht besser oder schlechter darzustellen, als er eigentlich ist. Jeder soll sich seine eigene Meinung über ihn bilden, ich gebe hier nur wider (sic), was er und die, die sich um ihn herum gesellen so treiben.“
Es ist nicht zu leugnen, dass Winkler mindestens als „problematisch“ einzustufen ist, gerade im Bezug auf Sexismus und sexuell übergriffiges Verhalten. Recherchiert man aber ein paar jener Menschen hinterher, die Winkler Sexismus oder Antisemitismus vorwerfen, realisiert man sehr schnell, dass diese Kritik weniger aus dem aufrechten Wunsch nach einer besseren Gesellschaft herrührt, sondern im besten Falle projektive Abwehr der eigenen Menschenfeindlichkeit, viel eher aber eiskalt kalkuliertes Spielen mit Empörung ist. Wie im ersten Teil der Analyse zu Winkler dargelegt, sind Menschen mit Twitter-Namen wie „EliteHaider88“ und Groyper-Profilbild selten aufrechte Kämpfer gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sondern viel mehr Personen die den Prozess gegen Winkler auf Twitter mit dem Hashtag „Nürnberger Prozesse“ markiert haben, eine Schwarze Aktivistin mit dem N-Wort angreifen und Feministinnen belästigen. Einer der Begründer des „Drachengame“ nennt sich „Dorian, der Übermensch“ und kokettierte regelmäßig mit Bezügen auf den Nationalsozialismus.
Die Aussage, man würde notwendige Kritik an Winklers Fehlverhalten üben, anstatt Mobbing zu betreiben, dient der Legitimation der systematischen Angriffe gegen den Mann – die übrigens immer persönlicher, und nie sachlicher Natur sind – sowohl vor sich als auch vor anderen und soll die Tatsache verschleiern, dass die „Haider“ schlicht und ergreifend aus Menschenhass und Sadismus handeln. Außerdem kann durch die Behauptung der Haider, sie würden die regressiven Aussagen oder übergriffigen Verhaltensmuster Winklers angreifen und eben nicht einfach nur Mobbing frönen, sämtliche Kritik am Online-Hass als Unterstützung eines politisch und persönlich verkommenen Menschen dargestellt werden. Dieser Vorwurf wurde auch auf einem gegen Winkler gerichteten Blog an Lobo gerichtet. Dass diese Pseudo-Argumentation von politisch in der Regel rechtsgerichteten Menschen gegenüber einem linksliberalen Autoren verwendet wird, hat das Ziel, Lobo und andere progressiven Kritiker:innen des „Drachengame“ als Kompliz:innen eines Mannes, der „Holocaust-Leugner, Rassist, Frauenfeind und so weiter und so fort“ ist, zu framen.Zudem impliziert das Betonen von Winklers Transgressionen, dass er ja irgendwie auch Mitschuld trage an dem Hass, der ihm zugefügt wird. Diese Behauptung wurde im Rahmen der Verurteilung Winklers seitens der Staatsanwältin reproduziert, die meinte, dass Winkler doch einfach nur aufhören müsste, Videos ins Internet zu stellen: Schuldabwehr für die Anti-Fans und Täter-Opfer-Umkehr.
Ein weiterer Aspekt bei der Abwehr der eigenen Verantwortung ist das massenpsychologische Moment des „Drachengame“. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass Massenbewegungen — zu denen eine von tausenden von Menschen begleitete Online-Kampagne durchaus gezählt werden kann —zur Folge haben, dass das Individuum die eigene Verantwortung von sich selbst abspaltet und auf das Kollektiv überträgt und gleichzeitig entschuldigt: „Andere machen das ja auch”. Dass Winkler zu einem bloßen Meme dehumanisiert wird, erleichtert das Mobbing zusätzlich. Winkler ist quasi ein Anti-Idol, die negative Umkehr eines angehimmelten Popstars, seine Haider ein durch den Hass vereinter Anti-Kult.
Narzisstische Überhöhung, Sozialchauvinismus und pathische Projektion
Die Abwertung anderer Menschen hat immer auch die eigene narzisstische Selbstüberhöhung zum Ziel. Durch die Angriffe gegen Winkler können sich seine „Haider“ versichern, dass sie, egal wie elendig und erniedrigend ihre eigene Existenz sein mag, immerhin nicht so sind wie der Drachenlord. In der Regel ist das Leben im Spätkapitalismus mit einer permanenten Erfahrung der eigenen Ohnmacht – zum Beispiel im Beruf – und somit der narzisstischen Kränkung verbunden. Anstatt jedoch die wahren Hintergründe dieser Ohnmachtserfahrung kritisch zu reflektieren und zu versuchen, sie progressiv zu überwinden, scheint es naheliegender und einfacher, den eigenen Frust an ohnehin schon gesellschaftlich designierten Feindbildern – wie eben einem peinlichen YouTuber – auszuleben. Indem sie Winkler für seine im Internet ausgebreitete Existenz abstrafen, erfahren Haider eine pervertierte Form der Ermächtigung: sie haben die Möglichkeit, konkret auf das Leben einer anderen Person einzuwirken, und sei es auch nur in der Form von psychischer Gewalt. Dies jedoch auch immer unter dem Mantel der kalten, zynischen Überlegenheit: das Mobbing von Winkler ist beiläufiger Zeitvertreib. Man ist nicht darauf angewiesen, es passiert alles nur just for the lulz. Die Obsession, mit der die Haider ihrem „Spiel“ nachgehen, entlarvt dies jedoch als sehr offensichtliche Lüge.
Theoretisch könnte es Trollen egal sein, wer das Opfer ihrer Angriffe wird und wen sie demütigen. Praktisch gesehen trifft es dennoch erstaunlich oft Menschen, die bereits gesellschaftlich stigmatisiert sind: Frauen, queere Personen, People of Colour, Jüdinnen und Juden, prekarisierte, psychisch kranke und dicke Menschen. Personen, die ohnehin schon diskriminiert werden, sind gerade deswegen leichter anzugreifen. Trolle reproduzieren bewusst menschenfeindliche Gewalt und Herrschaftsmechanismen, denen ihre Opfer systematisch ausgesetzt sind: für Menschen, die von klein auf wegen beispielsweise Fettleibigkeit ausgegrenzt worden sind, sind dickenfeindliche Angriffe besonders schmerzhaft. Dies ist bei den Angriffen auf Winkler besonders virulent: kaum ein Text oder Video kommt ohne Bezüge auf sein Gewicht aus, er wird regelmäßig einfach als „der Diggne“ – die fränkische Aussprache von „der Dicke“ – bezeichnet, Spitznamen für ihn lauten „Buttergolem“, „Drachenlard“, „Oger“ oder „Speckbeppo“. Mobbing, ob nun online oder offline, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und in allen Schichten und Milieus zu verorten. Gerade beim Mobbing gegen Dicke, Arbeitslose oder psychisch Kranke – alles Aspekte, die auf Winkler zutreffen – spielt Sozialchauvinismus eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Andere Spieler:innen des Drachengame, die vielleicht nicht gerade jener Medizinstudent sind der extra nach Nürnberg gereist ist um Winklers Verurteilung zu verfolgen, haben das Gefühl der Überlegenheit jedoch nicht durch eine privilegierte Herkunft in die Wiege gelegt bekommen. Ihre Erniedrigung Winklers hat den Zweck, die eigene narzisstische Überhöhung erst zu generieren und eventuelle Ähnlichkeiten mit Winkler von sich zu weisen.
Wie die YouTuberin und Philosophin Natalie Wynn in ihrem sehr sehenswerten Video zu „Cringe Culture“, das sich intensiv mit der Online-Persönlichkeit Christina Chandler beschäftigt, die als US-amerikanisches Äquivalent zu Winkler betrachtet werden kann, ist die Abstrafung des verwerflichen Anderen häufig auch ein Absttrafen der eigenen verhassten Anteile an sich selbst: Expert:innen nennen das Phänomen „pathische Projektion“.
Einige treibende Kräfte hinter dem „Drachengame“ sind selbst genau das, was sie Winkler selbst vorwerfen: sozial inkompetent, nicht dem Schönheitsideal entsprechend, und anscheinend mit genug Mangel an Hobbys oder Beziehungen ausgestattet, sich dem „Drachengame“ zu widmen.
Die Obsession mit Winkler rührt stellenweise also auch daher, Winkler für das zu sanktionieren, was man an sich selbst verachtet und für die man sich schämt – und sich so zudem potentiell selbst vor den Angriffen der Troll-Community zu schützen.
Das Game frisst seine Kinder
Dies nicht immer mit Erfolg. Winkler sitzt im Knast, der Mob schreit nach neuem Futter, das er sich einverleiben kann, denn der Mob ist niemals satt, es verlangt ihm immer nach Opfern, an denen er sich abarbeiten kann.
Wie praktisch, dass so viele der besonders aktiven Haider selbst perfekt in das Opferschema passen! Neues Ziel der Community ist ein ehemals besonders aktiver Haider, der unter dem Namen „Roxau, der Zerschmedderä“ (sic) auftritt. Auch er ist dick. Auch ihm werfen seine Kritiker:innen (mutmaßlich berechtigt) vor, ein Nazi und Sexist zu sein – eine Kritik, deren Aufrichtigkeit angesichts des regelmäßigen Kokettierens mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit jedoch angezweifelt werden muss, gerade auch da „Roxau“ trotz (oder eher wegen) seiner politischen Ausrichtung vor wenigen Wochen noch vom Rest der Szene für seine Hausbesuche bei Winkler bejubelt wurde. Jetzt ist die Person, die die Haider in ihrem Hass zusammengeschweißt hat, vom Bildschirm verschwunden, nun zerfleischen sich die Haider gegenseitig. Der von dem „Zerschmedderä“ betriebene Fischimbiss wird mit schlechten Reviews bewertet, er ist nun genauso ein Meme wie sein Feindbild. Auf ein anderes Hobby umschwenken können und wollen sie sich offenbar nicht vorstellen.
Ob nun aus Sadismus, Überlegenheitsgefühl, oder Projektion gemobbt wird: bei den „Haidern“ handelt es sich um empathielose und sadistische Widerlinge, die stolz sind auf ihr Verhalten und den Schaden, den es Menschen zufügt, weil es ihnen das Gefühl von Überlegenheit und Einfluss suggeriert. Twitter-Blocks werden wie Trophäen herumgereicht, Zeitungsartikel zum „Game“ eifrig diskutiert, vermutlich werden die Haider auch über diesen ganz köstlich lachen. Es gilt schließlich, jedes noch so leise Gefühl von Empathie oder Scham, das man in sich trägt, zu ersticken. Der Ratschlag, den die Haider an Winkler geben, doch mal den Rechner auszuschalten und das Internet zu verlassen, sollten sie sich selbst einmal zu Herzen nehmen.
Dies ist der zweite Teil einer Analyse zu den Geschehnissen um Rainer Winkler.
Hier Teil 1:
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