Der Radrennfahrer Josef „Sepp“ Dinkelkamp, enger Freund Albert Richters, in einem Brief an Richters Eltern: „Gerne bestätige ich Ihnen, dass Albert ein Antinazi war. Schon lange Zeit vor dem Kriege sah er das Treiben und die Machenschaften dieser Verbrecherbande, so nannte Albert die Nazis. (…) Hätte er mit den Nazis mitgemacht, wäre es für ihn von großem Vorteil gewesen. Albert wählte den anderen Weg.“
Das war denn doch eine kleine Überraschung: Ausgerechnet am symbolträchtigen 9. November 2021 beschloss der Kölner Stadtrat nahezu einstimmig, das Kölner Radstadion nach dem von den Nazis ermordeten Kölner Radsportler Albert Richter und den Platz davor nach seinem jüdischen Freund und Trainer Ernst Berliner zu benennen. Die Umbenennung des Platzes hatte die zuständige Bezirksvertretung Lindenthal bereits eine Woche zuvor beschlossen.
Vorangegangen war dem ein Bürgerantrag einer kleinen Initiative von Kölner Lokalpolitikern und Radsportbegeisterten: Diese seit Jahrzehnten um die Rehabilitation der Radsportler und Widerständler Richter und Berliner Engagierten hatte sich im Januar 2021 mit einer politischen Initiative an die Öffentlichkeit gewandt, die Namensumbenennung des Radstadions nach Albert Richter endlich umzusetzen. Flankiert wurde dies durch eine Unterschriftenliste.
Diese Initiative war von großer politischer Klugheit geprägt, benennen gemeinhin Städte und Sportstättenbetreiber ihre Sportstadien gerne nach kommerziellen Sponsoren, um ein paar Euro hinzu zu verdienen. So ist das Stadion des 1. FC Köln nicht nach Wolfgang Overath benannt, sondern trägt mit Rheinenergiestadion einen fußballerisch eher irritierenden, dafür aber auf einen Sponsor verweisenden Namen. Eine Werbung für den Kölner Fußball selbst ist der Name auf jeden Fall nicht.
Der Antrag auf die Namensumbenennung in Albert-Richter-Velodrom war von besagter Bürgerinitiative beim Stadtrat als eigenständiger Bürgerantrag eingereicht worden. Nun ist es beschlossen, und das ausgerechnet am 9.November.
Das lange Verschweigen des Mordes
Ein halbes Jahrhundert lang waren sie in Köln vergessen: Der in der Nacht zum 3.1.1940 in Lörracher Gestapohaft von den Nationalsozialisten ermordete Köln-Ehrenfelder Radrennfahrer Albert „Teddy“ Richter – ein international renommiertes Ausnahmetalent – und sein jüdischer Trainer Ernst Berliner, selbst 1912 Kölner Stadtmeister auf der Köln-Lindenthaler Stadtwaldbahn: „Sein Name ist für alle Zeiten in unseren Reihen gelöscht“ hatte die freiwillig gleichgeschaltete Zeitung des Radsportverbandes kurz nach der Ermordung Richters frohlockt. Es folgten immer neue Variationen der Tatumkehrung und Vertuschung, um die Ermordung Albert Richters durch die Gestapo – denn von Mord sollten wir ab heute nur noch sprechen – zu verleugnen.
Trotz aller Vertuschungsversuche der Nationalsozialisten und der gleichgeschalteten Radsportler: Eine Woche später, am 10.1.1940, versammelten sich 200 Menschen am Köln-Lindenthaler Friedhof, um des 27-Jährigen Radsportgenies und überzeugten Antifaschisten Albert „Teddy“ Richter zu gedenken. Danach folgte ein langes Vergessen, das nur einer nicht hinzunehmen bereit war: Sein jüdischer Trainer Ernst Berliner.
Nachdem Berliners Strafanzeige aus dem Jahr 1966 wegen der Ermordung seines Freundes ein Jahr später ohne Schuldspruch eingestellt worden war – der 75-jährige Jude Berliner war hierzu extra noch einmal aus den USA in die ihm fremd gewordene ehemalige Heimatstadt Köln gereist – hatte der deutsche Täterschutz und das Schweigen endgültig in Köln gewonnen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der deutschen Rennradfahrerszene.
Erst Ende der 1980er Jahre begann das Verschweigen auch innerhalb der Radfahrerszene zu bröckeln: Raimund Weber & Tillmann Scholl legten 1989 ihre tiefgründige filmische Rekonstruktion Auf der Suche nach Albert Richter – Radrennfahrer (NDR) vor, in der auch das aufschlussreiche Interview mit dem Ehepaar Steffes eingebaut war; Peter Steffes war ein fünf Jahre älterer Kollege Albert Richters. In diesen Jahren begannen auch Renate Franz und Andreas Hupke in Köln mit ihren Recherchen zum Schicksal Richters, das in ihrer Richter-Biografie mündete. Hupke, seit 2004 Grüner Bezirksbürgermeister der Kölner Innenstadt, ist bis heute sein Entsetzen über die Wucht der Verleugnungsstrategien innerhalb der seinerzeit tonangebenden sozialdemokratischen Community wie auch der Konservativen in Köln nicht losgeworden: Man bezichtigte ausgerechnet ihn, den Fragenden und die Ermordung Richters nicht Akzeptierenden, den mit moralischem Grundempfinden Ausgestatteten, ein „Störenfried“, ein Unruhestifter zu sein, den „nationalen Frieden“ zu stören – eine Grunderfahrung, der Peter Finkelgruens verstörenden Erfahrungen in seinem Jahrzehnte langen Kampf um die Rehabilitation der Kölner Edelweißpiraten entsprach: Als Jude und Journalist hatte Finkelgruen ab Mitte der 1970er Jahre und als Erster versucht, das Schicksal der Kölner Widerständler und Edelweißpiraten, insbesondere der am 10.11.1944 in Köln-Ehrenfeld öffentlich hingerichteten Edelweißpiraten, journalistisch aufzuarbeiten. Finkelgruen stieß in Köln nur auf Schweigen, auf Kriminalisierungsversuche und auf Angriffe gegen ihn selbst – ein Schweigen, das noch ein Viertel Jahrhundert lang anhalten sollte.
Eine verleugnende Namensgebung
1990 war mit dem Bau des Müngersdorfer Radstadions in Köln begonnen worden, 1996 wurde dieses mit den 110. Deutschen Bahnmeisterschaften eröffnet. Im gleichen Jahr wurde die Rennbahn innerhalb des Radstadion auf Initiative von Franz und Hupke nach Albert Richter benannt – jedoch nicht das Stadion selbst. Es war ein „Kompromiss“, der eher peinlich für alle Beteiligten war und mehr Verleugnung als Anerkennung des Verbrechens zum Ausdruck brachte. Das Unbewusste, die verleugnete Schuld, der Triumph der Tätergeneration hatte ein weiteres Mal gesiegt. Die Opfer, insbesondere die jüdischen Opfer blieben die Ausgestoßenen.
Ab dem Jahr 2017 wurde in mehreren Zeitungsbeiträgen an Richters und Berliners Schicksal erinnert. Der öffentliche Druck stieg. Am 2.1.2020 wurde von 140 Menschen, hauptsächlich Radrennfahrern, in Köln-Ehrenfeld des 80. Todestages des antifaschistischen Kölner Radrennfahrers Albert „Teddy“ Richter gedacht, der Ernst Berliner gewidmete Film Tigersprung wurde gezeigt.
Und Ende Januar 2021 veröffentlichten Aktivisten des Autonomen Zentrums Köln (AZ) einen selbstgedrehten Kurzfilm, in dem sie sich, mit einem eigenen großformatigen Transparent, für die Umbenennung des Kölner Radstadions nach dem Antifaschisten Albert Richter sowie für die Benennung der Platzes vor dem Radstadion nach Ernst Berliner einsetzten:
Ende 2020 wurde von der NRW-Landesregierung und von der Stadt Köln beschlossen, das Kölner Radstadion bis 2025 umfassend zu modernisieren und es in ein, auch für andere Sportarten nutzbares, modernes Bahnradsportzentrum umzubauen. Insgesamt sollen ca. 30 Millionen Euro in das Projekt fließen. Das war der Moment, als die kleine Unterstützergruppe im Frühjahr 2021 mit ihrem Antrag an den Kölner Stadtrat und einer begleitenden Kampagne in die Öffentlichkeit ging, um Albert Richters und Ernst Berliners öffentliche, sichtbare Rehabilitation durchzusetzen. Alle relevanten Parteien des Kölner Stadtrates schlossen sich bei der Abstimmung am 9.11.2021 dem Antrag an. Und bereits eine Woche zuvor hatte die zuständige Bezirksvertretung Köln-Lindenthal einstimmig den Antrag beschlossen, den Platz vor dem Albert-Richter-Velodrom nach dem vertriebenen Kölner Juden Ernst Berliner zu benennen.
Der in den USA geborene und dort lebende Enkel von Ernst Berliner, Samuel Alter, reagierte in einer Mail an die Initiativgruppe am 12.11.2021 mit großer Freude auf die Stadtratsentscheidung und signalisierte auch seine Bereitschaft, sich 2024 an einer Einweihungsveranstaltung zu beteiligen.
„Bewundert, beneidet, totgeschwiegen“
Vielleicht noch bemerkenswerter: 2021 erstellten Nele Platten und Leon Küsche, Schüler einer 9. Klasse eines Kölner Gymnasiums, den bemerkenswerten Film Bewundert, beneidet, totgeschwiegen – Albert Richter, der Bahnrad-Weltmeister. Als sie mit der Arbeit begannen waren beide 14 Jahre alt. Sie recherchierten sorgfältig und arbeiteten hierbei umfangreiches Bild- und Filmmaterial ein, so auch den 1989er NDR-Film von Weber & Scholl (Kaufhold 2020, 2021c, d).
Sie reichten ihren Film beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ein. Im Juni 2021 wurde dieser mit einem Landespreis ausgezeichnet. Nun ist der Film auch in der Bundesrunde, die Entscheidung steht noch aus.
Der in Renovierung befindliche Platz vor dem Albert-Richter-Velodrom ist bereits jetzt rechtsgültig nach Ernst Berliner benannt worden, das Straßenschild folgt demnächst. Voraussichtlich 2024, nach Abschluss der Ausbauarbeiten, wird das Albert-Richter-Velodrom endgültig auch für die Öffentlichkeit nach Albert Richter benannt.
Beide leben schon lange nicht mehr. „Es ist ein großer Verlust für Sie, auf Albert jetzt verzichten zu müssen“, hatte der Emigrant und Jude Ernst Berliner nach dem Krieg an die in Köln gebliebenen Eltern seines Schützlings Albert Richter geschrieben. Es sei aber „auch ein großer Verlust für Deutschland, ich meine für das freie neue Deutschland, denn keiner anderer als Ihr Sohn Albert wäre berufener gewesen, die sportlichen Beziehungen international wieder herzustellen.“ Man werde, so fügte der Amerikaner Ernst Berliner abschließend hinzu, „seine freie, antifaschistische Auffassung zu würdigen“ verstehen.
Nun sind Ernst Berliner und Albert Teddy Richter wieder vereint, zwar tot, aber doch zumindest am gleichen Ort, und auch ein klein wenig in der kollektiven Erinnerung. Trotz alledem.
Dieser Text ist zuert in einer längeren Version auf Hagalil erschienen.