Vor dreieinhalb Jahren machten Neonazis aus dem Umfeld des NPD-Kaders Thorsten Heise in Thüringen Jagd auf zwei Journalisten und verletzten sie schwer. Während des Prozesses gegen die mutmaßlichen Angreifer vor dem Landgericht Mühlhausen wurden am Montag vier Polizeibeamte vernommen. Sie waren an den Ermittlungen am Tatort beteiligt. Am Tattag, dem 29. April 2018, waren sie konkret damit betraut, an den Häusern des Neonazis Thorsten Heise zu ermitteln. Erfolgreich waren sie dabei nicht. Mehr noch: Für die Ankläger:innen und die Opfer des Überfalls taten sich dabei jedoch enorme Abgründe der Ermittlungsarbeit auf. Denn die Aussagen der Streifenpolizisten zeigten eklatante Mängel in den Ermittlungen direkt nach dem Tatgeschehen auf. Es scheint, als hätten sie ohne jeden Versuch des Eingreifens zugesehen, wie die Beschuldigten und weitere Personen aus deren Umfeld kurz nach der Tat Beweise vernichteten. „Die Qualität der Ermittlungsarbeit der Polizeibeamten vor Ort ist abgründig, grenzt an Arbeitsverweigerung und ist einzig mit schlechter Ausbildung nicht mehr zu erklären“, ärgert sich Rechtsanwalt der Anklage, Sven Adam, über die Ermittlungsfehler der Eichsfelder Polizei.
Am 29. April 2018 waren zwei 26-jährige Journalisten aus Recherche-Gründen vor dem Grundstück des NPD-Funktionärs Thorsten Heise in Fretterode im Landkreis Eichsfeld. Als die beiden Göttinger Journalisten bemerkt wurden, begann eine wilde Verfolgungsjagd mit Autos. Zwei Neonazis gingen bewaffnet mit einem Baseballschläger, einem Messer, einem etwa 40 Zentimeter großen Schraubenschlüssel und Pfefferspray direkt zum Angriff über. Ein Angreifer schlug mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf des einen Journalisten. Der erlitt eine blutende Wunde. Der andere Journalist trug eine Stichverletzung am Oberschenkel davon. Nach ihrem Angriff fuhren die beiden Neonazis mit ihrem Auto wieder Richtung Fretterode. Bei den beiden mutmaßlichen Tätern handelt es sich um Heises Sohn Nordulf und um Heises politischen Ziehsohn Gianluca Bruno. Die beiden Angegriffenen erkannten die mutmaßlichen Täter und informierten die Polizei, die daraufhin zwei Streifenwagen zum Anwesen von Thorsten Heise schickte.
Ein Wagen stellte sich dann vor, der andere hinter das Haus, auf dessen Grundstück das Auto der Angreifer parkte. Der hintere Wagen hatte Anweisungen zur Observation des Autos, sollte aber das Gelände laut Einsatzbefehl nicht betreten. Obwohl die Beamten das Auto auf dem Heise-Gelände beobachteten, konnten diverse Personen, darunter Thorsten und seine Ehefrau Nadine Heise, sowie ein nicht näher identifizierter „Mieter“ unter den Augen der Beamten über Stunden etliche Gegenstände aus dem Fahrzeug entnehmen und hineinlegen, berichtet NSU Watch vom Prozess. Weder fertigten die Polizisten Bilder der Personen an, noch schritten sie ein. Zwei Stunden hätten die mutmaßlichen Täter und Familie Heise also Zeit gehabt, um Beweise verschwinden zu lassen, bis mit einer „Durchsuchung“ des Wohnhauses der Familie Heise begonnen wurde. Zwei Beamte wurden schließlich von Thorsten Heise eingeladen, das Haus zu durchsuchen. Heise führte die beiden Beamten durch sein Haus, wobei sie lediglich in großen Schränke schauten, aber keine Schubladen öffneten. Primär seien sie auf der Suche nach der flüchtigen Person gewesen, erst nachrangig ging es um Diebesgut und Tatwaffen. Nach denen habe man zwar die Augen offengehalten, man sei aber davon ausgegangen, dass es noch eine gründliche Durchsuchung geben würde, so einer der Polizisten vor Gericht. Eine solche Durchsuchung ist im Anschluss nie erfolgt. Auch auf die Frage, warum ausgerechnet das Nachbargebäude, das ebenfalls im Besitz von Heise ist und in dem einer der mutmaßlichen Täter lebte, nicht durchsucht wurde, hatten die Beamten keine Antwort. Allerdings gaben sie an, dass ihnen der Namen und eben jene Adresse des mutmaßlichen Angreifers Gianluca Bruno, der im Nachbarhaus wohnte, bekannt waren.
Noch während der Verfolgungsjagd waren die Journalisten so geistesgegenwärtig, Fotos von ihren Angreifern zu machen und die Tat zumindest teilweise zu dokumentieren. Beweismittel, die angesichts der schlampigen Polizeiarbeit von enormem Wert sind. „Hätten die beiden Betroffenen die SD-Karte mit Fotos von einem der Täter nicht gesichert, könnten die Täter für diese brutale Tat nicht belangt werden“, so Rechtsanwalt der Anklage, Sven Adam.
„War das in Ordnung, was ich da gerade gesagt habe?“
Doch die „Polizeipannen“ sind damit noch nicht zu Ende: Nach ihren Aussagen sprachen zwei der Beamte in einer Verhandlungspause mit dem Verteidiger von Heises Sohn, dem Szeneanwalt Wolfram Nahrath, damals Pflichtverteidiger des NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben. Zeugen berichten, dass einer der bereits vernommenen Beamten Nahrath fragte: „War das in Ordnung, was ich da gerade gesagt habe, oder war das total kacke?“ Die Eichsfelder Polizei sei keine Hilfe gewesen, meint Rechtsanwalt Adam. Außerdem lässt „das Gespräch mit einem der Verteidiger in einer Verhandlungspause unangenehm viel Raum für Spekulationen hinsichtlich der Gründe für dieses Versagen“, so Adam.
Wie genau das Verhältnis der Beamten in diese klandestine Neonazi-Szene um Thorsten Heise ist, darüber können auch wir nur spekulieren. Vor Gericht gab einer der Beamten an, man habe öfter mit dem Haus der Heises zu tun. Ab und an kämen Leute von der Göttinger Antifa, die sich als Journalisten ausgäben. Über diese Aussage sind die beiden Journalisten besonders sauer. „Das ist nur ein weiteres Beispiel für die von den Nazis vorangetriebene Täter-Opfer-Umkehr, da frage ich mich schon, ob dem Beamten die Wichtigkeit der journalistischen Recherche über das Netzwerk bewusst ist“, so einer der Angegriffenen gegenüber Belltower.News.
Angriff hätte tödlich enden können
Das Verfahren am Landgericht Mühlhausen ist keine Lappalie, es wurden mit Baseballschläger, Messer, einem großen Schraubenschlüssel und Pfefferspray auf die Journalisten eingewirkt, die nur mit Glück keine tödlichen Verletzungen erlitten. Das ergab auch das Gutachten der Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Jena, Frau Prof. Dr. Gita Mall, das am achten Verhandlungstag, am Dienstag, den 5. Oktober, gehört wurde. Es ging um die Frage, ob der Angriff der beiden Täter auch hätte tödlich enden können. Sowohl der Messerstich im Bein des einen Journalisten, wie auch der Schlag mit dem Schraubenschlüssel, der einen Bruch des Stirnknochens des anderen Journalisten verursachte, hätten lebensbedrohlich sein können, so das Gutachten. „Es ist sehr belastend zu wissen, dass der Angriff auch tödlich hätte enden können, wenn ich mich im Auto nur anders bewegt hätte“, sagt einer der beiden Journalisten gegenüber Belltower.News. „Aber eigentlich wusste ich es auch schon vor dem Gutachten, schließlich können Angriffe mit Messern immer tödlich enden.“
Angreifer geben sich selbstbewusst
Es sei sehr belastend, nun im Prozess dreieinhalb Jahre später wieder auf die beiden mutmaßlichen Angreifer zu treffen, erzählt der Journalist. „Die beiden strotzen nur so vor Selbstsicherheit und scheinen sich keine großen Sorgen wegen einer Verurteilung zu machen.“ Zum Prozess kommen die beiden Angeklagten mit dem Tatfahrzeug.