2014 hatte ich eine – das gebe ich zu – ziemlich absurde Diskussion mit einer Kunstprofessorin darüber, ob Facebook gleich Faschismus sei. Sie war davon nicht abzubringen. Ihr Faschismusbegriff schien völlig aus den Fugen geraten. Aber in der Kunst-Bubble gibt es einige verquere Meinungen. Trotzdem erinnere mich in den letzten Tagen ab und zu an diese, der Selbstbeschreibung nach, linke Gesellschaftskritik. 2014 wurde die Krim annektiert, mit Soldaten unter falscher Flagge, einem „Referendum“, das den Namen nicht verdient, begleitet von einem achselzuckenden „man könne da ja nichts machen“ der restlichen Welt. Das war die Zeit, in denen mir liebe Menschen erklärten, die Krim gehöre ohnehin zu Russland. Die imperiale Logik und die Frage, was als nächsten kommen sollte, spielten bei Ihnen keine Rolle. Das hat sich seit dem russischen Angriffskrieg teilweise geändert. Aber manch andere aus einem friedensbewegten und antiwestlichen Milieu, das vor allem in den USA (und natürlich auch Israel) ein Übel sieht, assoziieren sich immer noch politisch und kulturell mit Russland.
Der Begriff „Filtrationslager“ erinnert an eine vergangene Ära
In einem ZDF-Beitrag vom 31. Mai 2022 berichtet Augenzeugin Irina aus Mariupol: „Viele Menschen wurden mit Säcken über dem Kopf, mit gefesselten Händen herausgeführt. Auch Frauen, auch Verwandte von mir. (…) Die Soldaten lasen ihre Telefone aus und fanden heraus, dass sie Bilder von dem ausgebrannten Haus auf Facebook posteten und drunter schrieben, dass dies das russische Militär war. Dafür kamen sie ins örtliche Gefängnis.“
Michael Carpenter, der US-Amerikanische OSZE-Botschafter, sagte gegenüber dem ZDF im gleichen Beitrag, dass eine sorgfältige Untersuchung dieser so genannten Filtrationslager dringend geboten sei. Der Begriff erinnere „an eine vergangene Ära erinnert, von der wir dachten, dass wir sie nie wieder erleben würden“, so Carpenter weiter.
Bisher ist nach russischer Lesart eine Ausgabe von russischen Pässen an Ukrainer*innen Teil einer großen „Einbürgerungskampagne“. Wie die Deutsche Welle (DW) Anfang Mai berichtete, betrifft dies „nicht allein Menschen in den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk“, sondern auch ihre Angehörigen, gleich, wo sie wohnen. Schon unmittelbar nach der Wahl des neuen ukrainischen Präsidenten im Jahr 2019, „bot der russische Präsident Wladimir Putin den Menschen in der Ost-Ukraine die russische Staatsbürgerschaft an“, so der Bericht der DW. Was von einigen Medien zunächst als „russische Pass-Strategie“ gerahmt wurde, wird nun durch die Einrichtung der sogenannten „Filtrationslager“ zu einem weiteren gewaltvollen Mittel des russischen Angriffskriegs.
Völkische Rhetorik
Der Krieges zielt direkt auf die Auslöschung des ukrainischen Staates. Und dennoch gibt es immer noch viele, gerade im Westen, die an diesem öffentlich geäußertem Ziel Putins zweifeln. Unter dem Vorwand eines angeblichen Massenmords an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine startetet der Kreml die von ihm so genannte „Spezialoperation“, wie der Angriffskrieg in Russland genannt wird. Bereits im September 2014 berichtete die italienische Zeitung La Repubblica von einer Äusserung Putins im Beisein von EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso: „Wenn ich will, kann ich Kiew in zwei Wochen einnehmen“. Putin ließ auch in der Folge keinen Zweifel daran, dass er das Gebiet der Ukraine als Teil seines imperialen Russlands sieht. Am 12. Juli 2021 schrieb Putin auf der Kreml-Webseite in einem Artikel mit dem Titel „On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“, dass Russen, Ukrainer, aber auch Belarussen „ein Volk“ seien. Die Existenz von russischen „Filtrationslager“ soll diese historischen Verdrehung durch zwangsweise Umsiedlungen und Lenkung von Flüchtlingswegen in Fakten umsetzten. Wassili Nebensja, der russischer UN-Botschafter, sprach hingegen von einem normalen Vorgehen, welches ukrainische Staatsbürger*innen bei der Flucht vor dem „ukrainischen Regime“ unterstütze. Die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, sagte vor dem UN-Sicherheitsrat, „Die anhaltenden Beschuldigungen über gewalttätige Vertreibung, Deportation und sogenannte ‚Filtrationslager‘ Russlands und angeschlossener lokaler Kräfte sind extrem beunruhigend“. Die Deportation von Bürger*innen aus besetzten Gebieten in die Gebiete des Besatzers Russland sei ein massiver Verstoß gegen die 4. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung. Bis September 2022 haben laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) über zwölf Millionen Menschen die Grenze aus der Ukraine in Folge des Krieges und aufgrund der Angriffe des russischen Militärs im Lande überschritten. Zudem ist der Tod von 5718 Zivilisten bestätigt und eine überaus höhere Dunkelziffer ist selbstverständlich anzunehmen.
Neues Ausmaß der Deportationslager
Berichte von Human Rights Watch New York und dem Humanitarian Research Lab der Yale Universität, haben in den letzten Tagen neues Licht auf das Ausmaß der „Filtrationslager“ und seine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung geworfen. Damit werden Beweise für russische Kriegsverbrechen erhärtet, so Emma Gilligan, die Senior-Expertin des Büros für globale Strafjustiz des US-Außenministeriums (vgl. Washington Post) . Der Bericht von Human Rights Watch zeigt, wie der sogenannte „Filtrierungsprozess“ durch eine „massenhafte illegale Datensammlung“ über ukrainische Bürger*innen umgesetzt wird. Die Washington Post hatte bereits Ende Mai von einem solchen Lager aus Mariupol berichtet. Eine Betroffene beschrieb, wie sie zusammen mit 90 anderen Menschen in ein riesiges Militärzelt gebracht wurde, in dem nacheinander Zivilist*innen aufgerufen wurden, die die Soldaten „vorübergehend Vertriebene“ nannten. Tausende wurden hier von allen Seiten fotografiert und es wurden Fingerabdrücke genommen. Sie wurden aufgefordert, ihre Telefone und Passwörter an Beamte zu übergeben, die dann ihre Daten einschließlich ihrer Telefonkontakte in ihre Computer eingaben. Der nächste Schritt war das Verhör. Seit Monaten berichten Medien von dieser unter Zwang und Gewalt durchgeführten Praxis. Im Juni schreibt der Guardian von einer Frau, die sich an ihr Verhör erinnert. Sie erzählt von einem am Nebentisch befragten Mann, bei dem ein Schlüsselbund mit dem ukrainischen Wappen gefunden wurde. Vier Wachen schlugen den Mann brutal mit Schlagstöcken und traten ihm gegen den Kopf, bevor sie ihn ohne Mantel bei Minustemperaturen nach draußen warfen. Die sogenannte „Filtration“ endet normalerweise auf drei Arten: Entweder die Zivilist*innen „bestehen“ die Vernehmung und erhalten ein kleines, gestempeltes Stück Papier mit dem Datum Ihrer „Filtration“, oder sie werden zur weiteren Befragung inhaftiert, oder sie werden nach Russland verbracht.
Die Erkenntnisse der Forscher*innen aus Yale
Laut dem Bericht vom 25. August des Humanitarian Research Lab der Yale Universität, der im wesentlichen Open-Source-Beweise zusammenträgt, kommen die Forscher*innen auch zu dem Schluss, dass einige Lager als Langzeithafteinrichtungen genutzt werden. So haben in der Wolnowacha-Strafvollzugskolonie Nr. 120 bei Oleniwka die „Filtrationsaktivitäten“ mindestens Ende März begonnen. Berichte von hier umfassen „überfüllte Zellen, unzureichende Liegeplätze, wenig oder keinen Zugang zu Wasser und hygienischen Einrichtungen, unzureichende und unregelmäßige Ernährung, Zwangsarbeit, Schläge und Folter“.
Der Bericht der Forscher*innen aus Yale bietet die Basis von erschütternden Erkenntnissen:
- Russland und mit Russland verbündete Streitkräfte betreiben mindestens 21 Einrichtungen im und um das Gebiet Donezk, die Teil eines Systems der „Filtration“ sind.
- In diesem System scheint es vier Arten von Einrichtungen zu geben. Beginnend mit der Registrierung, eine weitere für die Inhaftierung, Einrichtungen für Zweitverhöre und eine für die weitergehende Inhaftierung.
- in der Wolnowacha-Strafvollzugskolonie sind während zweier Zeiträume (Mitte und Ende Juli 2022) auffällige Unebenheiten des Bodens registriert worden. Hierbei kann es sich um Gräber handeln. Die Sichtungen passen mit Augenzeugenberichten zusammen, die das Ausheben von Gräbern auf dem Gelände beschreiben.
Kriegsverbrechen und neo-faschistische Agenda
Die Untersuchungen liefern starke Indizien für Kriegsverbrechen. Durch eine Explosion am 29. Juli wurden russischer Angaben zufolge im Lager mindestens 53 Kriegsgefangene getötet. Dabei handelte es sich vor allem um Kämpfer des Regiments Asow, von denen sich einige nach der Belagerung des Asow-Stahlwerks in russische Kriegsgefangenschaft begeben hatten. Die auffälligen Bodenunebenheiten sind bereits vor der Explosion auf Satellitenbildern zu sehen. Es gibt den begründeten Verdacht, dass es sich bei der Explosion auch um die Verschleierung eines Massenmords handeln könnte.
Der Kreml hat die Nutzung sogenannter „Filtrationslager“ zur Vertuschung von Fehlverhalten bestritten. Putin erklärte den völkerrechtswidrigen Feldzug gegen die Ukraine und ihre Menschen zu einem Präventivschlag zur Entnazifizierung des „Bruderstaates“. Wurde hierzulande noch über angeblich legitime Sicherheitsinteressen Moskaus gefachsimpelt, überzog Russland die Ukraine mit Bombardements und sendete Bodentruppen. Es ist die Durchsetzung eines blutigen neo-faschistischen, auf Vaterland und Vorherrschaft begründeten Imperialismus. Laut dem Ukrainischen Präsidenten Selenskyj waren Anfang Juni 20 Prozent der Ukraine von Russland besetzt. Nach 200 Tagen Krieg ist es nun der Ukraine gelungen, fast die gesamte Oblast Charkiw zurückzuerobern, wie die Zeit am 12. September berichtet.
Angst vor Eskalation
Wo wäre die Ukraine ohne ausländische Waffenhilfen? Man mag sich kaum vorstellen, wie der offene Brief, lanciert Ende April diesen Jahres von einigen Bekannten Persönlichkeiten und gerichtet an Bundeskanzler Scholz, bei jenen aufgenommen wird, deren Leben durch den realen russischen Angriffskrieg weiterhin in Gefahr ist. Das Appellieren an die „historische Verantwortung“, der Ruf nach Appeasement, die Angst vor Eskalation im Westen muss da wie Hohn klingen. Der Brief ist immer noch online. Bis dato haben ihn auf change.org 370.000 Menschen unterschrieben. Der Grund hierfür liegt mindestens bei zweierlei. Da ist der unerschütterliche Glaube daran, dass durch Appeasement dieser Krieg aufzuhalten wäre. Keine Waffenlieferungen, Stopp der Sanktionen und Gespräche sind das Credo, welches bereits jetzt links- und rechtsaußen verschwimmen lässt. Und natürlich ist da auch ein Eingeständnis von Angst, selbst vom Krieg und seinen Auswirkungen betroffen zu sein. Die Realpolitik ist darüber hinaus. Der Krieg hat schon jetzt etwas mit Ihnen und uns allen zu tun. In den baltischen Staaten oder in Polen wissen sie das schon länger und sprechen das auch aus.
Das hierzulande so viele Menschen nicht in der Lage sind, dies zu formulieren ist Realitätsflucht. Auf der Seite der Unterdrückten zu sein, ist eigentlich ein linker Evergreen, der nahezu überall dudelt, nur in diesem Fall gibt es Leute, die von legitimen russischen Sicherheitsinteressen und einer Mitverantwortung der USA, respektive der NATO reden, und damit die russischen Erzählungen affirmieren. Russland führt offene und viele verdeckte Kriege auf der ganzen Welt. Russland stiftet Chaos als Mittel, das Bedeutung und Einfluss schafft.
Der Druck auf Westeuropa wird durch Erpressung und Unsicherheit bei den Rohstoffexporten aufrechterhalten. Nach Innen wird das Regime unter aller Augen immer repressiver. Das betrifft vor allem die freie Meinungsäußerung. Facebook zum Beispiel, und das ist wohl eher ein kleineres Übel, war zwischenzeitlich in Russland ganz offline. Russische Behörden hatten den Mutterkonzern Meta als „extremistische Organisation“ eingestuft. Momentan gilt die Freigabe der Meta-Produkte nur, sofern die Bürger „nicht an gesetzlich verbotenen Aktivitäten beteiligt sind“. Hintergrund des Verbotes war die Ankündigung von Meta, bestimmte gewalttätige Aussagen gegen russische Truppen in seinen Netzwerken zuzulassen, so Der Spiegel.
Facebook sei Faschismus, daran muss ich jetzt öfter denken, gerade weil sich die Vorzeichen so radikal geändert haben. Jetzt kann es nicht mehr darum gehen, symbolische Behauptungen in einer Kunst-Bubble oder anderen verwandten Milieus aufzustellen, sondern sich der Realität zu stellen. Das die Ukrainer*innen für ihre Freiheit kämpfen, ist keine hohle Phrase.
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