Eine Pandemie, dass weiß die ganze Welt nach 2020, ist ein perfektes Biotop für Verschwörungserzählungen: Eine weltweite und potenziell tödliche Bedrohung mit unklarem Ursprung, über deren Bekämpfung noch Unwissen herrscht und die Menschen in Lockdowns und Stillstand zwingt, ihre beruflichen Existenzen bedroht und ihnen zu viel Freizeit mit zu wenig Ablenkungsmöglichkeiten beschert – das ist eine Herausforderung, mit der Menschen offenkundig unterschiedlich gut umgehen können. Etliche Menschen, die mit Langeweile zu kämpfen hatten, die Unsicherheit nicht gut aushalten konnten und sich selbst wieder mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung wünschten, fanden im Internet einen Weg aus ihrer Misere: Verschwörungsideologien. Die haben den Vorteil, Unerklärliches zu vereinfachen, weil sie Erklärungen anbieten: Nichts geschieht mehr zufällig, alles bekommt einen Grund. Es gibt immer ein Böses und ein Gutes in der Welt, und auf die Seite des Guten kann man sich stellen, hier kann man kämpfen, sich selbst damit als Wissenden wahrnehmen, der „die Wahrheit“ kennt – ein Prinzip, mit dem auch Sekten und Religionen arbeiten.
Bei Verschwörungsideologien werden aus einem abstrakten Bösen allerdings sehr reale Schuldige, die dann auch angegriffen und bedroht werden. Seit Jahrhunderten kommen Verschwörungserzählungen – ob offen oder verklausuliert – immer wieder bei Jüdinnen und Juden an, die als raffgierige „Eliten“ beschrieben werden, die die Welt versklaven wollen. Auf diesen Verschwörungserzählungen beruhte schon der Antisemitismus, der zum Holocaust führte – und in der Pandemie 2020 erreichen die antisemitischen Narrative als Betriebssystem aller Verschwörungserzählungen wieder massive Verbreitung. Opfer sind allerdings nicht nur Jüdinnen und Juden. Die Verschwörungserzählungen von 2020 etwa wenden sich auch sehr stark gegen die Regierungen, gegen Wissenschaft und Medien – ihnen wird ein offenes oder verborgenes „Jüdischsein“ einfach zugeschrieben – auch gemeint als Verkörperung von Moderne, Freiheit, Gleichwertigkeit, Liberalität, Rationalität, die gleich mitbekämpft werden sollen.
So begannen 2020 die Verschwörungserzählungen zur COVID-19-Pandemie mit Rassismus gegenüber asiatisch gelesenen Menschen (mit China als Ursprungsland des Virus, befeuert etwa von Donald Trump, der immer von „China-Virus“ sprach), der Leugnung der Existenz des Virus oder Falscherzählungen über angebliche Heilmittel. Doch eine politische Aufladung ließ nicht lang auf sich warten. Antidemokratische Strömungen erkannten ihre Chance, über Verschwörungserzählungen nicht nur Unsicherheit in ihren Gesellschaften zu verbreiten (will die Regierung wirklich unser Bestes oder sind wir nur Testobjekte?), sondern auch Antisemitismus zu verbreiten (wer steckt hinter 5G-Masten und weltweiten Impfkampagnen, und welche neue Weltordung wird so eingeführt?), einen Handlungszwang aufzubauen und Gewalt zu legitimieren (Keiner tut etwas, wir müssen jetzt handeln, bevor es für unsere Kinder zu spät ist – zur Not auch mit der Waffe in der Hand), Nationalismus zu schüren (Unsere Werte und Traditionen werden zerstört, alle werden gleich gemacht) und gegen die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft, Medizin und Presse zu schießen (wer bezahlt sie? Welchen Plan verfolgen sie?). Um diese Stimmung zu schüren, schossen zahlreiche „alternative Medien“ aus dem Boden, besonders YouTube- und Telegram-Kanäle erlebten ein rasantes Wachstum sowohl in der Zahl als auch in der Reichweite. Neben neu gegründeten Präsenzen – gern auch von Prominenten, die sich so neue Bedeutung erhofften – entdeckten allerdings auch bestehende Kanäle die COVID 19-Verschwörungsthemen für sich und verstärkten sie: etwa Rechtspopulisten und Rechtsextreme, Alternativmediziner und Esoteriker. Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Akteure: Kampf gegen die parlamentarische Demokratie und Antisemitismus.
Dass Sozialen Netzwerke ein Hauptmotor dieser Debatten sind, führte nicht nur zu einer rasanten Radikalisierung der Diskurse und ihrer Anhänger*innen, sondern auch zu einer Internationalisierung. So tauchten unterschiedliche Verschwörungselemente und Debatten weltweit auf. Und so kam auch eine vermeintlich uramerikanische Verschwörungserzählung nach Europa: QAnon. Diese ursprünglich auf Donald Trump als Heiland gegen das Böse aka „die Eliten“ zentrierte Verschwörungserzählung mit massiven antisemitischen Elementen (u.a. pädophilen Eliten, die Kinderblut trinken) entstand in den USA schon 2017, seit ein anonymer 4chan-Account, „Q“ sich als Informant aus innersten Kreisen des Weißen Hauses ausgab und seine Anhänger*innen mit mysteriös-unverständlichen, aber sehr bedeutungsschwangeren Kurzaussagen, für die Fans „Q-Drops“, versorgte, die man fast als Clickbait für die Verschwörungsbranche beschreiben könnte („Do you feel a plot twist comming?“). Immer wieder forderte „Q“ die Anhänger*innen zum Aufwachen, zum Mitdenken, Weiterdenken, zur Beteiligung auf. Eine Technik, deren Folge war eine gemeinsame Exegese und Interpretation war, die den Anhänger*innen zu einer Gemeinschaft zusammenschweißte – was sich auch im Slogan „WWG1WGA“ („Where we go one we go all“) widerspiegelt. So entwickelte sich „QAnon“ zu einer Art Super-Verschwörung, die problemlos bereits bestehende Verschwörungserzählungen aufnehmen und lokale Gegebenheiten integrieren konnte. Dass sie dadurch zugleich immer bizarrer und auch in sich widersprüchlich wird, dafür gibt es auch eine Lösung. „Trust the Plan“ lautet das Motto. Was Du jetzt noch nicht verstehst, ist trotzdem richtig so, denn es gibt einen Plan. So glauben „QAnon“-gläubige Trump-Fans auch Monate nach der Wahl, der Sieg Joe Bidens sei entweder nicht real oder eben Teil „des Plans“. Spätestens hier nimmt der Verschwörungsglaube sektenhafte Züge an: QAnon-Fans haben sich bewusst von der Realität verabschiedet in eine wahnhafte Welt, die von außen kaum korrigierbar ist.
Das Gemeinschaftsgefühl, der Mitmach-Charakter und die Integration lokaler Akteure und bestehender Verschwörungserzählungen macht QAnon in der Pandemie offenkundig auch für nicht-amerikanische antidemokratische Strömungen attraktiv. Eine Ausbreitung beginnt mit der Pandemie 2020 in rechtspopulistischen bis rechtsextremen Strömungen Europas, die die antisemitischen und anti-Establisment- Q-Legenden mit eigenen Anti-Regierungs- und Anti-Lockdown-Erzählungen anreichern und bekannt machen. Eine rebellische Attitüde mischt sich mit der Siegesgewissheit, als „Wissender“ ein gutes Werk an der Gesellschaft zu tun, wenn man sich selbstbezogen, unsolidarisch und anti-rational verhält.
Zunächst verbreitet sich „QAnon“ in andere englischsprachigen Ländern wie Großbritannien, Kanada und Australien. In Großbritannien sind es die Brexit-Fans, die sich der Verschwörungserzählung annehmen. Viele Gruppen nutzen QAnon-Elemente wie die Erzählungen von globalen Eliten oder Pädophilen-Ringen, um die Regierung zu diskreditieren und vorgeblich ihre Anti-Corona-Maßnahmen zu kritisieren. Nicht aber Premierminister Boris Johnson. Der sei, so britische Q-Fans, „installiert“ worden, um mit Trump die Welt zu retten.
Doch schnell beginnen Übersetzungen der „Q-Drops“ in verschiedene europäische Sprachen. Die größte QAnon-Community unter den nicht-englischsprachigen Ländern existiert derzeit in Deutschland. Experten gehen aufgrund der (von Dopplungen bereinigten) Größen von Telegram-Gruppen von mindestens 150.000 Anhänger*innen in Deutschland aus. Hier ist es vor allem die rechtsextreme Reichsbürger-Bewegung, die ihre eigenen Verschwörungserzählungen unter das Q-Banner stellt: Die Bundesrepublik Deutschland sei illegal und nicht souverän, habe nie einen Friedensvertrag geschlossen und sich eine Verfassung gegeben, deshalb existiere das „Deutsche Reich“ (aus Vor-Nazi-Zeiten) weiter. Stolz kombinieren sie auf großen Demonstrationen in Deutschland „Q“-Fahnen mit „Reichs“-Fahnen in schwarz-weiß-rot und wünschen sich von Donald Trump – und Wladimir Putin – den angeblich fehlenden Friedensvertrag und die Vertreibung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die hier die Erzfeindin ist. Auch der vorgebliche Kinderschutz („Save the Children“) findet in der deutschen Verschwörungswelt Resonanz. Viele Q-Anhänger*innen organisieren sich als „besorgte Eltern“. Schon seit Jahrzehnten ist das vorgeblicher Engagement für den Schutz von Kindern vor Pädophilie ein Thema, mit dem die rechtsextreme Szene nicht unerfolgreich versucht, auch in die Gesamtgesellschaft zu wirken, um damit Rassismus zu verbreiten (denn in rechtsextremen Argumentationen sind die Täter stets Migrant*innen). Nicht zuletzt weinte der bekannte Pop-Sänger Xavier Naidoo im April 2020 in einem YouTube-Video um die Kinder, die zur Blut-Produktion gefangen gehalten würden – und machte QAnon so dem breitestmöglichen Mainstream-Publikum bekannt.
In Frankreich interessiert sich etwa die regierungskritisch-populistische Gelbwestenbewegung für die Rhetorik und Narrative von QAnon – vor allem für die Verschwörungserzählungen vom „Deep State“, der in Wirklichkeit die Geschicke der Politik bestimme. Es gründen sich auch „Gelbwesten gegen Pädokriminalität“-Gruppen und die der antisemitische Topos der „Neuen Weltordnung“ soll bekämpft werden. Aber auch die französische Impfgegner-Community beteiligt sich lautstark. Telegram-Gruppen haben bis zu 20.000 Fans. Hier wird etwa der Arzt Didier Raoult, der als COVID-19-Medikament hydroxychloroquine empfiehlt, als Anti-Lockdown-Kämpfer gegen Präsident Emmanuel Macron gefeiert. Auch die französische Kirche wird als Teil des „Bösen“ vermutet. Französische Q-Gruppen beschreiben sich etwa als “a group of French, anti-globalization patriots, who campaign for the waking up of Nations.” Its stated goal is to “inform French people, and more generally, all francophones that are manipulated by traditional media on today’s worldly stakes.” Manche Q-Gruppen nutzen Referenzen zur French royality (z.B. fleurdelys, Symbol der französischen Monarchie, Bezüge zu Jeanne D’Arc und Charles Martel).
In Italien sind es besonders Impfgegner*innen, die sich mit Q gegen Regierungspläne auflehnen wollen. Auch hier sind Telegram-Gruppen bis zu 20.000 Mitgliedern groß. Q-Fans greifen den italienischen Premierminister Giuseppe Conte an, der eine Diktatur errichten wolle, und loben den rechtsextremen Politiker Matteo Salvini (League Party). Nationalismus ist auch ein Thema im Gewand „Italien von der EU befreien“.
In den Niederlanden sind es islamfeindliche Accounts, die mit Geert Wilders sympathisieren, die QAnon-Elemente verwenden und auf Handlungszwang setzen: “Doing nothing is no longer an option.” Außerdem stammt aus den Niederlanden eine der wichtigsten europäischen QAnon-Influencerinnen, Janet Ossebaard, die ich ihrem im März 2020 viral gegangenen Film „Fall of the Cabal“ erstmals offensiv QAnon-Motive und europäische Verschwörungserzählungen vereinte.
Interessant ist auch die Q-Rezeption in former Yugoslav republics, also in Slovenien, Kroatien, Bosnien-Herzegovina und Serbien. Hier gibt es jeweils zwar auch nationalistische Q-Gruppen, doch die größte nennt sich „QAnon Balkan“ und möchte QAnon nutzen, die Menschen in der Region zu vereinen: “We do not divide people by religion and nation, because we are all hostages of a handful of globalists, dangerous psychopaths, who have placed their puppets at the head of our states and institutions.“
In Griechenland gibt es nicht viele aktive QAnon-Aktivist*en. Wenn aber Postings mit entsprechenden Hashtags abgesetzt werden, vermengen sie Q-Erzählungen mit Anti-Roma-Vorurteilen und Rassismus gegen schwarze Migrant*innen. In Ungarn ist der Bezug zum Antisemitismus stark: An Q interessieren die Anhänger Adrenochrom, Illuminaten, Satanismus, der „Deep State“ und Hass auf George Soros. In Litauen gibt es eine QAnon-Facebook-Gruppe mit 7.300 Mitgliedern – bei 2,7 Millionen Einwohnern. Tatsächlich untersuchte der kanadische Forscher Marc-André Argentino im August 2020 nach europäischen Q-Gruppen in Sozialen Netzwerken. Nur in Estland, Montenegro und Albanien fand er keine.
Die Gefahr bei „QAnon“ und anderen Verschwörungswelten liegt einerseits in der stetigen Radikalisierung und der Dramatisierung des Handlungszwangs, was in Gewaltbereitschaft enden kann. Dann wird aus „Trust the Plan“ plötzlich „Be the plan.“ Selbst wenn es dazu nicht kommt, bleibt aber eine andere Gefahr: Wenn sich Menschen einmal an die anti-rationalen und anti-demokratischen Mechanismen der Verschwörungsideologie gewöhnt haben, ist die Chance groß, dass sie sie beibehalten, auch wenn sie sich von QAnon abwenden: Statt studierten und erfahrenen Wissenschaftlern glaube ich selbsterklärten Videobloggern, statt seriös recherchierenden Medien glaube ich tendenziös erlogenen Blogs, statt zu versuchen, an einer besseren Welt mitzuarbeiten, glaube ich an „Schuldige“, die man nur besiegen müsse, und gebe so bequem alle Verantwortung für mein Leben ab. Die Folgen erleben derzeit viele Menschen in ihren Familien oder in ihrem Umfeld. Bearbeiten müssen sie sie allein: Denn Beratungsstrukturen für den Umgang mit Verschwörungsideologien fehlen in den meisten Ländern.
Dieser Text ist auf Englisch im Report „State of Hate: Far right extremism in Europe“ erschienen, der aus einer Kollaboration von NGOs und Forscher*innen aus ganz Europa entstanden ist, koordiniert von Hope not Hate (UK), Expo (Schweden) und der Amadeu Antonio Stiftung, der Trägerorganisation von Belltower.News.
Hier gibt es den Einleitungstext auf Deutsch:
Hier gibt es den Report zum Download:
- State of Hate: Far-Right Extremism in Europe (2021) (pdf)
- Darin: Polling of Opinion in Europe
- Covid-19 and the European Far Right
- Conspiracy Ideologies During the Pandemic: The rise of QAnon in Europe
- The Far-Right Backlash Against the Black Lives Matter Movement
- Spotlight on the Western Balkans: Far-Right Trends in the Region
- The Growing Threat of Far-Right Terrorism in Europe
- Spotlight on Poland: The Rise of Konfederacja
- Country by Country Section