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Farhad Dilmaghani „Chemnitz ist eine Zäsur“

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Konzert #Wirsindmehr gegen rechtsextreme Demonstrationen in Chemnitz (Quelle: BTN/KA)

 

Georg Diez: Herr Dilmaghani, die #MeTwo-Kampagne hat Rassismus in Deutschland sichtbar gemacht, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Thema angesprochen und nun Chemnitz. Was hat sich in den vergangenen Wochen geändert im Einwanderungsland Deutschland?

Farhad Dilmaghani: Erstmal das Positive. Es ist jetzt möglich, offener über Rassismus in unserem Land zu sprechen, und zwar nicht nur über Einzelschicksale. Tatsache ist: Wir haben ein strukturelles Problem mit Rassismus. In den Schulen, bei der Wohnungssuche auf dem Arbeitsmarkt. Viele Betroffene haben es als Befreiung empfunden, das endlich öffentlich aussprechen zu können. Die Menschen organisieren sich – #metwo#unteilbar#wirsindmehr sind erst der Anfang. Da wird mehr kommen. Das höre ich auch an allen Ecken und Enden.

Chemnitz ist aber auch eine Zäsur. Man darf den Begriff nicht überstrapazieren. Aber jetzt sollte auch dem Letzten klar sein, dass die Demokratie ernsthaft in Gefahr ist und die AfD der parlamentarische Arm der Rechtsextremen ist, die Seite an Seite mit Neo-Nazis und PEGIDA marschiert wie beim sogenannten Trauermarsch letzten Samstag. Marcel Tschekow, der die AfD seit Gründung analysiert, weist zu Recht auch auf die Verbindungen zwischen AfD und sensiblen staatlichen Organen hin. Allein in der Bundestagsfraktion der AfD bestehen 30 Verbindungen zur Sicherheit und Justiz. Vier Abgeordnete sind ehemalige Staatsanwälte, Oberstaatsanwälte oder Richter. 17 Abgeordnete besitzen Verbindungen zur Bundeswehr. Sieben weitere Abgeordnete der Bundestagsfraktion besitzen Verbindungen zur Polizei. Wer glaubt, das sei ein Spuk, der irgendwann einfach so vorbeigeht, der hat Herrn Gauland nicht zugehört, als er mit hassverzerrte Stimme rauspresste: „Wir werden sie jagen!“ und der hat auch nichts aus der deutschen Geschichte gelernt.

 

Sie haben als Teilnehmer des Integrationsgipfels schon früh eine Anti-Rassismus-Debatte gefordert. Hat Sie #MeTwo nun überrascht?

Das Thema war immer da. Es gab Aktivismus, Romane wurden geschrieben, Kunst gemacht, Filme gedreht. Nur die Mehrheitsgesellschaft hat sich nicht dafür interessiert oder das Thema ignoriert. Dass sich #MeTwo dann aber wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat, das hat mich schon überrascht. Der Aktivist Ali Can hat mit einigen andern einen top Job gemacht. Dabei ist auch viel Selbstbewusstsein und Verbundenheit spürbar geworden, gerade auch bei der POC-Generation zwischen 20 und 30. Das macht Mut und Hoffnung.

 

Neben Bundespräsident Steinmeier haben auch Spitzenpolitiker wie der niedersächsische Ministerpräsident Weil oder Außenminister Maas offen angesprochen, dass wir in Deutschland ein Rassismusproblem haben.

Das ist ein Novum. Die Tür hat sich einen spaltbreit geöffnet. Jetzt müssen Taten folgen, denn Rassismus ist der Treibstoff für die Rechtsnationalen und Anti-Demokraten, die ein anderes Land wollen, ein nationalistisches Land, wo man wieder stolz sein kann auf die Leistungen der Wehrmacht, die massive Kriegsverbrechen begangen hat. Mir ist es unverständlich, wie jemand, der Dinge sagt wie Herr Gauland, immer noch wie ein normaler Politiker interviewt wird.

 

Gibt es einen speziellen deutschen Rassismus?

In ganz Europa gibt es einen immer stärkeren offenen Rassismus. Und Länder mit einer Kolonialgeschichte wie Frankreich oder England haben sich schon früher mit Rassismus auseinandergesetzt. In Deutschland gibt es eine andere spezifische Komponente, die mit der Vergangenheit zusammenhängt: Rassismus wurde in Deutschland vor allem mit Antisemitismus gleichgesetzt. Da es nach dem Krieg kaum mehr Juden gab, hatte man demnach auch kein Rassismusproblem mehr. Das war die zynische Logik.

 

Was war die Folge dieses Denkens?

Man hat deshalb auch einen Teil der Aufarbeitung des Nationalsozialismus vernachlässigt und die Komplexität und Entwicklungsfähigkeit von Rassismus ausgeblendet. Man sprach nach dem Krieg lieber von Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit und entlastet sich somit von der Aufgabe, über die verschiedenen Ausprägungen von Rassismus nachzudenken und dessen struktureller Verankerung in der Gesellschaft. Das hat auch dazu beigetragen, sich mit aktuellen Formen von Rassismus im Zuge der damaligen Gastarbeitermigration nicht wirklich auseinanderzusetzen.

 

Es gab in der Bundesrepublik eine starke Kontinuität nationalsozialistischer Funktionseliten in Staat und Wirtschaft. Sehen Sie einen heutigen Rassismus, der bis in diese Zeit zurückreicht?

Rassismus und Nationalismus gehen immer Hand in Hand, geschichtliche Bezüge sind enorm wichtig. In Deutschland sind das wesentlich der Nationalsozialismus, die Schuldfrage und die Verantwortung der Nachgeborenen. Das kann erklären helfen, warum der deutsche Rassismus teilweise sehr aggressive Züge annimmt – brennende Flüchtlingsheime gab und gibt es in dieser Massivität europaweit nur in Deutschland. Oder die Mordserie des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Es erklärt natürlich nicht, warum der ganze NSU-Komplex im Grunde immer noch nicht aufgeklärt ist, warum unzählige Verfassungsschutzakten geschreddert wurden, warum jahrelang wegen „Dönermorden“ von einer SOKO Bosporus ermittelt wurde. Die Blindheit gegenüber dem Rechtsterrorismus ist ein besonders beschämendes und tragisches Beispiel für den strukturellen Rassismus, der in Institutionen verankert ist.

 

Der Verfassungsschutz spielt in all dem eine sehr dubiose Rolle.

Richtig. Der damalige stellvertretende Ermittlungsleiter Klaus Mähler wird mit den Worten zitiert, dass es unglaublich sei, dass damals aus Thüringen keine Hinweise auf das Neonazi-Trio kamen. Krass ist auch als aktuelles Beispiel die Beratungsgespräche des Chefs des Verfassungsschutzes Maaßen mit der Spitze der AfD, einer Partei, deren Protagonisten wie beispielsweise Herr Höcke Millionen von Deutschen mit Migrationshintergrund das Deutschsein abspricht. Da läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

 

Der Rassismus, sagen Sie, reicht in die Strukturen von Parteien, Unternehmen, Medien?

Wenn Menschen wegen ihrer Herkunft ausgrenzt, weniger repräsentiert und auch diffamiert werden, dann ist das struktureller Rassismus. Der Macpherson-Bericht deckte vor etwa 20 Jahren strukturellen Rassismus in britischen Behörden auf, darauf wurde reagiert. Die Bundesregierung sollte endlich ebenfalls entschiedener auf die #MeTwo-Kampagne reagieren und in die Offensive gehen. Wir brauchen eine hochkarätige Kommission, die das Thema des strukturellen Rassismus transparent macht und Handlungsempfehlungen abgibt. Im Moment gibt es viele Verletzungen und Abwehrreflexe. Je länger wir warten, desto schwieriger wird es.

 

Wie kann man Rassismus am besten entgegentreten? Privat und politisch?

Darüber sprechen, Zivilcourage zeigen, politische Maßnahmen einfordern, verstehen, woher der Rassismus kommt, wie er wirkt, die Hand reichen, wenn Leute realisieren, dass sie rassistisch handeln, ohne sich richtig bewusst darüber zu werden. Und aufklären, aufklären, aufklären, von der Kita bis ins hohe Alter, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern auf der Ebene von Empathie und Grundrechten. Es sollte normaler sein, darüber zu sprechen. Wir brauchen von staatlicher Seite ein Demokratiefördergesetz, Quotenregelungen, eine Stärkung der Anti-Diskriminierungspolitiken. Rassismus muss stärker sichtbar gemacht und sanktioniert werden , Institutionen interkulturell geöffnet werden. Dafür braucht es diversitätsorientierte Organisationsentwicklung. Der Autor Imran Ayata sagt: Anti-Rassismus muss ins Pflichtenheft der Mehrheitsgesellschaft. Er hat Recht. 

Diversität ist die Stärke einer modernen Gesellschaft.

Diversität ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Wir müssen Einwanderung und die soziale Frage verbinden, damit Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das ist eines der besten Mittel, um uns gegen Rassismus zu schützen und die Abwehrkräfte von Institutionen und auch der Zivilgesellschaft zu stärken.Die Fragen von kultureller Herkunft, Klassenzugehörigkeit und nationalem Selbstverständnis gehören zusammen diskutiert. Die Chancen für sozialen Aufstieg sind sehr ungleich verteilt in unserer Gesellschaft und unter den Schwächsten sind besonders viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Wenn die Leute nicht mehr den Eindruck haben, dass es gerecht zugeht, sie mit ihren Sorgen nicht ausreichend gesehen werden, Angst vor Kontrollverlust haben oder ihr Selbstwertgefühl im Nationalstolz suchen, dann werden Menschen leider sehr anfällig dafür, Sündenböcke zu suchen.

Aber dann gibt es auch viele, die Diversität grundsätzlich ablehnen und sich eine homogene Gesellschaft wünschen.

Denen darf die Politik nicht hinterherlaufen, sonst wird es demokratiegefährdend. Ich habe den Eindruck, dass viele Politiker nicht verstanden haben, dass es einen grundsätzlichen Wandel gegeben hat. Die AfD vertritt Positionen und eine Sprache, die früher von der NPD genutzt wurde. Kaum einer wollte damals die NPD wählen, weil das mit Glatzen und Gewalt gleichgesetzt wurde. Die AfD als ehemalige Professorenpartei und dank Wegbereitern wie Sarrazin unterliegt nicht mehr einem sozialen Tabu. Sie ist wählbar. Sie sitzt in den Talkshows. Wer gegen Flüchtlinge, Ausländer und Menschen mit Einwanderungsgeschichte eingestellt ist, hat jetzt eine Alternative.

Was bedeutet das für Politik auf Bundesebene?

Die entscheidende Frage der nächsten Jahre wird sein, wie sich die Union verhält – ob sich also auf Dauer die liberalen Kräfte durchsetzen, die Koalitionen mit der AfD kategorisch ausschließen. Wenn wir in Deutschland als größtem Mitgliedsstaat österreichische Verhältnisse bekommen, wird vieles, was wir in Europa und der EU über die letzten Jahrzehnte mühevoll aufgebaut haben, zugrunde gehen.  

Sie haben vor acht Jahren einen Verein gegründet, DeutschPlus, der gesellschaftliche Teilhabe organisieren wollte. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Jemand bezeichnete uns mal als „Architekten, die Blaupausen für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft“ erstellen. Das stimmt, und das ist uns auch gut gelungen. Wir haben uns eine zeitlang auf einem sehr guten Weg gesehen, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Deutschsein im 21. Jahrhundert sehr vielfältig sein kann. Aber, und das muss man ehrlich sagen, es ist uns nicht gelungen, unsere Impulse auch in konkrete Politik zu übersetzen, die nachhaltig die Strukturen verändert hat.   

Was haben Sie gelernt?

Wir brauchen mehr Allianzpartner. Es ist Zeit für neue konkrete Bündnisse.Und auch die migrantische Zivilgesellschaft muss mobiler werden. Sie ist noch zu zart ausgeprägt, zu schwach und tendenziell zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wir müssen die Themen konkreter ansprechen und dabei auch stärker in Kauf nehmen, dass wir polarisieren. Deshalb ist es jetzt auch wichtig, dass aus #MeTwo eine wirksame soziale Bewegung wird.

Wie kann das gelingen?

Wir sollten bald alle Akteure und Initiativen, die mit #MeTwo verbunden sind, zusammenbringen und gemeinsam politisch und solidarisch arbeiten. Neben den Aktivitäten in den sozialen Medien braucht es auch ganz klassische Offline-Politik. Das sieht man auch bei Demonstration wie #ausgehetzt in München oder zuletzt gegen die AfD in Berlin.  

Was bedeutet das inhaltlich?

Wir müssen stärker an das Selbstverständnis von Deutschland heran. Was macht eine Einwanderungsgesellschaft aus? Was bedeutet ein Miteinander in Vielfalt konkret für die, die schon länger hier sind, genauso wie die, die neu dazukommen? Und welche Konflikte sind in Wirklichkeit Verteilungskonflikte, die auch über rassistische Argumentationsfiguren ausgetragen werden? 

Müssen die Ansprüche klarer sein, die Aussagen härter?

Ja, ein Vorbild sind die Bürgerrechtsbewegungen der USA, die mit klarer Sprache, klarer Analyse und Aktivismus für mehr Gleichstellung eingetreten sind. Wir von DeutschPlus haben vor zwei Jahren zusammen mit mehr als 50 weiteren Organisationen auf dem Integrationsgipfel Bundeskanzlerin Merkel und der damaligen Integrationsstaatsministerin Özoguz einen Forderungskatalog für mehr Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft übergeben. Passiert ist seitdem leider wenig. Wenn wir nicht in die konkrete Umsetzung kommen, wird die Frustration nur größer und die Verbände verlieren auch an Glaubwürdigkeit gegenüber ihrer Basis. Das kann keiner wollen. Man kann nicht Desintegrationsprozesse beklagen und gleichzeitig konkrete Vorschläge ignorieren.     

Die gesellschaftlichen Konflikte verschwanden hinter dem Zauberwort „Integration“. Wie verhält sich das Konzept von Integratin zum Rassismus in diesem Land?

Das sehe ich nicht so. Die Konflikte waren immer da. Im Zuge der Özil-Debatte haben wir aber auch festgestellt, wie schnell aus einem umjubelten Integrationsvorbild wieder der Türke und „Ziegenficker“ wird, der sich nach Anatolien verpissen soll, um zwei Aussagen zu zitieren, die prominent gefallen sind. Das war eine Zäsur. Es hat sich gezeigt, dass man sich so gut integrieren kann wie mal will, man kann jederzeit wieder zum Ausländer gemacht werden. Das war die rassistische Komponente daran. Wir können jetzt nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.

 

Farhad Dilmaghaniist 1971 in Groß-Gerau geboren. Er studierte Politik, VWL und Philosophie. Nach dem Studium wurde er Referent für Europafragen im Bundesfinanzministerium. Von 2000 bis 2005 arbeitete er im Kanzleramt von Gerhard Schröder. Im Land Berlin war er Staatssekretär für Arbeit und Integration.  Heute ist er Vorsitzender der 2011 gegründeten Organisation DeutschPlus – eine Initiative, die sich für eine vielfältige und integrierende Gesellschaft einsetzt.                                                                                                                  

Georg Diez ist Buchautor, Journalist für den Spiegel und Kolumnist für Spiegel Online. Er hat auch für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit gearbeitet und betreibt die Seite 60pages.

 

Mehr zum Projekt

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