Am 24. Februar wachte ich um 5 Uhr morgens durch einen lauten Knall auf. Es war nicht das erste Mal: In den Wochen zuvor hatten mich Feuerwerkskörper und Bauarbeiten aus dem Schlaf gerissen — es waren Geräusche, die mich angesichts der ständigen Kriegsgefahr in der Ukraine und der russischen Truppen, die sich an unserer Grenze sammeln, nervös machten. Aber dieses Mal war es anders. Diesmal war es real. Ich schaute auf mein Handy und sah die lang gefürchteten Nachrichten auf meinem Bildschirm aufblitzen: „Putin führt ‚Spezialoperation’ in der Ukraine aus“.
Im Redaktionschat ging eine Meldung nach der anderen ein, während meine Redaktionskolleg:innen von Kyiv Independent sich bemühten, herauszufinden, welche Orte von dem ersten Sperrfeuer russischer Raketen getroffen worden waren. Dann wurde mir klar, dass ich durch das Geräusch einer russischen Rakete aufgewacht war, die eine Militärbasis nördlich meines Wohnhauses getroffen hatte. Diese Möglichkeit hatten wir seit Monaten diskutiert. Aber jetzt fiel es mir schwer, mich der Realität zu stellen. Es war schwer zu begreifen, dass Russland nicht nur die Grenze zur Ukraine überschritten, sondern auch begonnen hatte, Städte im ganzen Land anzugreifen. Dass wir uns im Krieg befinden.
Nachdem ich den Schock überwunden hatte, weckte ich meine Frau und wusste nicht, wie ich ihr sagen sollte, dass wir uns nun mitten in einem potentiellen Kriegsgebiet befanden. Alles, was ich sagen konnte, war: „Wir müssen unsere Koffer packen.“ Sie verstand sofort, was das bedeutete. In aller Eile packten wir eine große Reisetasche, sowie einen Rucksack pro Person mit unseren wichtigsten Dingen, Wertsachen und Dokumenten. Dann erzählten wir unseren beiden Töchtern, dass wir ihre Urgroßeltern für ein paar Tage besuchen würden. Wie bei jedem Kind war die erste Sorge meiner vierjährigen Tochter, welche Spielsachen sie für den bevorstehenden Ausflug mitnehmen sollte. Nichts brach mir mehr das Herz, als sie sich ihren Lieblingsplüschhasen aussuchte und sagte, es gäbe keinen Grund, noch mehr Spielzeug mitzunehmen, denn „wir können es ja morgen wieder holen.“
Wir suchten nach einem Weg aus Kyjiw heraus. Wir hatten weder Auto, Verwandte, die uns mitnehmen konnten, also begann ich, über Mitfahr-Apps nach einer Mitfahrgelegenheit zu suchen, ein fast aussichtsloses Unterfangen. Nachdem uns mehrere Fahrer abgesagt hatten, gelang es uns, doch noch jemanden zu finden. Die Fahrt kostete das Vierfache des normalen Preises. Zum Glück waren wir auf diese Situation vorbereitet und hatten genug Bargeld dabei.
Die Fahrt aus der Stadt heraus fühlte sich an wie die Eröffnungsszenen eines Apokalypse-Films. Riesige Warteschlangen an den Tankstellen, Verkehr in allen Richtungen und grimmige Blicke bei allen, die wir passierten. Der Fahrer kannte die Stadt gut und wir schafften es schneller raus, als diejenigen auf der Hauptautobahn. Trotzdem brauchten wir für die Fahrt, die normalerweise 50 Minuten dauert, fünf Stunden.
Wir verbrachten die Nacht bei meinen Großeltern in einem Dorf namens Hrebinky am Rande von Bila Tserkva — etwa 60 Kilometer südlich von Kyjiw. Am nächsten Morgen überzeugten wir meine Großeltern mit Hilfe der Schwester meines Großvaters, in die Westukraine zu fahren. Nach einer weiteren neunstündigen Fahrt, die unter normalen Umständen nur drei Stunden gedauert hätte, kamen wir in einem Dorf an, das etwa eine Stunde von der westukrainischen Stadt Vynnitsia entfernt lag.
Nachdem wir dort zwei Tage verbracht hatten, fuhren uns Verwandte zur moldawischen Grenze, die wir zu Fuß überquerten. Da ich kanadischer Staatsbürger bin, konnte ich ausreisen. Auf der anderen Seite der Grenze wurden wir von Freiwilligen empfangen, die uns Unterkunft und Verpflegung gaben und uns moralisch unterstützten. Eine andere Freiwilligengruppe arrangierte die 13-stündige Fahrt nach Bukarest. Die gleiche Gruppe sorgte für die Unterbringung meiner Familie und anderer Flüchtlinge, die mit uns reisten. Nach zwei Nächten machten wir uns auf den Weg nach Toronto, Kanada.
Während unserer Flucht war ich hin- und hergerissen. Ich versuchte mein Bestes, um meine Kollegen bei Kyiv Independent zu unterstützen — trotz des lückenhaften Internets, das es mir nur zeitweise ermöglichte, zu helfen. Und wann immer ich Empfang hatte, scrollte ich endlos durch die neuesten Informationen über die Situation vor Ort. Ich fühlte mich extrem schuldig, weil ich nicht mehr tun konnte. Gleichzeitig wusste ich, dass meine Hauptverantwortung darin bestand, für die Sicherheit meiner Frau und meiner Kinder zu sorgen.
Zu diesem Zeitpunkt war das Team des Kyiv Independent bereits über die gesamte Ukraine verteilt. Einige Reporter, die sich bereits in sicheren westlichen Ländern aufhielten, hielten den Informationsfluss aufrecht, während sich die Reporter in der Ukraine kurz ausruhen konnten. Jeder von uns investierte so viel Zeit wie möglich, um 24 Stunden am Tag schnelle und genaue Informationen zu liefern — eine wichtige Aufgabe inmitten eines parallel verlaufenden Desinformationskriegs.
Unsere Bemühungen haben sich gelohnt: Auf Twitter wuchs der neue Kanal von Kyiv Independent innerhalb einer Woche von rund 20.000 Follower:innen auf über 1,6 Millionen. Unserem Nachrichtenportal gelang es, weltweite Aufmerksamkeit zu erlangen — ein Beweis für unsere zuverlässige und schnelle Berichterstattung. Unser Beitrag zur Unterstützung der Ukraine besteht darin, der Welt verständlich zu machen, was hier geschieht und welche Gräueltaten von Russland begangen werden. Dies war eine treibende Motivation für unser Team. Mehrere unserer Reporter:innen sind in Kyjiw geblieben, obwohl es zahlreiche Gelegenheiten gab, in den sicheren Westen zu fliehen. Einige Reporter verließen Kyjiw zunächst, beschlossen dann aber, zurückzukehren, um weiter vor Ort zu berichten. Wir haben jetzt sechs Journalist:innen an den Fronten von Putins Invasion, die Interviews, Bildmaterial und Berichte aus erster Hand über den Krieg liefern.
Mit der neu gewonnenen Aufmerksamkeit kamen öffentliche Anerkennung und finanzielle Mittel. Aber es brachte auch ein größeres Verantwortungsgefühl mit sich. Das Team achtet ständig darauf, den Krieg so sachlich wie möglich darzustellen, indem es russische Propaganda und Fälschungen überprüft, aber auch sicherstellt, dass die Informationen aus der Ukraine korrekt sind. Das bedeutet viel Stress, da die Menschen uns als Hauptquelle für Informationen über die Ukraine ansehen. Wir tun, was wir können, um diese Erwartungen zu erfüllen.
Der Krieg kam nicht unerwartet. Wir haben seit 2014 einen anhaltenden Krieg. Er hat sich jedoch in seiner Brutalität und seinem Ausmaß verschärft. Jetzt, da die Invasion alle Teile der Ukraine erreicht hat, zeigt sich die Widerstandsfähigkeit des ukrainischen Volkes. Die Erfahrungen der Ukrainer mit dem Krieg sind sehr unterschiedlich. Einige greifen zu den Waffen, um zu kämpfen, obwohl sie noch nie eine Waffe in der Hand hatten. Andere helfen auf jede erdenkliche Weise mit, vom Kochen bis zum Füllen von Sandsäcken, um Kyjiw vor weiteren Angriffen zu schützen. Der Krieg hat das Leben aller Menschen in der Ukraine aus den Angeln gehoben, alle sind davon betroffen. Aber er hat die Nation auch zusammengeführt. Der früher umstrittene Präsident Zelenskyy ist ein Held geworden. Selbst die Opposition kann nicht anders, als ihn für sein Handeln zu loben.
Der Krieg hat gezeigt, dass sich die Ukrainer:innen nicht so leicht von Russlands autoritären Methoden unterkriegen lassen. Aber wir brauchen auch dringend die Unterstützung des Westens, um dem Riesen, der uns unterdrücken will, die Stirn zu bieten. Viele Ukrainer glauben, dass wir nicht besiegt werden, sondern siegen werden. Wir hoffen nur, dass der Krieg bald zu Ende ist, um die Verluste und das Leid, das die russischen Streitkräfte verursacht haben, so gering wie möglich zu halten.
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Sergiy Slipchenko ist politischer Reporter bei der Online-Zeitung Kyiv Independent. Zuvor schrieb er für die Kyiv Post. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Rechtsextremismus, Desinformation und internationalen Beziehungen.