Über die Vertreibung jüdischer Psychoanalytiker in der Zeit des Nationalsozialismus ist in den vergangenen 50 Jahren scheinbar viel publiziert worden. Vereinzelt wurde auch an von Deutschen ermordete Psychoanalytiker erinnert. Der Umstand, dass sie als Juden verfolgt und aus ihrer ehemaligen Heimat vertrieben wurden, nicht als Psychoanalytiker, wurde überwiegend verleugnet.
Sie erfuhren während ihrer Vertreibung nahezu keine Unterstützung durch ihre nicht-jüdischen Kolleg:innen, was bisher innerhalb ihrer Standeszunft weitgehend unbekannt war – oder „erinnerungspolitisch“ in Abrede gestellt wurde. An ihre Erfahrungen der Entrechtung und der mangelnden Solidarität durch ihre nicht bedrohten Kollegen wird in einer neuen, umfangreichen Studie (Kaufhold & Hristeva 2021) in umfassender Weise erinnert. Wir bieten hier eine Kurzversion dieser Erinnerung.
Bereits im Herbst 1945, wenige Monate nach Kriegsende, waren deutsche Tageszeitungen angefüllt mit unverhüllten Drohungen, dass das Sprechen über die deutschen Verbrechen bei den Deutschen den Antisemitismus hervorrufen könne. Man müsse unverzüglich damit aufhören, wenn man nicht eine „neue“ Welle des Antisemitismus „provozieren“ wolle, hieß es drohend. Bevor das „Erinnern“ überhaupt hatte einsetzen können, hatte der Wunsch, die Verbrechen, die Toten zu leugnen, seine Stimme erhoben.
Innerhalb der psychoanalytischen Szene – und nur hiervon ist in diesem Beitrag die Rede – gehörte der Soziologe Helmut Dahmer zu den Ersten, die das „kollektive Schweigen“ durchbrachen – 34 Jahre nach der Shoah. „‚Holocaust‘ und die Amnesie“ betitelte er 1979 einen Beitrag. Über die von den Deutschen mit Billigung ihrer nicht-jüdischen Kolleg:innen vertriebenen jüdischen Kollegen wusste man 1979 nahezu nichts. Es war, als hätte sie die Erde verschluckt – dabei lebte die Mehrzahl von ihnen in den USA oder in Israel. Die Namen der ermordeten Kollegen waren vollständig vergessen.
Selbst die Namen der an Widerstandsaktionen beteiligten bzw. mit dem Anpassungskurs an die Nationalsozialisten nicht einverstandenen Psychoanalytiker:innen waren vollständig unbekannt. „Drei Jahrzehnte ‚Vergangenheitsbewältigung‘ sind wie nie gewesen“, konstatierte Dahmer.
Als Juden wurden sie verfolgt, nicht als Psychoanalytiker
In Wien, Anfang des 20. Jahrhunderts Zentrum der psychoanalytischen Bewegung – 147 der 150 Wiener Psychoanalytiker:innen waren Juden, Sigmund Freud selbst bekanntlich gleichfalls – hatte es bereits vor 20 Jahren innerhalb der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) eine Debatte gegeben: Sollte die WPV im Namen von Verfolgten Entschädigungsgelder annehmen? Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde dies 2003 abgelehnt. Man wollte sich nicht, Schuld entladend und selbstaufwertend, auf die Seite von Opfern stellen. Psychoanalytiker:innen waren sehr eindeutig nicht Opfer des Nationalsozialismus. Juden und Jüdinnen waren zu Millionen wehrlose Opfer. Einige Wenige von ihnen waren auch Psychoanalytiker. Verfolgt wurden diese jedoch nicht wegen ihrer psychoanalytischen Lehre – mit der Ausnahme des kämpferische Antifaschisten Wilhelm Reich sowie einiger antifaschistisch orientierten Psychoanalytiker:innen wie etwa Adolf Josef Storfer, Rudolf Ekstein, Ernst Federn, Edith Buxbaum und Edith Jacobson.
In Berlin, wo der Ausschluss – der als ein „freiwilliger“ Ausschluss in Szene gesetzt wurde – der jüdischen Analytiker:innen in umfassender Weise vollzogen wurde, wird erinnerungspolitisch „anders“ verfahren. Es wird dort an ehemals verfolgte, aus Deutschland vertriebene jüdische Psychoanalytiker:innen erinnert – jedoch in einer Weise, die sehr unangenehm berühren könnte: Es wurden an zahlreichen früheren Wohnhäusern emigrierter Psychoanalytiker:innen Gedenktafeln angebracht. So wurde insinuiert, dass diese als Psychoanalytiker:innen verfolgt worden seien – und nicht als Juden und Jüdinnen bzw., in wenigen Fällen, als Widerständler:innen. Der Psychoanalysehistoriker Andreas Peglau hat jedoch in umfänglicher Weise belegt, dass dies eine schlichte, selbstentlastende Illusionsbildung ist: Mit Ausnahme des Juden und Widerständlers Wilhelm Reich sowie Edith Jacobsons wurde kein:e Psychoanalytiker:in in Berlin wegen seiner oder ihrer psychoanalytischen Ausbildung verfolgt. Als Juden und Jüdinnen wurden sie verfolgt, nicht als Psychoanalytiker:innen.
Und durchaus nicht wenige ihrer konservativen, nicht-jüdischen Kolleg:innen – darunter Böhm und Müller-Braunschweig – betrieben in den 1930er Jahren und danach „systemtreue“ Standespolitik. Diese lief in der Praxis darauf hinaus, Juden und Jüdinnen aus den Institutionen hinauszudrängen. Deren Verfolgung und Vertreibung – ca. 30, vor allem osteuropäische jüdische Psychoanalytiker:innen und Widerständler:innen wurden ermordet, ihr Leben endete in Auschwitz, in Theresienstadt und in weiteren deutschen Vernichtungslagern – wurde als ein notwendiges Übel betrachtet, um die Psychoanalyse zu retten. Gerettet wurde hierdurch jedoch rein gar nichts – nur der geschichtsverleugnende Mythos der angeblich widerständigen Psychoanalyse lebte in der nicht-jüdischen deutschen Psychoanalyseszene für Jahrzehnte fort. Gelegentlich wird dieses Mantra bis heute fortgeschrieben.
Solidarität von nicht-jüdischen Analytiker:innen mit ihren jüdischen Kolleg:innen
Es gab in Wien und Berlin Psychoanalytiker:innen, die aus Solidarität mit ihren jüdischen Kolleg:innen emigrierten. Die bekanntesten von ihnen waren der Wiener Richard Sterba und die Kinderanalytikerin Editha Sterba. Richard Sterba hatte bei Wilhelm Reich seine Analyse gemacht. In seiner Autobiografie von 1985 hat er seine damalige Lebenssituation und den Versuch, ihn zum „arischen“ Nachfolger Freuds in Wien zu machen, eindrücklich beschrieben. Felix Böhm wollte den Nicht-Juden Sterba dazu nötigen, in Berlin beim inzwischen von allen Juden gereinigten Vorstand eine vergleichbare Rolle zu spielen wie er – der Nicht-Jude Böhm – in Wien. Sterba lehnte ab – und emigrierte aus Solidarität in die USA. Die Psychoanalytikerin Eva Rosenfeld emigrierte 1936 nach England. Im gleichen Jahr bemerkte sie zu den „freiwilligen“ Austritten ihrer jüdischen Kolleginnen aus den psychoanalytischen Standesorganisationen, dass dieser aus einer Zwangslage erwachsen sei, die man „innerlich ablehnen“ müsse. Man könne nicht „freiwillig“ austreten, das sei so, „wie, wenn man sich selbst freiwillig hinrichten müsste.“
Ein hierzulande vollständig aus dem Standesgedächtnis gelöschter Psychoanalytiker war der Berliner Bernhard Kamm (1899-1991). Kamm trat 1935 aus Solidarität mit seinen jüdischen Kolleg:innen aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschafft (DPG) aus und emigrierte Ende 1935 nach Topeka, USA. In Nazideutschland sah er seine professionelle Identität als Psychoanalytiker gefährdet. Zu einem Verrat an seinen jüdischen Kolleg:innen war er nicht bereit. Lieber verließ er Nazideutschland – obwohl er als Nicht-Jude nicht persönlich bedroht war. Bis zu seinem Tode wurde an Kamm in der deutschen Fachliteratur nirgends erinnert. Mit seiner Emigration war er unter deutschen Analytikern ausgelöscht, bis zu seinem Tode 1991.
„There is no such thing as a good analyst in murderous surroundings”
Eine weitere bekannte, im Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagierte Psychoanalytikerin war die Berlinerin Käthe Dräger (1900-1974). Als sie 1971 als Zeitzeugin einen Fachaufsatz zum Thema „Psychoanalyse und Psychotherapie in Deutschland zwischen 1933 und 1949“ veröffentlichte, erwähnte sie als Erste ihren freiwillig emigrierten, solidarischen Kollegen Kamm. Ihre eigene mutige Widerstandstätigkeit als Kommunistin verschwieg Dräger jedoch weiterhin, auch noch 1971. Offenkundig war ihre Angst zu groß, wegen ihres antifaschistischen Mutes weiterhin standespolitisch sanktioniert zu werden.
Dieser teils bis heute anhaltende Prozess der gesellschaftlichen Ausschließung gerade der antifaschistischen, sich dem kollektiven Antisemitismus widersetzenden mutigen Minorität ist keineswegs auf den Bereich der Psychoanalyse beschränkt. Er ist in vielen gesellschaftlichen Ebenen nachgezeichnet worden, erinnert sei an das Beispiel der „unangepassten“, widerständigen Edelweißpiraten. In der englischsprachigen Literatur hingegen wurde an den Mut von Kamm und weiteren solidarischen Kollegen wie Grotjahn, Sterba, Jacobson und Buxbaum erinnert. So erwähnt Hans Reijzer in einer Studie Kamm und Grotjahn und betont: „There was one thing that the analysts did not understand but which was grasped by their colleague Bernhard Kamm: there is no such thing as a good analyst in murderous surroundings“ .
Als weitere mit ihren vertriebenen jüdischen Kollegen solidarische Psychoanalytiker seien Martin Grotjahn, Marie Langer, Karl Motesiczky, Edith Jacobson, Ella Lingens und Adolf Josef Storfer erwähnt. Die Niederländerin Jeanne Lampl-de Groot (1895-1987) war eng mit ihrer Kollegin Anna Freud befreundet. Der über 80-jährige, krebskranke Freud, der gegenüber der Gefahr des Nationalsozialismus eine ambivalente Position hatte, hoffte, friedlich in Wien sterben zu können und fand gegenüber seiner niederländischen Kollegin doch einmal deutliche Worte: Sie seien „alle gespannt darauf“, schrieb er ihr, „was aus dem Programm des Reichskanzlers Hitler“ werde, dessen „einziger positiver Punkt ja die Judenhetze ist“.
Der junge Rudolf Ekstein (1912-2005), zuerst bei den Sozialdemokraten und danach bei den Kommunisten und deren Jugendorganisation aktiv, erlebte das politische Scheitern auch der Wiener Partei-Kommunisten: Als er 1937 einen an Reichs Schriften orientierten Beitrag für ein Magazin der illegalisierten Kommunistischen Jugendorganisation verfasste, warfen diese den mutigen Antifaschisten sogleich aus ihrer Organisation hinaus. Sie verdächtigten den Ekstein, wegen dessen Solidarität zu Reich, in stalinistischer Tradition des „Trotzkismus“ – ein Verdammungsurteil, in dem sich der Stalinismus bereits in seinen totalitären Grundzügen zeigte. Ekstein emigrierte 1938 in die USA und war für immer gegen totalitäre linke Ideologien immunisiert.
Die im russischen Kaiserreich geborenen jüdischen Psychoanalytikerin Salomea Kempner (1880-1940) wurde als „ausländischer Jüdin“ eine Weiterbeschäftigung an der Berliner Poliklinik untersagt. Der nun arische Vorstand der DPG verlangte auch von ihr einen „freiwilligen“ Austritt. Die jüdischen Kolleg:innen verkörperten nun die Gefahr, und nicht so sehr die Nationalsozialisten. Kempner verweigerte die Emigration, trotz ihrer zunehmenden Bedrohung und wurde in das Warschauer Ghetto verschleppt, wo sie 1943 verstarb. Sie blieb über Jahrzehnte unter ihren nicht-jüdischen Kollegen „vergessen“, ausgelöscht, wie auch der Antifaschist und Psychoanalytiker Karl Landauer (1887-1945): Der jüdische Arzt machte bei Freud eine Analyse, floh 1933 nach Amsterdam, wo er als Psychoanalytiker zu arbeiten vermochte. Auch im Exil schrieb er über Reichs Massenpsychologie des Faschismus. 1942 erhielt er im von den Deutschen besetzten Amsterdam als Jude Berufsverbot. Er wurde nach Bergen–Belsen verschleppt, wo er im Januar 1945 an Hunger verstarb.
Der jüdische Psychoanalytiker August Watermann (1890-1944) floh 1933 in die Niederlande. Er und seine Familie wurden Anfang 1944 in das KZ Theresienstadt und von dort nach Auschwitz verschleppt, wo sie 1944 ermordet wurden. Watermann blieb innerhalb der deutschen psychoanalytischen Szene ein Vergessener, wie auch sein jüdischer Kollege John F. Rittmeister (1898-1943): In Hamburg aufgewachsen, arbeitete er ab 1929 als Psychiater an der Züricher Klinik Burghölzli. Er wurde als Kommunist verdächtigt, ging 1938 trotz Warnungen nach Berlin. Er beteiligte sich an Hilfsaktionen für Juden und Jüdinnen, engagierte sich in antifaschistischen Widerstandsgruppen. 1942 wurde er Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. In einem Widerstandsflugblatt notierte er:
„Der Staat ist heute nichts als ein großer Apparat, der in die Hände einiger Ehrgeizig-Skrupelloser gefallen ist. (…) Wir retten uns und unser Land nur dann, wenn wir den Mut finden, uns in die Kampffront gegen Hitler einzureihen.“ 1942 wurde er als Widerständler inhaftiert und am 13. Mai 1943 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung“ in Berlin hingerichtet. Auch er blieb über Jahrzehnte vergessen.
Der österreichisch-israelische Psychoanalytiker Zvi Rix hatte in Palästina die hellsichtig-verzweifelte Formulierung geprägt: „Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!“ Dies ist die Hintergrundmatrix dieser Studie. Die meisten jüdischen Psychoanalytiker:innen, die emigrieren mussten und teils ermordet wurden, blieben Vergessene, Ausgeschlossene. Ihr größter Schmerz war wohl der Verrat, den die Mehrzahl ihrer früheren Kollegen an ihnen begangen hatten– durch Nötigung, Ausschließung und ein kollektives standespolitisches Vergessen. Jedes Erinnern ruft die Gegenkräfte der Leugnung und der projektiven Schuldentlastung hervor – wie an der Szene vom Herbst 1945 illustriert.
Die ausführliche Studie von Hristeva & Kaufhold ist in der Fachzeitschrift Psychoanalyse im Widerspruch (66/2021) erschienen:
Roland Kaufhold & Galina Hristeva (2021): »Das Leben ist aus. Abrechnung halten!« Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In. Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021 (Gießen: Psychosozial Verlag), S. 7 – 66.
Der Beitrag kann auch hier beim Psychosozial-Verlag als Einzelstudie erworben werden.
Bild oben: V. l.: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, © Psychosozial-Verlag & Roland Kaufhold, Hilde und Ernst Federn 1994, © Psychosozial Verlag & Marita Barthel-Rösing