Wenige Wochen nach Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 fasste die sogenannte „Querdenken”-Bewegung auch in München Fuß. Über mehrere Monate hinweg ließ sich nicht nur ein stetiger Zuwachs an Teilnehmenden beobachten, sondern auch eine Radikalisierung. Laut der Fachinformationsstelle Rechtsextremismus in München nahmen an der größten „Querdenken”-Kundgebung im September 2020 etwa 10.000 Menschen teil, unter ihnen 40 Rechtsextreme, wobei es vermehrt zu antisemitischen Vorfällen kam. Im Zuge der aktuellen Lockerungen von Corona-Maßnahmen nehmen jedoch immer weniger Menschen an entsprechenden Kundgebungen teil, und innerhalb der Bewegung gibt es vermehrt Kritik an Wortführer:innen die mit Spendengeldern gut verdient haben sollen.
Pandemie-Leugner:innen verlieren also an Boden — eine Entwicklung, die sich im Münchner Stadtbild allerdings noch nicht beobachten lässt. Seit Beginn der Pandemie scheinen sich hier Graffitis mit verschwörungsmythischen Inhalten schlagartig zu vermehren. Gängige Parolen mit Bezug auf die Corona-Pandemie lauten etwa „Der schlimmste Virus ist blinder Gehorsam“, „Die Angst vor dem Tod raubt uns den Mut zum Leben“ oder „Mit eurer Angst steck ich mich nicht an“. Die unverhältnismäßige Anzahl solcher und vergleichbarer Aussagen, welche allesamt die Folgen einer Corona-Infektion verharmlosen und notwendige Kritik an staatlichen Seuchenschutzmaßnahmen verdrehen, ist der Anlass für eine Bestandsaufnahme. Denn in beliebten Münchner Vierteln wie Giesing oder Sendling sind sie überall zu finden – an Wänden, Unterführungen und Treppen, wobei inhaltlich deutlich mehr Themenbereiche abgedeckt werden als nur die Corona-Pandemie: Ablehnung von Technologisierung („Smash your iPhone“, „FCK 5G“) und dem Konsum von Popkultur („TV kills your brain“) fallen in einem stark vereinfachtes Weltbild zusammen, wobei es thematische Überschneidung gibt („Revolte und Randale statt Lockdown und Netflix“). Ausschlaggebend für die Annahme, dass für all diese Graffitis die jeweils gleichen Urheber:innen verantwortlich sind, sind nicht etwa die ideologische Nähe der Aussagen oder Ähnlichkeiten in Schrift und Farbe. Ein großes, eingekreistes A, also ein typisches Symbol des Anarchismus, einer herrschaftskritischen Strömung in der politischen Linken, ziert alle besagten Parolen. Trotz inhaltlicher Übereinstimmung mit Pandemie-leugnenden Erzählungen handelt es sich wohl nicht um das Werk von „Querdenken”-Anhänger:innen.
Natürlich überrascht es, dass Botschaften, die vermeintlich aus anti-emanzipatorischen und rechts-offenen Milieus kommen, von Anarchist:innen aufgegriffen werden, oder zumindest mit entsprechenden Symbolen versehen sind. Gleichzeitig betonen Expert:innen immer wieder, dass Verschwörungsmythen strukturell auftreten und deswegen nicht als rechtes Alleinstellungsmerkmal gelten können. Dieser augenscheinliche Widerspruch wird durch eine kurzen Überblick zu anarchistischen Aktivitäten in München aber zügig aufgelöst: Eine Google-Suche nach „Anarchismus in München“ führt neben allerlei interessanten Infos zur bayerischen Räterepublik auf die Seite des Wochenblatts Zündlumpen, welches sich selbst als anarchistisch deklariert und die meisten Zweifel an der Urheber:innenschaft besagter Schmierereien beseitigt. In der Kolumne Graffito der Woche gibt es Aufnahmen von beinahe allen oben zitierten Graffitis. Außerdem finden sich Bilder mit Sprüchen wie „I´d rather die of corona than live in a social coma“, „Die beste Corona-Party ist alles anstecken“, „Erst installierst du ihre App – dann kontrollieren sie dein Leben“, „die tödlichsten Viren sind der Kapitalismus und der Staat“, „Politiker und Medien in Quarantäne“ oder „der Planet brennt – wann brennen die Banken?“. Die linke Monatszeitung Analyse & Kritik berichtete bereits im August 2020 über den Zündlumpen, nachdem dieser den Angriff auf ein Team der heute-Show am 1, Mai 2020 in Berlin mit „(…) schön dass die bürgerliche Presse eins aufs Maul bekommen hat“ kommentierte. Laut A&K ist der Zündlumpen dem Insurrektionalismus zugehörig, einer Minderheiten-Ausprägung des Anarchismus, die auf „reinem Radikalismus“ sowie „Zivilisations- und Technikkritik“ beruht.
Die inhaltliche Ausrichtung des Zündlumpen reiht sich in das vereinfachte, nicht zuletzt auf Verschwörungsmythen beruhende Weltbild der Graffiti ein. In dem Artikel „Bis Palo Alto brennt…“ (05/2021) wird die Sabotage von Funkmast-Antennen in Frankreich als legitimes Mittel gegen eine „digitale Umstrukturierung“ gerechtfertigt. Der Verschwörungsmythos, dass Corona über 5G-Türme übertragen wird, soll nur „mit großer Wahrscheinlichkeit falsch sein (…)“, Intuition und Ziele seien aber „die Richtigen“. In „Ekstase in Zeiten der Cholera“ (01/2021) wird eine vermeintliche Impfpflicht mit der nationalsozialistischen Arbeitsethik gleichgestellt, Relativierungen des NS-Regimes tauchen im Zündlumpen insgesamt sehr häufig auf. Weiter wird behauptet, dass Corona kaum tödlicher als eine Grippe sei und dass alte Menschen „mit oder ohne Corona“ sowieso „an irgendwas sterben“. Die mediale Aufarbeitung von Corona wird als böswilliges Instrument der „Machthabenden“ verklärt, wobei „Realität“ angeblich immer etwas durch „Bildschirme und Lautsprecher vorgefiltertes“ sei. In „Bis in ihre Gemächer” (06/2021) werden prämoderne Weltanschauungen glorifiziert, welche durch die „jüdisch-christliche Vorstellung der Herrschaft des Mannes über die Natur“ vermeintlich ersetzt bzw. verdrängt wurden. Reproduktionstechnologien wie Schwangerschaftsabbrüche werden außerdem in die Nähe der Eugenik gestellt.
Diese eindimensionale Form der Kritik zieht sich wie ein roter Faden durch die Publikationen der „anarchistischen Zeitung aus München“. Reale Probleme wie Polizeigewalt, struktureller Sexismus und Rassismus, Gentrifizierung und staatliche Überwachung werden zwar benannt, eine Analyse dieser Zusammenhänge verbleibt jedoch meistens bei vereinfachten Schuldzuweisungen. Nicht selten werden „Spekulant:innen“, „die Politiker:innen“ oder nicht näher definierte „Mächtige“ als Verantwortliche für konkretes Leid festgelegt. In „Tod den Statistikern“ (04/2020) sind das ganz unverblümt „Bill Gates, Söder, WHO, Robert-Koch-Institut und ihre Handlanger“. Diffuse Personifizierungen sind wesentliches Merkmal von strukturellem Antisemitismus. Das bedeutet, dass nicht unbedingt Juden und Jüdinnen zum Sündenbock gemacht werden, sehr wohl aber eine strukturell vergleichbare Erzählung benutzt wird, um komplexe Zusammenhänge auf einzelne Personen zu reduzieren.
Verschwörungsmythen und latenter Antisemitismus erscheinen in München also nicht nur in Form von Corona-Leugner:innen und der extremen Rechten. Die Graffiti und die Wochenzeitung der Insurrektionalist:innen, welche das Terrain des Wissenschaftlichen und Demokratischen für eine dogmatische Ablehnung des Staates verlassen haben, stehen rechtsoffenen Verschwörungsmythen in nichts nach. Die reale Gefahr dieser Erzählungen wird unter anderem in „Corona und der Totalitarismus des Technologischen” (11/2020) eindeutig. In einem wahnhaften Geraune wird die Tötung von Melinda und Bill Gates und anderer „Mächtiger“ per Briefbombe gefordert: „Und wenn es auch nicht die Freiheit sein mag, die da im Inneren eines Päckchens zwischen den täglichen Amazon-Bestellungen vor sich hin schlummert, so wäre es doch vielleicht ein Schritt in ihre Richtung.“
Hier schlägt paranoide Herrschaftskritik in faschistoide Mordlust um. Vernichtungsphantasien sind nicht zufällig ein zentrales Merkmal von Verschwörungsmythen — diese Tendenz zur Destruktion wird bei den Insurrektionalist:innen erschreckend deutlich und real. Es bleibt zu hoffen, dass Aufklärung und eine Verbesserung der Zustände dieser Bewegung ebenso die Grundlage entziehen, wie es bereits zum Teil mit „Querdenken” geschehen ist.