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Frankreich Ein Innenminister gegen den Rechtsstaat

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Der französische Innenminister Bruno Retailleau hat Verbindungen in die rechtsextreme Szene und zum christlichen Fundamentalismus. (Quelle: picture alliance / SIPA | SLEMOUTON)

Bruno Retailleau ist der französische Innenminister und Präsidentschaftskandidat der, vom ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegründeten, konservativen Les Républicains (LR). Der 64-Jährige ist der neue Liebling der Rechten und ihrer Medien. Tatsächlich hat er in den letzten Monaten Aussagen gemacht, die im Widerspruch zu seiner Mission stehen, die die Durchsetzung von Sicherheits- und Antidiskriminierungsrichtlinien umfasst.

Im vergangenen September behauptete der Innenminister, dass „der Rechtsstaat weder unantastbar noch heilig” sei. Eigentlich zur Neutralität verpflichtet, da sein Ministerium die Wahlen verantwortet, positionierte der Politiker sich trotzdem gegen den linkspopulistischen LFI-Kandidaten Louis Boyard bei einer Kommunalwahl. Der Minister unterstützt den Versuch mehrerer LR-Senator*innen, Zugang zu verschlüsselten Chats zu erzwingen, angeblich um den Drogenhandel einzudämmen. Ein solches Vorgehen würde mehrere internationale abkommen verletzen.

Im Januar gratulierte er der Aktivist*innengruppe Nemesis zu ihrem „Kampf“ und fügte hinzu: „Sie wissen, dass ich ihnen sehr nahe stehe.“ Nemesis ist eine rechtsextreme vermeintlich feministische Gruppe, die aus der in Frankreich verbotenen Génération identitaire hervorgegangen ist, dem Pendant der Identitären Bewegung. Retailleau behauptete, nichts davon gewusst zu haben. Dies ist jedoch höchst unwahrscheinlich: Im Laufe seiner Karriere hat er die Obsession von Nemesis mit der Einwanderung geteilt. Es stellt sich auch die Frage, ob die eher relativierenden Reaktion der Polizei auf rechtsextreme Gewalt durch die politische Ausrichtung des Ministers gefördert wird. Zwei aktuelle Fälle kommen in den Sinn, einer in Paris und einer in Rennes.

Am 8. März, dem internationalen feministischen Kampftag, konnte Nemesis abseits der Hauptdemonstration eine rassistische Demonstration veranstalten. Gleichzeitig und zum ersten Mal wurde ein nächtlicher liberal-feministischer Marsch, der von „Reclaim the Streets“ inspiriert war, verboten, bevor ein Richter diese Entscheidung schließlich aufhob. Beide Entscheidungen wurden vom Pariser Polizeipräfekten getroffen, der unter dem Befehl von Retailleau steht.

Hauptfeind Migration

Am 29. September 2024 erklärte der Innenminister, dass „Einwanderung keine Chance für Frankreich” sei, und verwendete damit einen Satz von Jean-Marie Le Pen, dem Gründer des rechtsextremen Front National, der heute Rassemblement National (RN) heißt. Bereits 1997 erklärte Retailleau, dass Migration eine „Bedrohung“ sei, weil „die Schaffung einer multikulturellen Gesellschaft mit der Nebeneinanderstellung von Bevölkerungsblöcken zwangsläufig zu einer multikonfliktiven Gesellschaft führen wird“. Er sagte weiter: „Die Menschen, die hierher kommen, insbesondere afrikanische Einwanderer, haben nicht die gleiche Kultur wie wir, sie kommen oft nicht, um Franzosen zu sein, sondern um die französischen Sozialrechte auszunutzen.“ Im Juli 2023, während der gewalttätigen Proteste nach der Tötung des 17-jährigen Nahel Merzouk durch einen Polizisten in Nanterre, urteilte er, dass „es für die zweite, dritte Generation eine Art Regression zu ethnischen Ursprüngen gibt“.

Als Innenminister ist Retailleau von der Idee besessen, so viele illegale Einwanderer wie möglich abzuschieben, wobei er sich als Vorwand auf angeblich „gefährliche Einwanderer“ konzentriert. Im Januar unterzeichnete er einen Ministerialerlass, der es illegalen Einwanderer*innen schwerer machen soll, ihren Status zu legalisieren. Mitte Februar führte Retailleaus Verurteilung der gerichtlichen – und vollkommen legalen – Entscheidung gegen die Ausweisung eines algerischen Influencers zu einer Welle von Drohungen gegen die Richter*innen von der extremen Rechten.

Seit mehreren Monaten weist er unaufhörlich auf die mangelnde Zusammenarbeit Algeriens hin, das sich weigert, Visa für Personen auszustellen, die Retailleau abschieben will und droht dem nordafrikanischen Staat ganz offen: „Von nun an ist meine Linie (…) auch die der Regierung. Wenn Algerien seine gefährlichen Staatsangehörigen nicht zurücknimmt, werden wir eine abgestufte Antwort einleiten.“ Den ersten Schritt hat der Innenminister gerade erst am 17. März getan: Nachdem Algerien sich geweigert hatte, 60 Personen, die Frankreich unbedingt ausweisen will, aufzunehmen, dürfen nun Diplomat*innen aus dem nordafrikanischen Land nicht mehr wie bisher ohne Visum nach Frankreich einreisen.

Mittlerweile hat der Minister damit gedroht, den Vertrag von 1968 zu kündigen, der die Einwanderung aus der ehemaligen französischen Kolonie durch Familienzusammenführung erleichtert. Für den Fall, dass ihn die Regierung oder der Präsident von seiner obsessiven Beschäftigung mit Algerien abhalten sollte, hat Retailleau sogar seinen Rücktritt in den Raum gestellt. Die diplomatische Krise mit der ehemaligen Kolonie hat sich seit letzten Sommer nur noch verschlimmert, damals hatte Emmanuel Macron Marokko die Souveränität über die Westsahara zugebilligt.

Seit Monaten wird die Frage der OQTF („Obligation de quitter le territoire français”, zu deutsch: „Verpflichtung, das französische Staatsgebiet zu verlassen”, faktisch eine Abschiebung) von konservativen und rechten Politikern wie Retailleau instrumentalisiert. Jede Nachricht, die einen Migranten betrifft, dient als Vorwand, um sich gegenseitig mit Abschiebeforderungen zu übertrumpfen, wie der Mord an einer jungen philippinischen Frau durch einen schizophrenen algerischen illegalen Einwanderer im vergangenen September. Gleichzeitig ist Frankreich der europäische Rekordhalter bei geplanten Abschiebungen, von denen die meisten aber unmöglich durchführbar sind. Nur 6,4 Prozent werden tatsächlich ausgeführt.

Um Retailleaus alte Besessenheit von der Einwanderung zu verstehen, ist es notwendig, einen Schritt zurück in die Vergangenheit zu machen.

Reaktionärer katholischer Hintergrund

In Cholet geboren und aufgewachsen, im Herzen einer Region, die von der Erinnerung an den gegenrevolutionären „Aufstand der Vendée“ geprägt ist, wurde Retailleau von Philippe de Villiers politisch ausgebildet und lange gefördert. Der sogenannte  „Viscount“, ein Adelstitel der im deutschen nicht geläufig ist, entdeckte den 17-jährigen Bruno als der noch als Reiter in seinem Vergnügungspark „Le Puy du Fou” jobbte. Bald übernahm Bruno Verantwortung in der Show- und Parkorganisation und war bis 2010 sogar Park-Direktor. Er leitete auch Alouette FM, einen von De Villiers gegründeten Musikradiosender. Park und Sender gehören noch immer der Familie De Villiers.

De Villiers ist eine Randfigur der französischen Politik, auch wenn er mehrmals zum Abgeordneten auf Eben des Departemenst und ins EU-Parlament gewählt wurde.

Als konservativer Katholik ist er lokal gut etabliert. Mit „Le Puy du Fou“ überarbeitet er seit 1978 die Geschichte der Vendée und konstruiert einen „nationalen Mythos“ um die Region. Der Aufstand der Vendée (französisch: guerre de Vendée) war der bewaffnete Kampf der royalistisch-katholischen Landbevölkerung des Départements Vendée und benachbarter Départements gegen Truppen der Ersten Französischen Republik von 1793 bis 1796. Der Park gilt als eines der beliebtesten Ausflugsziele in Frankreich und wurde 2016 sogar vom damaligen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron besucht.

Politisch hat De Villiers zwei große Themen: Seinen Erzfeind, die EU und die angebliche „Islamisierung“ Frankreichs. Er verteidigt die „christlichen Wurzeln Frankreichs“ und zeichnete sich durch seine Unterstützung des katholischen Privatschulwesens und seine Ablehnung der Abtreibung aus. In der Vergangenheit unterstützten er und Retailleau „La Manif pour Tous“, die französische Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe.

Katholischer Kulturkampf

Beide Männer versuchten jahrelang, die strikte Neutralität gegenüber Religionen zu umgehen, die die französische „Laïcité“ den öffentlichen Institutionen auferlegt. Ab 1989 bauten die beiden jedes Jahr zu Weihnachten eine Krippe im Gebäude des Generalrats der Vendée auf. Was wiederum regelmäßig vom Verwaltungsgericht und zivilgesellschaftlichen Organisationen angefochten wurde. Retailleau prangerte einen „totalitären Laizismus“ und einen „modernen Terror“ in Anspielung auf die Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution an. Nach jahrelangen Kämpfen erkannte ein Tribunal 2017 schließlich die Legitimität dieser Krippe an, da sie „eine kulturelle Tradition von mehr als 20 Jahren“ sei. Der Verein La Libre Pensée reagierte: „Es ist eher kurios und enttäuschend. Wir sagen, es sind 25 Jahre der Nichtbeachtung des Gesetzes.“

De Villiers und Retailleau zerstritten sich 2010, als letzterer für ein Ministeramt unter der Regierung von François Fillon als Premierminister gehandelt wurde. Fillon ist ein weiterer enger Freund von Bruno Retailleau, beide Männer kennen sich seit 1998 und teilen dieselbe reaktionäre, vom Katholizismus inspirierte Vision. Retailleau leitete die „Mikropartei“, die zur Finanzierung von Fillons erfolglose Kampagne für die Präsidentschaft der Republik gegründet wurde.

Offiziell gilt der rechtsextreme RN als politischer Gegner. Dennoch gibt es diskrete Kontakte, die auf regionaler Ebene aufgebaut wurden, als Retailleau von 2016 bis 2017 den Regionalrat des Pays de la Loire leitete, aber auch während seines Mandats als Präsident der LR-Fraktion im Senat. Seine katholischen Netzwerke haben dabei sehr geholfen. Darüber hinaus sind Retailleau und der RN in vielen Fragen der Einwanderung oder der französischen Identität einer Meinung.

Laut Pascal Gannat, dem ehemaligen Stabschef von Jean-Marie Le Pen und Vorsitzenden der RN-Regionalfraktion, war ihre Beziehung im Großen und Ganzen gut: „Ich bin Katholik, und er auch, also gehörten wir zum gleichen lokalen konservativen Milieu. Wir kannten und mochten uns in dieser Zeit. Wir teilten die gleiche Bewunderung für liberale Ökonomen wie Friedrich Hayek und Frédéric Bastia.“ Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass Retailleau sowohl bei RN- als auch bei Macron-Anhängern Zustimmungswerte von bis zu 70 Prozent genießt. „Ich habe keine Grenzen“, sagt er.

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