Ereignisse
Terroranschlag in Deutschland
Im Februar verübte ein rechtsextremer Terrorist einen tödlichen Anschlag in Hanau. Beim Angriff auf zwei Shisha-Bars, die überwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund besucht werden, kamen zehn Menschen ums Leben. Es war neben dem Angriff auf eine Synagoge und einen Dönerladen in Halle im Oktober 2019 der zweite tödliche rechtsextreme Terroranschlag in Deutschland in weniger als einem halben Jahr. Darüber hinaus beschloss im Juni 2020 die Bundesverteidigungsministerin angesichts zunehmender Kritik am Rechtsextremismus in ihren Reihen die Teilauflösung der Eliteeinheit „KSK“.
Rechtsradikaler Sieg bei polnischen Präsidentschaftswahlen
Im Juli setzte sich Andrzej Duda von der rechtsradikalen Partei „Recht und Gerechtigkeit (PiS)“ bei den polnischen Präsidentschaftswahlen knapp gegen seinen Herausforderer Rafal Trzaskowki durch. Das Ergebnis kam nach einer schmutzigen Anti-LGBT-Kampagne zustande und wird wahrscheinlich zu weiteren umstrittenen Reformen der Justiz und mehr Opposition gegen LGBTIQ-Rechte und Abtreibungsrechte führen.
Umfangreiche Verbindungen des Christchurch Attentäters zu europäischen Rechtsextremen aufgedeckt
Im August wurde der Christchurch-Attentäter zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt, nachdem er sich in 92 Fällen des Terrorismus, Mordes und versuchten Mordes schuldig bekannt hatte. Die Untersuchungskommission „Royal Commission of Inquiry“ veröffentlichte im Dezember einen Bericht zum Angriff, in dem sie feststellt, dass der Attentäter seit 2017 mindestens 16 Spenden an internationale rechtsextreme Gruppen und Personen getätigt hatte, darunter insgesamt 2.500 Pfund / 5.000 Euro an zahlreiche europäische Ableger des Netzwerks der „Identitären Bewegung / Generation Identity / Génération identitaire“.
Prozess gegen die Goldene Morgenröte in Griechenland
Im Oktober wurde die Führung der griechischen Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte (Chrysi Avgi)“ nach einem mehr als fünf Jahre dauernden Prozess verurteilt. Der Anführer der „Goldenen Morgenröte“, Nikos Michaloliakos, und sechs ranghohe Mitstreiter wurden der Leitung einer kriminellen Organisation für schuldig befunden. Giorgos Roupakias wurde des Mordes für schuldig befunden und 15 weitere Mitglieder wurden wegen Verschwörung verurteilt. Der Prozess hat eine der gefährlichsten Neonazi-Organisationen des Kontinents dezimiert, obwohl die Bedrohung durch rechtsextreme Gewalt in Griechenland bestehen bleibt.
Juristische Probleme für Matteo Salvini in Italien
Im Oktober stand Ex-Innenminister Matteo Salvini von der rechtsextremen „Lega“-Partei wegen eines Vorfalls im Jahr 2019 vor Gericht, bei dem er 116 Migranten an der Ausschiffung in Sizilien hinderte. Sollte er für schuldig befunden werden, drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft wegen schwerer Entführung.
Wichtige Trends 2020
Der Aufstieg von Verschwörungsideologien und QAnon in Europa
- 2020 gab es während der Covid-19-Pandemie einen dramatischen Anstieg der Anzahl an Menschen, die an Verschwörungsideologien glauben.
- In ganz Europa konnte die Entstehung zahlreicher verschwörungsideologisch motivierten Protestgruppen beobachtet werden, die auf die Straße gingen – angetrieben von einem variierenden Mix aus starken Elitefeindlichkeit, aus Protest gegen die Lockdown-Maßnahmen, der oft in Demokratiefeindlichkeit mündete, aus Impfgegnerschaft und Wissenschaftsfeindlichkeit und schließlich aus verschwörungsideologisch motivertem Antisemitismus.
- Maßgeblich zur Verbreitung der Verschwörungsideologien beigetragen haben Falschinformationen, die über digitalen Plattformen und sozialen Medien schnell und aggressiv verbreiten wurden.
- Besorgniserregend ist, dass Verschwörungserzählungen im Zusammenhang mit Covid-19 den Weg zu antisemitischem Denken öffnen. Online-Plattformen, auf denen antisemitische und verschwörungsideologisch Erklärungen für die Pandemie grassieren, bieten einen Raum, in dem Nutzer*innen über unterschiedliche, oft zunächst subtil antisemitische Verschwörungserzählungen schrittweise zu offenem Antisemitismus, Holocaustleugnung und Hitlerverehrung kommen.
- Die QAnon-Verschwörungsideologie entstand 2017 in den USA, breitet sich aber 2020 in Europa aus, vor allem in Großbritannien und Deutschland. Die Verschwörungsideologie entwickelte sich aus einer US-zentrierten Erzählung mit Donald Trump als „Erlöser“ zu einem breiteren, weniger einheitlichen verschwörerischen Welterklärung mit deutlich europäischen Einflüssen. In ihrer heutigen Form ist sie ein dezentralisiertes, großes und vielschichtiges Phänomen: Sie ist gleichzeitig eine Verschwörungsideologie, eine politische Bewegung und eine Quasi-Religion – mit unterschiedlichen Varianten, die sich an verschiedene Subkulturen und nationale Kontexte anpassen.
Rassistischer Nationalismus auf dem Vormarsch
- 2020 wurde die europäische extreme Rechte als Reaktion auf die „Black Lives Matter“-Demonstrationen, die europaweit stattfanden, sehr aktiv.
- Rassistisch-nationalistische Aktivist*innen und Organisationen, die bereits zuvor das Konzept des biologischischen Rassismus vertraten, haben die „Black Lives Matter“-Proteste genutzt, um ihren rassistischen Hass einem breiteren Publikum zu präsentieren.
- Einige Teile der extremen Rechten, die zuvor aus taktischen Gründen für mehr gesellschaftliche Zustimmung mit Kulturrassismus argumentierten, kehrten als Reaktion auf die „Black Lives Matter“-Proteste bereitwilliger und offener zum biologistischen Rassismus zurück. Es bleibt abzuwarten, ob diese Verschiebung dauerhaft ist, kurz- bis mittelfristig konnten wir allerdings beobachten, dass der Kulturrassismus innerhalb von Teilen der europäischen extremen Rechten wieder vom offen biologistischen Rassismus verdrängt wird.
Rechtsterrorismus – weiterhin eine Bedrohung
- Beim Rechtsterrorismus setzte 2020 den besorgniserregenden Trend von 2019 weitgehend fort: Wir sehen eine aktive Online-Szene, die Terrorismus und Gewalt propagiert, vorbereitet und ausübern will. Es gab auch eine hohe Zahl von Verhaftungen.
- Die aktuelle rechtsextreme Terrorgefahr besteht aus einem Netzwerk von lose organisierten Gruppen, die Einzelpersonen international miteinander verbinden. Der Hauptzweck dieser Gruppen besteht darin, Einzelpersonen zur Ausführung von Gewalttaten zu ermutigen, sie zu vernetzen und Wissen auszutauschen, anstatt Anschläge formell zu planen. Die Gruppen sind oft nach dem Vorbild früherer Gruppen aufgebaut und oft kurzlebig.
- Rechtsextreme Aktivist*innen engagieren sich oft in mehreren Gruppen gleichzeitig und haben so bereits neue Netzwerke, in denen sie sich engagieren, bevor Gruppen aufgelöst werden. So bleibt die Struktur bestehen, auch wenn eine Gruppe aufgelöst wird. Das bedeutet, dass diese Bedrohung schwer zu bekämpfen ist, da die Zerschlagung einzelner Gruppen kaum dauerhafte Auswirkungen hat.
- Neue Trends dieser Szene sind terroristische Attacken aus verschörungsideologischer Motivation und der so genannte Ökofaschismus (vgl. Belltower.News).
Fortlaufende Internationalisierung
- Es bleibt zwar wichtig, die Entwicklungen in traditionellen rechtsextremen Organisationen wie politische Parteien zu untersuchen, aber es gibt derzeit einen breiteren und und grundlegenderen Wandel in der extremen Rechten – sie entwickelt sich zu einer transnationalen und post-organisatorischen Bedrohung für die Demokratie in Europa.
- Aktivist*innen beschäftigen sich zwar in erster Linie mit lokalen oder nationalen Themen, aber sie verstehen ihren Hass im Kontext einer kontinentalen oder sogar globaler Bewegung. Aktivist*innen aus der ganzen Welt kommen immer wieder für kurze Zeit und gemeinsame Aktionen zusammen, wodurch Netzwerke entstehen, über die (Des-)Informationen rasant rund um die Welt weiterverbreitet werden können.
- Wenn wir also die Gefahren verstehen wollen, die Hass und Spaltung in unsere Politik bringen, können wir nicht mehr nur auf unsere Straße, in unserer Gemeinde oder auf unser Land blicken. Wir müssen über politische Parteien, formale Organisationen und sogar nationale Grenzen hinaus denken.
Umfragen: Wichtige Schlagzeilen
- Die extreme Rechte hatte 2020 politisch sowohl Glück als auch Pech: Rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien mit Regierungsbeteiligung verloren viel Unterstützung, währende andere extrem rechte Akteur*innen davon profitierten, dass ihre Regierungen unglückliche und missliebige Antworten auf die Covid-19-Pandemie gaben – oder wenn auch Themen ohne Covid-Bezug den Diskurs bestimmten. In Italien liegen die faschistischen „Brüder Italiens (Fratelli d’Italia)“ jetzt bei 12 Prozent der Stimmen in den Umfragen, das sind doppelt so viele Stimmen wie bei den Parlamentswahlen 2018. In Schweden, wo unter Wähler*innen das Thema Kriminalität als wichtiger wahrgenommen wurde als das Thema Gesundheit und das Thema Einwanderung an dritter Stelle steht, liegen die rechtsradikalen „Schwedendemokraten“ jetzt bei 21 Prozent, verglichen mit den 16 Prozent, die sie bei der Wahl 2018 holen konnten.
- Rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien, die Teil einer Regierung sind, haben jedoch während der Pandemie stark gelitten. Die regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit (PiS)“ in Polen liegt jetzt bei 18,4 Prozent, verglichen mit 32 Prozent bei den Parlamentswahlen 2019, während die rechtspopulistische „Fünf-Sterne“-Bewegung in Italien Umfragen zufolge auf nur 12 Prozent kommt, im Vergleich zu 28 Prozent im Jahr 2018.
- Die meisten Menschen in Europa haben die Lockdown-Maßnahmen in ihren jeweiligen Ländern unterstützt – auch in Deutschland, wo es die großen Anti-Coronamaßnahmen-Proteste gab, unterstützen etwa 64 Prozent die Maßnahmen der Regierung in Deutschland und nur 13 Prozent sie ablehnen.
- In vielen Ländern herrscht ein tiefes Gefühl des Unbehagens über den Zustand des jeweiligen politischen Systems und über die Richtung, in die sich ihr Land entwickelt hat. Zwei Drittel der Menschen in Frankreich denken, dass ihr politisches System kaputt ist, während nur sechs Prozent der Brit*innen denken, dass es „sehr gut“ funktioniert. Allerdings gibt es in anderen Ländern positivere Meinungen zum Zustand der Demokratie, wobei 60 Prozent der Deutschen denken, dass das politische System gut funktioniert.
- Einstellungen gegenüber Minderheiten fallen in allen acht untersuchten Ländern negativ aus, in einigen sogar ziemlich erschreckend negativ. Zwei Drittel der Italiener*innen (67 Prozent) haben eine negative Einstellung zu Rom*nja, während 60 Prozent der Ungar*innen eine negative Einstellung zu Einwanderer*innen generell haben. Die positivste Einstellung gegenüber Minderheiten haben die Brit*innen. Dass allerdings nur 29 Prozent der Brit*innen positive Einstellungen gegenüber Muslim*innen haben, ist deprimierend niedrige Zahl.
- Andererseits sind auch Menschen der Meinung, dass die „Black Lives Matter“-Proteste Rassismus und Diskriminierung gegen Minderheiten sichtbar machen und dass dies sinnvoll sei. Allerdings wurde diese Meinung nur in Deutschland (52 Prozent) und Großbritannien (51 Prozent) von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt. In Ungarn waren es nur 23 Prozent.
- Die Einstellung zu Verschwörungsideologien ist von Land zu Land sehr unterschiedlich und hängt oft davon ab, ob das Thema an bestehende Bedenken und Vorurteile anknüpft. In Ungarn, wo Präsident Orban seit Jahren gegen die „Einmischung“ der EU und die Gefahren der Einwanderung für die europäische Identität gewettert hat, stimmen 45 Prozent der Meinung zu, dass „die Eliten“ die Einwanderung fördern, um Europa zu schwächen. Auch in Italien, wo es politischen Unmut über die Weigerung der EU gibt, das Thema Einwanderung stärker zu unterstützen, stimmen 39 Prozent zu.
- Die überwiegende Mehrheit der Befragten in allen acht Ländern weist die Ansicht zurück, dass der Covid-19-Impfstoff böswillig eingesetzt werde, um Menschen mit Gift zu infizieren. Allerdings stimmen 22 Prozent der Pol*innen, 20 Prozent der Ungar*innen und 16 Prozent der Italiener*innen dieser Aussage zu. Nur 48 Prozent der Pol*innen halten diese Behauptung für „wahrscheinlich“ oder „definitiv“ falsch. In Großbritannien glauben nur sieben Prozent der Befragten, dass man sich durch den Covid-19-Impfstoff anstecken kann, während 79 Prozent dieser Aussage nicht zustimmen.
- Eine viel größere Unterstützung gibt es für die Behauptung, dass „die Hollywood-Elite, Regierungen, Medien und andere hohe Funktionäre heimlich in groß angelegten Kinderschmuggel und Ausbeutung verwickelt sind“, eine der Hauptbehauptungen der QAnon-Anhänger*innen. Ein Drittel der Befragten in Polen glaubt, dass diese Behauptung definitiv oder wahrscheinlich wahr ist, während nur 27 Prozent glauben, dass sie falsch ist. In Deutschland glauben 21 Prozent, dass diese Aussage wahr ist, verglichen mit 48 Prozent, die sie für falsch halten.
Dieser Text ist die übersetzte Zusammenfassung aus dem englischsprachigen Report „State of Hate: Far right extremism in Europe“, der aus einer Kollaboration von NGOs und Forscher*innen aus ganz Europa entstanden ist, koordiniert von Hope not Hate (UK), Expo (Schweden) und der Amadeu Antonio Stiftung, der Trägerorganisation von Belltower.News.
Hier gibt es den Einleitungstext auf Deutsch:
Hier gibt es den Report zum Download:
- State of Hate: Far-Right Extremism in Europe (2021) (pdf)
- Darin: Polling of Opinion in Europe
- Covid-19 and the European Far Right
- Conspiracy Ideologies During the Pandemic: The rise of QAnon in Europe
- The Far-Right Backlash Against the Black Lives Matter Movement
- Spotlight on the Western Balkans: Far-Right Trends in the Region
- The Growing Threat of Far-Right Terrorism in Europe
- Spotlight on Poland: The Rise of Konfederacja
- Country by Country Section