Ein Interview der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt, Sachsen-Anhalt
Professor Eckert, die Bundesregierung erkennt derzeit 63 Todesopfer rechter Gewalt zwischen 1990 und 2013 an. Journalist_innen haben mindestens 153 Todesopfer recherchiert und unabhängige Initiativen gehen sogar von 182 Tötungsdelikten im gleichen Zeitraum aus.
Die Zahlen, die in den letzten 24 Jahren von den Staatsschutzabteilungen der Landeskriminalämter ermittelt, vom Bundeskriminalamt zusammengestellt und von der Bundesregierung bekanntgegeben wurden, sind meines Erachtens nicht realistisch. Wir haben bereits im Jahr 2001 im „1. Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung“ die höheren Zahlen der vom „Tagesspiegel“ und „Frankfurter Rundschau“ ermittelten Tötungsdelikte aufgenommen, anhand von einzelnen Fällen analysiert und den offiziellen Zahlen gegenübergestellt.
Wie kommt es dazu, dass sich in der Frage der Erfassung rechter Gewalt und ihrer tödlichen Dimension trotz aller Interventionen aus Wissenschaft, Medien und Beratungsprojekten seit 2001 kaum etwas bewegt hat?
Die „Hoheit“ über die Daten liegt nicht beim BKA und der Bundesregierung, sondern bei den Landeskriminalämtern. Diese verlassen sich wiederum auf die Statistiken der Staatsschutzabteilungen in den Polizeipräsidien. Nur bei offensichtlichen Unstimmigkeiten kann das BKA Rückfragen stellen. Es kann aber nicht die Zahlen verändern. Das Problem beginnt bereits bei denen, die vor Ort die Daten zusammenstellen. Hier gibt es eine Reihe von Unwägbarkeiten, die auch durch die Reform des Meldedienstes für politisch rechts motivierte Kriminalität (PMK-Rechts) im Jahre 2001 nicht behoben worden sind:
Der Meldedienst hebt auf die Motivation der Tat ab. Kein Tatverdächtiger ist jedoch verpflichtet, sich zu seiner Motivation zu äußern. Die Beamten müssen sich diese also in vielen Fällen aus den Tatumständen erschließen. Damit können aber durchaus unterschiedliche und mehrfache Motivationen vereinbar sein. Dadurch kommt es fast zwangsläufig zu einem größeren Ermessensspielraum. Beispielweise habe ich von Beamten immer wieder gehört, es habe sich in einigen Fällen um alkoholbedingte Schlägereien, Cliquenkonflikte, persönliche Rivalitäten oder Notwehr gehandelt. Es ist zu vermuten, dass diese Annahmen dann dazu führen, das überwiegende Motiv als „unpolitisch“ einzuordnen, selbst wenn Bezüge beispielsweise zu extrem rechten Milieus vorhanden sind.
Die Mehrdeutigkeit sowohl der Umstände als auch der Motivationen kann dann das Einfallstor für politische Opportunitäten sein. Kein Bürgermeister, keine Landesregierung hat ein Interesse daran, dass ihr Verantwortungsbereich als Schwerpunkt rechtsextremer und rassistischer Gewalt ín Erscheinung tritt. Von informellen Hinweisen, diesen Gesichtspunkt im Auge zu behalten, ist mir mehrfach berichtet worden. Aus diesem Grund hat der Beirat des „Bündnisses für Demokratie und Toleranz“ bereits im Jahr 2001 empfohlen, eine unabhängige Erfassungsstelle für einschlägige Gewaltdelikte z.B. beim Deutschen Institut für Menschenrechte einzurichten.
Ein weiteres Problem liegt in der Verantwortung der Gerichte. Bereits bei der Analyse der fremdenfeindlichen Gewalt in den frühen 1990er Jahren ist uns aufgefallen, dass Rassismus als Tatmotivation in der Begründung mancher Urteile auch dann kaum auftaucht, wenn das für uns offensichtlich erschien. Manche von mir befragte Richter meinen, dass die Urteilsbegründung sich auch an der Vermeidung von Revisionsgründen orientiert: Und in Zweifelsfällen wird die Unterstellung einer rassistischen Motivation in dieser Hinsicht als Risiko wahrgenommen.
Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat in seinen Abschlussbericht dringend empfohlen, dass Polizeibeamt_innen künftig Rassismus als Tatmotiv bei Gewalttaten gegen Migrant_innen, Schwarze Deutsche und Flüchtlinge von Anfang an mitermitteln sollen und dies auch dokumentieren müssen.
Um eine Veränderung der polizeilichen Praxis zu bewirken, wäre aus meiner Sicht die vom NSU-Untersuchungsausschuss dafür empfohlene Änderung der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) unbedingt sinnvoll.
Als eine weitere Konsequenz aus dem NSU-Komplex sollen nun durch die Länder und das BKA neben den schon bekannten Fällen tödlicher rechter Gewalt auch 745 Fälle von versuchten und vollendeten Tötungsdelikten seit 1990 überprüft werden, in denen es bislang keine Täter gibt. Was sollte dabei Ihrer Meinung nach beachtet werden?
Meine Empfehlung auf einer vom BKA organisierten Vorbereitungskonferenz im Mai 2012 war, sich erst einmal nicht an Definitionen, sondern an vielfältigen Indikatoren zu orientieren. Das BKA hat dann von den Ländern rund 4.000 offene Fälle übermittelt bekommen, die in einem ersten Durchgang auf 745 Fälle reduziert wurden, die nun überprüft werden sollen.
Ich gehe nach wie vor davon aus, dass am Ende die Definitionspraxis – also die Frage, wann eine Tat als politisch rechts motiviert eingestuft wird – selbst auf den Prüfstand muss. Hierfür stellt meines Erachtens die Prüfung der 745 Fälle eine große und einmalige Chance dar.
Sachsen-Anhalt hat dem BKA in diesem Zusammenhang 18 versuchte und 11 vollendete Tötungsdelikte zwischen 1990 und 2013 gemeldet, in denen es bislang keine Tatverdächtigen gibt. Die Zahlen anderer Bundesländer – wie beispielsweise Brandenburg, Thüringen oder Schleswig-Holstein – sind erheblich niedriger. Gibt es dafür eine Erklärung?
Um das zum jetzigen Zeitpunkt nachvollziehen zu können, müssten Bund und alle Länder die Fälle öffentlich machen – und das tun sie derzeit nicht. Es handelt sich hier ja um Fahndungs- und Verdachtsfälle, bei denen eine Anklageerhebung zumeist noch ausstehen dürfte. Dass sie in diesem Stadium nicht öffentlich gemacht werden könnten, kann meines Erachtens so pauschal nicht gesagt werden – das zeigt ja auch die Antwort auf die Kleine Anfrage von Sebastian Striegel durch die sachsen-anhaltinische Landesregierung dazu. Die öffentliche Bekanntmachung kann durchaus zur Aufklärung beitragen. Denn sonst dürfte es ja auch keine Fahndungsaufrufe oder Sendungen wie „Aktenzeichen XY“ geben. Welche Fälle und Details bekannt gegeben werden sollten, wäre aber im Einzelfall zu klären – und das kann dauern.
Grundsätzlich halte ich das erst einmal offene Vorgehen von BKA und LKÄs für sinnvoll. Gerade dadurch hat die „Journalistenliste“ gegenüber dem „polizeilichen Meldedienst“ ein aussagekräftigeres Ergebnis erzielt. Die Überarbeitung der Kriterien politisch motivierter Gewalt sollte meines Erachtens ein zweiter Schritt sein, der auf der Basis der bisher unbeachtet geblieben Fälle erfolgen sollte. Darin sehe ich die einmalige Chance: Weil dann Kriterien nicht nur daran gemessen werden können, was sie erfassen, sondern auch daran, was sie nicht erfassen.
Welche Opfergruppen dadurch am Ende in den Vordergrund gerückt werden, darüber könnte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur spekulieren. Eine Rolle spielen hier sicherlich neben „blinden Flecken“ im Auge der Strafverfolgungsbehörden auch die Anzeigebereitschaft und der Zugang der Opfer zu Polizei und Justiz.
Insgesamt sehe ich im Beschluss der Innenministerkonferenz, der zu dieser Prüfung geführt hat, ein erstes Anzeichen für eine Kurskorrektur und hoffe, dass es gelingt, diese flächendeckend durchzusetzen.
Dieses Interview erschien zunächst in den „informationen der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt“, Heft Nr. 45. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber*innen
Weitere Informationen:
Zwei rechte Angriffe pro Tag: Beratungsstellen veröffentlichen Statistiken für Ostdeutschland