Bevor die „Schweigemarsch“ der rechtsextremen Szene durch Dresden startet, verliest Anmelder Lutz Giesen (NPD und treibende Kraft eines völkischen Siedlungsprojektes im sächsischen Leisnig) die Auflagen. So weit, so normal. Eine Auflage hat es ihm besonders angetan. Immer wieder haben Neonazis auf den „Trauermärschen“ Plakate mit dem Aufdruck „Bombenholocaust“ durch Dresden getragen, zuletzt im vergangenen Jahr. Gemeint ist damit eine Täter-Opfer-Umkehr: Die Bombardierung Dresdens sei gleichzusetzen mit dem Holocaust der Nationalsozialist*innen. Dies ist eine klare Holocaust-Relativierung, die bisher allerdings keine juristischen Folgen hatte. Erst 2022 wurde eine entsprechende Anfrage der Polizei von der Staatsanwaltschaft Dresden abgewiesen, weil diese „keine strafrechtliche Relevanz“ sieht. Eine Begründung blieb sie schuldig.
Trotzdem hat die Demonstration nun von den Behörden die Auflage bekommen, das Zurschaustellen des Ausdrucks zu unterbinden. Lutz Giesen steht auf der Ladefläche eines Lastwagens am Mikro und feixt, während er alle Gelegenheiten zum Besten gibt, bei denen das Wort nicht genannt werden soll: In Reden, in Rufen, auf Plakaten, auf Bekleidung, und wie strafbar es sei, das zu tun! Um die zehn Mal sagt er das Wort lang und genüsslich, das Neonazi-Publikum lacht dankbar. Später darf er die Auflagen sogar noch einmal vorlesen, weil noch mehr Neonazis gekommen sind – aber da ist der Effekt schon etwas verpufft. Vielleicht ist da vielen von den jungen und alten Neonazis am Hauptbahnhof aber auch einfach kalt. Alkohol dürfen sie keinen trinken, immerhin haben Jungnazis eine Teeküche organisiert, ein Mann im „Sons of Thor, Division Mjölnir“-Shirt schenkt vor allem den älteren Teilnehmenden das Heißgetränk aus. Dresden im Februar ist kalt und unwirtlich, auch 2023.
Dresden und die Neonazis
Die Stadt Dresden hat keine gute Bilanz, was Gegenstrategien zum Neonazi-Aufmarsch zum 13. Februar angeht. Jahrelang mangelte es etwa an Distanz zum Thema. Statt sich auf die Trauer um die Toten zu konzentrieren, nährte auch das städtische Gedenken den Mythos der Übermäßigkeit der alliierten Bombenangriffe auf Dresden. Neonazis waren dort geduldet. Der rechtsextreme Aufmarsch zum 13. Februar durfte derweil vorbei an den schönsten Orten Dresdens durch die Innenstadt ziehen. Zu den Hoch-Zeiten des Aufmarsches um 2009/2010 war das für rund 6.500 Neonazis aus Deutschland und Europa ein attraktives Angebot.
Schließlich vermieste zivilgesellschaftliche Gegenwehr in Protest- und Blockadeform den Neonazis ihr „trauerndes“ Klassentreffen. Mal konnte die Demo gar nicht laufen, mal gab es verkürzte Routen, mal wurde ihnen endlich nur eine Route am Stadtrand zugebilligt. Die Teilnehmer*innen-Zahlen sanken.
Wie war es in Dresden 2023?
In diesem Jahr, dem 78. Jahr nach der Bombardierung der Stadt, fühlte sich Dresden an, als habe es viele Strategien der letzten Jahre wieder vergessen. Strategisches Ziel der Ordnungskräfte war offensichtlich, die rechtsextreme Demonstration marschieren zu lassen – wenn auch auf abgesperrten, bis auf die Anwohner*innen menschenleeren Straßen. Die rund 800 Neonazis starteten gegen 15.30 Uhr am Dresdner Hauptbahnhof, wo sie zuvor ab 14 Uhr in eisiger Kälte und Wind ausharren mussten, bis die Polizei ihre Demonstrationsroute freigeräumt hatte – was allerdings geschah. Alle Blockaden wurden geräumt. Anwohner*innen berichten, dass auch Hausflure gefilzt wurden, um sicherzugehen, dass aus ihnen keine Störungen zu erwarten seien. Immerhin wurde aber Protest gegen die Demonstration in Sicht- und Hörweite ermöglicht – und dieser war auch gut auf der Demonstration wahrzunehmen.
Das Neonazi-Klassentreffen
Für die Neonazis ist der „Gedenkmarsch“ in Dresden ein Klassentreffen, zu dem gewaltbereite Rechtsextreme aus ganz Deutschland anreisen, plus „Kamerad*innen“ aus dem europäischen Ausland. Deshalb sind auch die Wartezeiten vor Demonstrationsbeginn für die Szene kein Problem, sondern ein Bonus: Es sind Vernetzungstreffen der demokratiefeindlichsten und gewaltbereitesten Teile der rechtsextremen Szene. Szenegrößen wie Thorsten Heise (NPD, Freie Kräfte), Alexander Depotalla (Kampf der Nibelungen), Michael Brück (Ex-Die Rechte, Ex-Der III. Weg, heute „Freie Sachsen“) werden umschwärmt wie Stars. NPD-Medienmacher Peter Schreiber steht dagegen oft alleine da, dabei sind auch andere NPDler da, etwas René Despang oder Stefan Köster. Viele sehr junge Neonazis trugen ihre Zugehörigkeit zum „III. Weg“ mit Mützen – und vermummenden Schals – zur Schau, aber auch zur lokalen rechtsextermen Kampfsportszene oder völkische Bekleidung, die vor allem bei den wenigen weiblichen Teilnehmer*innen beliebt waren. Auch die Anzahl von in Gesicht oder im Halsbereich sichtbaren Runen-Tattoos dürfte lang nicht mehr so hoch gewesen sein wie hier. Schwarz-weiß-rote Accessoires, Wikinger-Anleihen und „Thor Steinar“- oder „Ansgar Aryan“-Bekleidung zeigen die Beständigkeit rechtsextremer Bekleidungstrends.
Die Frage, wie die „Freien Sachsen“ sich zum Neonazi-Aufmarsch positionieren würden, lässt sich derweil mit „offensiv“ beantworten: Die Partei, die sich während der Coronavirus-Pandemie aus verschwörungsideologisch mobilisierten Demokratiefeind*innen und offenen Rechtsextremen gründete, war beim Aufmarsch mit eigenen Banner dabei, und zeigte damit, dass sie keine Angst vor der öffentlichen Identifikation mit Neonazis hat. Was allerdings bei drei Neonazis in der Führung auch nicht wirklich verblüffend ist. Auf die führenden Köpfe der Thüringer Coronaproteste, Christian Klar und Frank Haußner, nahmen an der Demonstration teil. Ebenfalls anwesend von „Die Rechte“: Sven Skoda und Sascha Krolzig. Aus dem Spektrum der „Identitären Bewegung“ waren wenig Protagonisten zugegen – allerdings liefen die IB-nahen „Rapper“ Kai Naggert („Prototyp“), „Kavalier“ und „Alva“ im Zug mit.
Um den Schein eines „Trauermarsches“ zu wahren, sollten nur schwarze Fahnen mitgeführt werden – es sei denn, man komme aus einem anderen Land. Holocaustleugner Reza Begi nimmt mit einer iranischen Fahne an der Demonstration teil – vorerst wohl einer seiner letzten Auftritte, sein Haftantritt steht kurz bevor.
Außerdem ist eine russische Fahne zu sehen, und Teilnehmer tragen eine schwarze, französischsprachige Fahne. Mit Statement sind ein Vertreter des „Nationalen Widerstands Böhmen“ aus Tschechien und ein Vertreter der italienischen Neonazis von „Casa Pound“ angereist: Sie sprechen in der Abschlussrunde, zusammen mit NPD-Urgestein und „Ring Nationaler Frauen (RNF)“-Aktivistin Edda Schmidt.
Problem „Alternativmedien“
Währenddessen filmten und knipsten Streamer und „Alternativmedien“-Macher wie „Volkslehrer“ und Holocaustleugner Nikolai Nerling, Nele Schier alias Emma Stabel (diesmal fürs Compact-Magazin aktiv statt für „Deutsche Stimme TV“), Sebastian W. alias „Weichreite TV“ aus Sachsen, Claus Cremer (NPD NRW) oder Aktivisten von „Balaclava Graphics“ oder den „Jungen Nationalisten“, was die Akkus hergaben. Diese szeneeigenen „Medienmacher*innen“ erwiesen sich auch als ein praktisches Problem: Obwohl sie statt Presseausweisen eher selbstgebastelte „Presse“-Binden vorzuweisen hatten, versuchte die Polizei nicht wirklich, sie von beruflich anwesenden nicht-rechten Journalist*innen zu trennen. Immer wieder konnten Menschen mit Filmequipement in der Hand die Demonstration verlassen – was sie unter anderem nutzen, um Pressevertreter*innen und Gegendemonstrant*innen abzufilmen. Nikolai Nehrling musste deshalb immerhin seine Personalien bei der Polizei abgeben, weil diese sicherstellen will, dass er seine Aufnahmen von Passtant*innen nicht gegen deren Willen veröffentliche.
Polizei gegen die Nazi-Demo
Tatsächlich gab es während der Demonstration für die Polizei einiges zu tun. Aber immerhin waren praktisch ja auch 2 Polizisten pro Teilnehmer*in anwesend, bei 1.900 Polizist*innen auf 1.000 Neonazis. Als der Zug sich gerade formiert hatte und loslaufen wollte, gab es einen Stopp: Verhaftung von Alfred Schaeffer (68), der einen Tag zuvor einen Vortrag aus Dresden gestreamt hatte, in dem er den Holocaust geleugnet hatte. Aus der Demonstration ging es für Schaeffer in Gewahrsam. Noch mehrfach wurde der Aufzug zwischen Dresden Hauptstadt und Dresden Bahnhof Mitte gestoppt: Weil Teilnehmer*innen sich mit Quartzsandhandschuhen bewaffnet hatten oder Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen trugen. Gegen sechs Teilnehmer*innen zwischen 21 und 51 Jahren wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Auch bei den Gegendemonstrationen gab es Polizeieinsätze. Mehrere Blockaden wurden geräumt, ein Durchbruchsversuch am Dippoldiswalder Platz wurde verhindert. Gegen einen 18-Jährigen wird ermittelt, der einen Stein auf Polizisten geworfen haben soll, der aber niemand verletzt hat.Weitere Verfahren gibt es wegen Verstößen gegen des Versammlungsgesetzes und Beleidigung.
Und inhaltlich?
Ein Wort nicht mehr verwenden zu dürfen, führt auf einer Neonazi-Demonstration natürlich nicht zu sinnvolleren Plakatbeiträgen. Besonders unangenehm fielen dabei die „Junge Nationalisten“ auf, die Jugendorganisation der NPD, die ein Zitat von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels spazieren trugen („Unsere Mauern brachen, aber nicht unsere Herzen“). Aber nicht allein: Ein Banner der Gruppe „Balaclava Graphics“ trug ihn sehr ähnlich.
Ein weiteres unsägliches Plakat, das als „Absender“ die offizielle Website des Marsches aufführt, verkündet: „Dresden 1945. 350.000 aus purem Hass ermordet!“ Hierbei stimmt weder die Opferzahl – es waren rund 20.000 Menschen, die in Dresden umkamen – noch die Argumentation. Denn Bomben fielen auf Deutschland nicht „aus purem Hass“, sondern weil Deutschland unter Hitler nicht nur 6 Millionen Juden ermordet hatte, sondern auch einen aggressiven Angriffskrieg gegen die Welt führte, der insgesamt rund 70 Millionen Menschen das Leben kostete. Aber Täter-Opfer-Umkehr war schon immer das Pfund, mit dem Neonazis in Dresden zu wuchern suchten. Sie ist in Dresden besonders anschlussfähig, weil in vielen Dresdner Familien die Leidensgeschichten der ausgebombten Menschen tradiert werden, ohne dabei auch nur nach ihrer Beteiligung an den Gräueln des Nationalsozialismus zu fragen.
Ein anderer Ausdruck dieser Narration: Teilnehmer*innen, die auf dem „Gedenkmarsch“ mit weißen Rosen mitlaufen – als Provokation und zur Täter-Opfer-Umkehr geeignet, weil damit die „Weiße Rose“, die als Name einer Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus zu Symbol wurde, für das Tätervolk umgedeutet werden soll. Tatsächlich gefällt auch den Organisatoren des Marsches das Symbol, sodass es offiziell auf Plakate gedruckt wird und auch als Pin erhältlich ist, den viele Teilnehmer*innen tragen.
Fazit
800 Neonazis beim Gedenkmarsch in Dresden stellen keine Steigerung zum letzten Jahr da, sind aber immer noch 800 Neonazis zu viel. Die Stadt lässt sie das Recht auf Demonstration missbrauchen, um einen Vernetzungsort für die gewaltbereitesten und demokratiefeindlichsten Teile der Szene zu schaffen – sogar mit internationaler Vernetzung. Dabei sind Holocaustleugnungen und Holocaustrelativierungen sowie die Zurschaustellung rechtsextremer Symbolik an der Tagesordnung, was zusammen bereits eine gute Grundlage dafür geben würde, die Legitimität der Veranstaltung anzuzweifeln. Noch zwei Jahre, dann ist zum 80. Jahrestag der Bombardierung vermutlich wieder eine Großmobilisierung zu erwarten. Die Stadt Dresden täte gut daran, an juristischen Argumentationen zu arbeiten, solche Neonazi-Klassentreffen zu untersagen oder zumindest so unangenehm wie möglich zu machen.