Etwa 40 Prozent der Menschen in Deutschland haben bereits die dritte Impfung gegen das Coronavirus erhalten. Währenddessen ziehen tausende Demonstrant:innen gegen eine Impfpflicht auf die Straßen. Auch auf TikTok ist die Corona-Impfung dieses Jahr ein umstrittenes Thema gewesen. Impfgegener:innen nutzten die Plattform, um sich zu vernetzen, zu mobilisieren und sich als Opfer zu stilisieren.
Stiche, Stitches, Shirtduette
Seit es die Coronaimpfung gibt, ist diese auch Thema auf der Plattform TikTok. Impfgegner:innen haben die Plattform für sich entdeckt und nutzen diese zum Teil mit Erfolg. Unter dem Hashtag #ungeimpft sammeln sich zahlreiche Positionierungsvideos von Menschen, die mal stolz, mal trotzig verkünden, dass sie sich nicht impfen lassen werden.
Schon im März 2020 versuchten deutsche Querdenker:innen, einen TikTok-Trend zu starten. Sie nutzten die Duettfunktion, um gemeinsam die Zeile eines Songs des Rappers Sido zu singen („Wichtig ist, dass du dich nicht verstellst, richtig ist, was du für richtig hältst“). Dabei zeigten sie vor allem ihre #ungeimpft-Shirts vor. Der Webshop, bei dem die Ungeimpften die T-Shirts erstehen können, nimmt ebenfalls an der Aktion teil. Das meist geschaute Video der Reihe hat 79.500 Aufrufe. Die anknüpfenden Duette bringen es ebenfalls noch auf mehrere tausend Views. Ein Achtungserfolg. Nichtsdestotrotz versandet die Aktion schnell.
Doch Querdenker:innen schaffen es immer wieder, hohe Reichweiten auf der Plattform zu erreichen. Eine Creatorin geht mit einem Video viral, in welchem sie sich ein „#ungeimpft“ -Tattoo stechen lässt. Das Video hat 27.000 Aufrufe. Sie hat es in ihrem Profil fixiert, es wird also als erstes angezeigt, wenn Menschen ihr Profil besuchen. Sie fotografiert ihr Handtattoo gemeinsam mit zwei weiteren Personen, die sich dasselbe Tattoo haben stechen lassen. Es folgen vier weitere Videos, in welchen sie stolz mit ihrem Tattoo vor der Kamera posiert. Die Creatorin bekennt sich dazu, sich nicht zu testen, sich nicht zu impfen und lieber zu Hause zu bleiben. Ihre anderen TikToks zeigen aber Aufnahmen außerhalb der Wohnung. In den Kommentaren wird ihr gratuliert, die Aktion als mutig bezeichnet. Ein User schreibt „jedem das seine“ – eine Andeutung, die auf das Motto am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald hinweisen kann.
Rebellen und Reinblüter – Popkulturelle Bezüge
Bei TikTok werden gerne Sound-Schnipsel oder Gesprächsfetzen aus Musikstücken, Filmen oder Serien über die eigenen Videos gelegt. Verwenden viele Nutzer:innen die gleichen Clips, so entwickelt sich ein Trend auf der Plattform. Denn der Algorithmus erkennt diese Häufung und verhilft den Beiträgen zu noch mehr Reichweite – sie gehen viral. Immer mehr Menschen werden dadurch auf die Vorlage aufmerksam und werden animiert, Videos im gleichen Stil zu produzieren. Impfgegner:innen machen sich das zunutze. Sie greifen vermehrt auf Sounds aus bei jungen Menschen beliebten Hollywood-Blockbustern zurück – so zum Beispiel „Tribute von Panem“ oder Harry Potter.
Dabei vereinnahmen sie eine Geste aus der „Tribute von Panem“-Reihe. Sie berühren mit drei Fingern den Mund und heben diese anschließend zum Gruß in die Luft. Unterlegt wird das Ganze mit dem vierstimmigen „Mockingjay“-Pfiff aus den „Tribute von Panem“-Filmen. Dieser Drei-Finger-Gruß und die Melodie werden in der dystopischen Filmreihe zu einem Zeichen der Rebellion und des Widerstands gegen das diktatorische Regime der Geschichte. In den vergangenen Jahren hatten bereits Demokratiebewegungen in Asien diese Geste übernommen. So wurde zuletzt dieser Gruß auch von Demonstrierenden bei den Protesten in Myanmar gezeigt. Die Impfgegner:innen übernahmen ebenfalls diese Geste und gaben ihr einen neuen Bedeutungszusammenhang, indem sie diesen als Grußbotschaft an ihre „umgeimpften Brüder und Schwestern“ verwendeten.
Impfgegener:innen ziehen hier also eine Parallele zwischen der Film-Dystopie und den Coronamaßnahmen der Bundesregierung und inszenieren sich als Teil einer Bewegung des Widerstands gegen ein vermeintliches Terror-Regime. Gezielt machen sie damit Stimmung gegen die Impfkampagne und suchen die Vernetzung mit anderen Impfgegner:innen. Manche berichten, dass sie Freund:innen wegen der Impfverwiegerung verloren haben, und suchen nun neuen Anschluss.
Die Creator:in, die den Sound zum Trend ursprünglich in einem anderen Kontext gepostet hatte, hat diesen mittlerweile umbenannt. Unter den Videos der Impfgegner:innen ist mittlerweile zu lesen „Screw Antivaxxers and get your vaccine“. Zu Deutsch „Scheiß auf Impgegner und lass dich impfen“. Doch das scheinen die Nutzer:innen des Sounds nicht bemerkt zu haben.
Eine besonders geschmacklose Instrumentalisierung sind Videos, die viral gingen, in denen Creator:innen verkündeten, dass sie zukünftig nicht mehr als „ungeimpft“ betitelt werden wollen. Stattdessen bezeichneten sie sich selbst als „Purebloods“, zu Deutsch: „Reinblüter“. Als Purebloods gelten im Harry Potter-Universum jene Zauberer, die aus rein magischen Familien abstammen und keine nicht-magischen Menschen als Vorfahren haben. In Teilen der magischen Welt sind diese Familien höher angesehen, während „muggelstämmige Zauberer“ als minderwertig betrachtet werden.
Die Nähe von reinblütig und reinrassig, die hier hergestellt wird, dürfte kein Zufall sein. Die Harry Potter-Anspielung dient hier als ein popkultureller Code, auf den man sich schützend beziehen kann. Darunter verbergen sich ein Bezug zur NS-Rassenideologie und antisemitische Bilderwelten von Reinheit und Schmutz.
- Mehr zum Antisemitismus der Impfgegner:innen:
https://www.belltower.news/verschwoerungsideologien-die-antisemitische-tradition-der-impfgegnerschaft-112515/
(Sch)Impfkampagne?
Im Sommer löste bereits eine Kampagne der Bundesregierung, die auf TikTok für eine Corona-Impfung bei der jungen Zielgruppe werben sollte, einen großen Shitstorm aus. Ziel war es eigentlich, mit ironischen Videos junge Menschen anzusprechen. Dabei wurden beliebte Influencer:innen geworben, um die gängigen „Ausreden“ von Ungeimpften mit den Mitteln der Überspitzung und der Satire zu konterkarieren. Doch die Kampagne ging nach hinten los. User:innen fühlten sich nicht ernst genommen und von der Zielgruppe wurde die Videos vielfach als Angriff verstanden. Es folgte ein Shitstorm gegen die teilnehmenden Creator:innen, welche daraufhin auch Todesdrohungen erhielten.
Da die Creator:innen die Videos auf ihren eigenen Kanälen hochgeladen hatten, waren diese selbst für die Kommentarspalten und Moderation verantwortlich. Scheinbar wurde vorab kein Community-Management-Konzept als Teil der Kampagne mitbedacht. Sichtlich überfordert von der Reaktion wurden die Videos schlussendlich wieder offline genommen. Die Kommunikation mit der Zielgruppe brach so abrupt ab, wie sie begonnen hatte. Anstatt Ängste zu nehmen und sich der Kritik zu stellen, wirkte es so, als hätte man die Zielgruppe aufgegeben.
Transgeimpft?
Und dann veröffentlichte eine Impfgegner:in im Dezember 2021 ein Video, in dem sie sich als „transgeimpft“ bezeichnete – wie sie sagt: „outete“.
Damit setzt sie ihren Unwillen, sich nicht impfen lassen zu wollen, mit dem, nicht selten, schmerzhaften Prozess des Bekennens zu einer Geschlechtsidentität von trans Menschen gleich – mit dem Ziel, nicht nur die Ungeimpftheit zu propagieren, sondern auch, um Transgeschlechtlichkeit lächerlich zu machen. Das Outing verkommt zum Witz und unterstellt trans Menschen Willkür. Transfeindlichkeit dient verstärkt als Scharnierfunktion zwischen Mehrheitsgesellschaft und rechtsextremen Akteur:innen.
Ein weiteres Video mit ähnlichem Framing, was besonders viele Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, wurde mittlerweile von TikTok gelöscht. Gleichzeitig sind Videos mit demselben Inhalt und über 35.000 Likes bereits seit Juni auf der Plattform online.
Wie geht TikTok vor?
TikTok selbst reagierte bereits sehr früh auf drohende Desinformation auf ihrer Plattform. Bereits im Dezember 2020, zu Beginn der Impfkampagne, veröffentlichten die Plattformbetreiber ein Maßnahmenpaket gegen Desinformation. Das Moderationsteam wurde geschult, Wissenschaftler:innen, die aufklärende Inhalte produzieren, wurden gefördert und User:innen dazu aufgerufen, Videos mit Falschinformationen zum Thema Covid-19 unter einer spezifischen Meldekategorie zu melden. Laut eigenen Angaben hatte TikTok bereits in den ersten drei Monaten 2021 über 30.000 Videos, die Falschinformationen zu Covid-10 verbreiteten, entfernt, davon 61 Prozent, bevor diese jemand zu sehen bekam (siehe Vice). Zudem wurden Videos über die Pandemie mit einem Banner markiert, welche die User:innen auf die Informationshub der Plattform verwiesen. Dort finden sich seitdem aktuelle Informationen und die Maßnahmen im Überblick.
Das Maßnahmenpaket hat allerdings Lücken. Videos, die den Hashtag #ungeimpft verwenden, wurden zum jetzigen Zeitpunkt 160,6 Millionen Mal auf TikTok aufgerufen, dazu kommen Varianten wie #ungeimpfte (19,6 Millionen) #teamungeimpft (9,7 Millionen) oder #ungeimpftundgesund (1,8 Millionen). Doch bei vielen dieser Videos sucht man das Infobanner noch immer vergebens. Selbst unter Videos mit den Hashtags #pfizer #moderna #biontech #impfschaden oder #impfen erscheint das Banner nicht – dafür aber, wenn das englische Pendant #antivaxxer (153 Millionen) eingegeben wird. Auch Vice und das Institute for Strategic Dialogue hatten bei ihren Recherchen weitere Mängel entdeckt. Mit der andauernden Pandemie, Omikron und der geplanten Impfpflicht, sieht es so aus, als könnte auch 2022 mit weiteren Videos zu Impfverweigerung und Querdenken zu rechnen sein. Es scheint auch TikTok scheint beim Kampf gegen die Pandemie eine Boosterimpfung zu gebrauchen.