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False Flag, Relativierungen, Jubel Das sind die Reaktionen auf den Mord in Idar-Oberstein

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Am 1. September 2021 erschoss ein Maskenverweigerer den 20-jährigen Kassierer einer Tankstelle in Idar-Oberstein. (Quelle: picture alliance/dpa/Foto Hosser | Christian Schulz)

Am Samstagabend (18. September 2021) betritt ein 49-jähriger Mann ohne Maske eine Tankstelle in Idar-Oberstein und will einen Sechserpack Bier kaufen. Der 20-jährige Alexander W. ist Student und arbeitet an der Kasse. Er weist den Mann auf die Maskenpflicht hin und verweigert den Kauf. Daraufhin soll der 49-Jährige die Tankstelle wieder mit einer drohenden Geste verlassen haben. Fast zwei Stunden später kommt er zurück. Diesmal trägt er eine Maske unter dem Kinn, wieder bringt er Bier zum Tresen. Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann beschreibt in einer Pressekonferenz am 20. September, was als nächstes passiert ist: „Er schoss den Kassierer gezielt von vorne in den Kopf.“

Der mutmaßliche Mörder wurde bereits am Sonntagmorgen vor der Polizeidienststelle in Idar-Oberstein festgenommen, angeblich wollte er sich selbst stellen. In der Vernehmung gestand der 49-Jährige die Tat. Demnach hätte er sich über den verhinderten Bierkauf geärgert, sei zurück gekommen, die Maske trug er absichtlich unter dem Kinn, um eine weitere Reaktion zu provozieren. Er habe „ohne zu zögern“ abgedrückt, zitiert der Oberstaatsanwalt in der Pressekonferenz. Der Täter hat offenbar in der Vernehmung angegeben, dass die Corona-Situation ihn sehr belastet habe, sodass er keinen anderen Ausweg gesehen habe, „als jetzt ein Zeichen zu setzen.“

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Die schreckliche Tat kommt nach unzähligen Gewaltaufrufen aus der Szene rund um „Querdenken“. Immer wieder rufen die Größen aus Verschwörungsszene zum „Widerstand“ auf. Heinrich Fiechtner etwa, ein Arzt aus Stuttgart, der für die AfD im Landtag saß, deutete ein Attentat à la Stauffenberg an, „um den Bürgern wieder Freiheit zu schaffen und sie von dieser Tyrannei zu befreien. Man kann diese Tyrannei ja an einzelnen Personen festmachen und hier ist dringende Abhilfe geboten“. Der rechtsextreme Schweizer YouTuber Ignaz Bearth beschimpfte Polizist:innen als „feige kleine Ratten“ und „brutale Psychopathen“ und droht: „Wir werden keine vergessen“.

Gewalt wird in der Szene aber nicht nur Vertreter:innen des Staates aus Politik und Sicherheitsbehörden angedroht. Das „Querdenken“-Umfeld ruft regelmäßig zu Protesten gegen Impfzentren auf und bedroht Mitarbeiter:innen. Es kursieren Leitfäden, in denen erklärt wird, wie man Angestellte in Supermärkten einschüchtern kann, die die Maskenpflicht durchsetzen. Widerstand gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wird routinemäßig als „Notwehr“ bezeichnet und in unzähligen Telegramkanälen und in Videos werden die Maßnahmen als Misshandlung und Menschenrechtsverletzungen dargestellt. Auf den Demonstrationen kommt es immer wieder zu Gewalt gegenüber Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen, dazu ungehemmten Übergriffen auf Polizist:innen. Seit Monaten berichten Medien und Expert:innen über diese Entwicklung und warnen vor einer weiteren Eskalation. Der Mord an Alexander W. ist der traurige Höhepunkt von Propaganda und Gewaltaufrufen.

In der Szene selbst gibt es unterschiedliche Reaktionen auf den Mord. Nur kein Mitgefühl und keine Trauer. Dabei ist es auch kein großes Wunder, dass Vertreter:innen einer Bewegung, die auf Eigennutz und Egoismus gründet, vor allem sich selbst als Opfer sehen wollen. Etwa Gerhard Wisnewski, ein Autor und Aktivist aus dem Umfeld des vom Verfassungsschutz beobachteten Compact-Magazin. Auf Telegram schreibt er: „Das Attentat richtet sich nicht in erster Linie gegen eine bedauernswerte Kassenkraft in einer Tankstelle, sondern gegen die Querdenker-Bewegung und Telegram.“ Ähnlich argumentiert auch der untergetauchte Vegankoch Attila Hildmann. Auf seinem neuem Telegramkanal — seine bisherigen Kanäle hatte der von den Behörden Gesuchte nach einem Datenleak an das Anonymouskollektiv verloren — veröffentlicht Hildmann gleich drei Sprachnachrichten zum Mord. Nachdem er mehrmals über den Ermordeten gelacht hat, ist sein Fazit: Die Tat ist eine „False-Flag-Aktion“, also von Geheimdiensten geplant und durchgeführt, um „Maskenskeptiker“ zu diskreditieren und sie als Gefahr darzustellen. Außerdem soll der Mord dazu dienen, das Waffenrecht zu verschärfen — die Waffe des mutmaßlichen Täters war offenbar illegal in seinem Besitz. Dabei offenbart Hildmann nicht zum ersten Mal sein mittlerweile vollkommen verdrehtes Weltbild. Alle Anschläge der letzten Jahre, inklusive der Terrorattacke im neuseeländischen Christchurch seien manipuliert und von den Geheimdiensten gesteuert worden, wiederholt er mehrmals.

Auch das rechtspopulistische Nachrichtenportal Jouwatch behauptet, die Tat würde instrumentalisiert, um „Querdenken“ zu diskreditieren, unter anderem von der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. In einem relativ konfusen Text heißt es: „Das klingt fast so, als ob bestimmte gewissenlose Gesellen die schreckliche Tat in Idar-Oberstein dazu verwenden wollen, um noch ein paar Punkte im Wahlkampf zu ergattern, oder eben wie gewohnt nach dem Motto ‚MuslimeSindTerroristen‘ (war doch so, oder wird da was verwechselt?) alle mal wieder unter Generalverdacht stellen (…)“.

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Andere Stimmen relativieren die Tat in Idar-Oberstein. Etwa Harald Laatsch, der für die AfD im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Schuld an dem Mord hat laut Laatsch vor allem die Bundesregierung, die die Gesellschaft gespalten und „Aggressionen geweckt“ habe. Deswegen ist die Tat offenbar erwartbar gewesen: „Jetzt drehen die Ersten durch.“

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Ähnlich argumentiert der „Querdenken“-nahe Finanzwissenschaftler Stefan Homburg. In einem mittlerweile gelöschten Tweet macht er die „Lockdowner“ verantwortlich und bezeichnet sie als „mittelbare Täter“. Es ist nicht das erste mal, dass Homburg Gewalt relativiert. Nachdem die Virologin Melanie Brinkmann und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach Anfeindungen und Todesdrohungen öffentlich gemacht hatten, bezeichnete Homburg sie via Twitter als „zentrale Treiber der Laborpandemie“, deren „faktenfreie Panikmache“ „Hass bei den Opfern“ erzeuge.

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Verständnis für den Täter gibt es auch in den Kommentarspalten. Immer wieder wird die Tat relativiert: „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hier und da mal jemand ausrastet wegen sowas. Der berühmte Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Viele Leute sind nervlich am Ende durch den endlosen Corona-Psychoterror“, heißt es etwa in einem Kommentar unter einem Post von Hildmann auf Telegramm.

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Aber es geht auch noch menschenverachtender. Um solche Posts zu finden, reicht ein Blick in die Kommentarspalten von Attila Hildmanns Kanal oder anderer Telegramkanäle aus dem Umfeld der Bewegung, etwa „Servus Deutschland“. So wird als Beweis für die angebliche „False-Flag-Aktion“ argumentiert, dass es gereicht hätte, dem Mordopfer „nur eine in die Schnauze zu hauen“. Andere Kommentator:innen sagen, dass Alexander W. „Blockwart“ gespielt hätte und „selbst verantwortlich“ sei.

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Ein anderer Kommentator wähnt sich im Krieg und ruft zu mehr Gewalt auf: „Haut den Befürwortern öffentlich in die Fresse. Es herrscht Krieg für mich, da wird nicht mehr diskutiert. Weg mit 3 G oder Bürgerkrieg dafür stehe ich mit Leib und meinem Leben“ (sic!). Andere betonen, dass sie kein Mitleid mit dem Opfer empfinden oder bestätigen: „Wenns die rchtigen trifft hab ich nichts dagegen“ (sic!). Andere bedauern, dass sie selber keine Waffen haben oder rufen dazu auf, andere Tankstellen anzugreifen.

Screenshot von Telegram
Screenshot von Telegram

Einige der Kommentatoren machen sich über das Opfer lustig oder beleidigen den jungen Mann. „Eine Zecke weniger“, schreibt etwa ein Kommentator.

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Die Tat von Idar-Oberstein ist ein trauriger Höhepunkt der Gewalt. Die Kommentare der Szene lassen allerdings Schlimmes befürchten. „Querdenken“ und das Umfeld radikalisieren sich immer weiter. Gewaltaufrufe sind alltäglich, genauso wie fehlende Empathie und gegenseitige Aufwiegelungen. Die Hoffnung, dass es nicht zu weiteren Gewalttaten kommt, schwindet bei einem Blick in die Kanäle der Verschwörungsfans.

 

Update 21.09.2021, 19:30:

Laut Social Media-Profilen auf Twitter, Linkedin und Telegram hat der Täter sich im rechtsalternativen Desinformations-Millieu bewegt, die ersten Tweets wenden sich gegen „Zensur“ in Sozialen Netzwerken, als diese beginnen, gegen Rechtsextremismus und Hass online vorzugehen, und markieren unter anderem die Amadeu Antonio Stiftung, zu der diese Website gehört, für ihr Engagement gegen Hate Speech als Feindbild. Der Täter hat rechtskonservative bis rechtsextreme Medien und „Medien“ konsumiert und diverse AfD-Politiker:innen geliked. Er schwelgte auch in Bürgerkriegs-Fantasien.

Vergleiche auch die Analyse der Kolleg:innen von CeMAS:

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