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[Gegenaufklärung 2025] Cyberlibertarismus gegen liberale Demokratien

Demokratie und Universalismus stehen vor einer beispiellosen Bedrohung. Desinformation dominiert, Verschwörungserzählungen boomen und antidemokratische Narrative finden global immer mehr Gehör. Was treibt die Gegenaufklärung 2.0 an? Worauf berufen sich Antidemokrat*innen global im Jahr 2025? Was eint und trennt sie und wie lässt sich die Regression in den Neo-Feudalismus abwenden? Darum geht es in der Textreihe [Gegenaufklärung 2025].

 
[Gegenaufklärung 2025] (Quelle: Canva)

Jan Rathje ist Senior Researcher bei CeMAS und Politikwissenschaftler und beschäftigt sich mit Online-Rechtsextremismus, Rechtslibertarismus, Souveränismus von „Reichsbürgern“ und anderen sowie Antisemitismus. Hier beschreibt er, wie es eine krude Ideologie aus den Kindertagen des Internets es bis ins Weiße Haus geschafft hat.

Mitte Juli 2024 kam es in den USA in kurzer Abfolge zu zwei Ereignissen, die eine große Wirkung für die Gestaltungsmacht von Cyberlibertären hatten. Am 13. Juli versuchte ein 20-Jähriger den damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump während einer Open-Air-Kundgebung in Butler im US-Bundesstaat Pennsylvania zu erschießen. Er tötete einen Menschen und verletzte zwei weitere schwer. Donald Trump entging dem Anschlag um Haaresbreite und wurde nur leicht am Ohr verletzt. Der Secret Service tötete den Schützen. Während Personenschützer noch darum rangen, den Präsidentschaftskandidaten in Sicherheit zu bringen, richtete sich Donald Trump blutend auf, reckte die Faust in die Höhe und rief seinen Anhänger*innen zu: „Fight! Fight! Fight!“. Diese Bilder sollen auch Elon Musk, nach dessen eigenem Bekunden, dazu motiviert haben, Trumps Kandidatur durch eine Wahlempfehlung und mit insgesamt fast 290 Millionen US-Dollar zu unterstützen. Anschließend vertieften Musk und Trump ihre Kooperation. Musk konnte Trump davon überzeugen, als Berater in einem „Department of Government Efficiency“ (DOGE) extreme und möglicherweise illegale Kürzungen innerhalb der Bundesverwaltung vorzunehmen.

Das zweite Ereignis fand nur zwei Tage nach dem Attentatsversuch, am 15. Juli 2024, auf der Republican National Convention in Milwaukee statt. Dort wurde JD Vance, ein enger Vertrauter von einflussreichen Cyberlibertären, für das Amt des Vizepräsidenten nominiert. Vance war Protegé des extrem rechten Tech-Investors Peter Thiel, der Vances wirtschaftliche und politische Karriere finanziell förderte, und ist mit ihm auch durch mehrere gemeinsame Investitionen verbunden. Ein Netzwerk aus Tech-Investoren um Thiel, Jacob Helberg, unter anderem Berater bei dem von Thiel mitgegründeten Überwachungsunternehmen Palantir, und David Sacks, ehemaliger PayPal Manager und Investor, soll sich zuvor bei Trump für Vance ausgesprochen haben. Doch aus diesem Netzwerk ist es nicht nur JD Vance, der für die Regierung Trumps arbeitet. Jacob Helberg ist inzwischen zum hochrangigen Mitarbeiter im US-Außenministerium ernannt worden, David Sacks zum KI- und Kryptowährung-„Zar“, einem hochrangigen Vertreter der Exekutive, der Regierung von Donald Trump.

Während Musk innerhalb der Trump-Regierung als Vertreter von Big Tech gelten kann, zählt JD Vance zu den Vertretern von Small und Medium Tech, wenn es darum geht, Geld von der Regierung für Unternehmen, etwa durch Rüstungs- und Raumfahraufträge, zu akquirieren oder diese betreffende Regulierung zu beseitigen. Dieses Handeln kann als Ausdruck einer politischen Denkrichtung interpretiert werden, die als Cyberlibertarismus bezeichnet werden kann.

Was ist Cyberlibertarismus?

Cyberlibertarismus – auch als Californian Ideology oder Technolibertarismus bezeichnet – stellt eine besondere Ausformung der politischen Philosophie des Libertarismus dar. Der Libertarismus im Allgemeinen kann als maßgeblich bestimmt durch die Herstellung und Erhaltung individueller und wirtschaftlicher Freiheit sowie der Selbstbestimmung des Individuums beschrieben werden. Der Cyberlibertarismus zeichnet sich durch einen besonderen Bezug auf digitale Technologien aus, wenn es um die Erweiterung dieser Freiheiten geht. Der jüngst verstorbene Kritiker des Cyberlibertarismus, David Golumbia, stellt darüber hinaus fest, dass es sich nicht um ein kohärentes System handelt, sondern um eine Sammlung verschiedener, teils widersprüchlicher Vorstellungen. Cyberlibertarismus sei vor allem eine analytische Kategorie, mit der Handlungen und Netzwerke beschrieben werden können. Er biete außerdem eine Möglichkeit, auch auf damit verbundene problematische Gesellschaftsordnungsvorstellungen jenseits des Digitalen aufmerksam zu machen, die bis zu den Handlungen von DOGE nur am Rande thematisiert oder unkritisch reproduziert wurden.

Seinen Ursprung hat der Begriff in einem Artikel Langdon Winners aus dem Jahr 1997. Zu diesem Zeitpunkt war das Internet noch einer Anfangsphase seiner Entwicklung. Winners setzt sich in seinem Text mit der unkritischen Reproduktion der Ideologie Cyberlibertarismus in den damaligen Diskursen über digitale Vernetzung auseinander. Der Technikphilosoph schreibt, Cyberlibertarismus habe drei zentrale Eigenschaften: technologischen Determinismus, radikalen Individualismus und die Forderung nach einem unbeschränkten Kapitalismus. Dennoch bleibt anzumerken, dass es sich mehr um eine Sammlung unterschiedlicher Ideen und Praktiken als eine kohärente Ideologie handelt.

Aus der Perspektive der Cyberlibertären der 1990er Jahre stelle der technologische Fortschritt durch die globale Vernetzung von Computern eine unaufhaltsame Kraft dar, die die Welt radikal verändern werde. Die damit verbundene Informationsgesellschaft werde den Menschen mehr Freiheit ermöglichen als in den vorherigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Cyberspace stelle einen neuen Raum dar, den es zum Zweck der uneingeschränkten Selbstverwirklichung anzueignen gelte. Alle Handlungen, die das ermöglichen, seien durch dieses höchste Ziel nicht nur notwendig, sondern auch legitim. Damit diese Freiheit verwirklicht werden könne, dürfe das Eigentum an diesem Raum nicht Staaten zukommen, sondern müsse privat sein.

Im Anschluss an Winner hat David Golumbia diese Charakteristiken greifbarer zusammengefasst: Cyberlibertarismus ist das Bekenntnis zu der Überzeugung, dass digitale Technologien außerhalb der Kontrolle von (demokratischen) Regierungen stehen oder stehen sollen. Inzwischen habe sich dieses Dogma in eine Anzahl von Tropen und rhetorischen Strategien gewandelt, die die Art formten, wie die Öffentlichkeit über wichtige Themen spreche, anstatt die Behauptungen zu hinterfragen oder aus verschiedenen Perspektiven politisch zu verhandeln. Dies verdeutlicht sich beispielhaft am gegenwärtigen KI-Diskurs.

Cyberlibertarismus am Beispiel des KI-Diskurses

Seit dem Beginn dieses Jahrzehnts, maßgeblich allerdings mit der Veröffentlichung von OpenAIs Chat-GPT 2022, nahm der KI-Diskurs in Wirtschaft und Politik eine wichtigere Rolle ein als zuvor. Deutliche Parallelen zu den Behauptungen über den Cyberspace der 1990er Jahre zeigen sich nicht nur im – der Technologie zugeschriebenen – disruptiven Element, sondern auch im von Cyberlibertären proklamierten utopischen Potenzial von KI.

Die Künstliche Intelligenz werde alle Lebensbereiche durchdringen, was extreme Veränderungen für die Gesellschaft bedeuten, aber die Welt zu einer besseren machen würde. Hervorgehoben werden besondere Fähigkeiten dieser Modelle innerhalb großer Datenmengen Muster zu erkennen, was etwa bei der Behandlung und Prävention von Krankheiten bereits jetzt sehr nützlich ist. Darüber hinaus werden auch Entlastungen durch den Einsatz von KI angepriesen, etwa durch persönliche KI-Assistenten, die lästige Tätigkeiten übernehmen und bestimmte menschliche Arbeit überflüssig machen könnten. Unmittelbar bevor stehe außerdem die Produktion einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AGI), die eine Vielzahl menschlicher Arbeiten effizienter (schneller, genauer, ressourcenschonender etc.) verrichten könne, womit letztlich die großen Probleme der Menschheit zu lösen wären (z. B. die Klimakatastrophe). Da diese Technologie solches Erlösungspotential besäße, so die Behauptungen weiter, müsse deren Produzenten nicht nur immer mehr Kapital zugeführt, sondern es dürfe diese Entwicklung auch nicht durch Regulierung (z. B durch die EU) behindert werden. Hier ließe sich einwenden, dass es noch 2023, besonders prominent vorgetragen von OpenAI-CEO Sam Altman, einen Wunsch nach Regulierung von KI durch verschiedene Entwickler gab. Hinsichtlich des EU AI Acts, einer umfassenden Regulierung von KI in der Europäischen Union, führte der gleiche Altman jedoch im Februar auf einem Podium der TU Berlin an, dass diese Regulierung negative wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben werde.

Der aktuelle KI-Diskurs behandelt jedoch auch negative Aspekte der Verbreitung dieser Technologie, die jedoch den Hype über potenzielle Fähigkeiten weiter verstärken – etwa, wenn behauptet wird, KI werde in naher Zukunft sehr viele Menschen den Arbeitsplatz kosten. Doch auch hier soll Technologie Abhilfe leisten. Der Tech-Investor Marc Andreessen etwa prophezeit auf X – ohne weitere Belege –, dass KI nicht nur Löhne, sondern auch Preise für Waren und Dienstleistungen senken werde. Sam Altman gründete das Unternehmen Worldcoin, das Iris-Scans von Menschen zusammen mit einer Kryptowährung anbot, die für eine Art bedingungsloses Grundeinkommen genutzt werden sollte. Inzwischen wurde das Unternehmen in World umbenannt und verlagerte sein Geschäft stärker auf das massenhafte Sammeln von Irisdaten zur Identifikation von Individuen, um sie vor KI-generierten Deep Fakes zu schützen.

Probleme des Cyberlibertarismus

Cyberlibertarismus bietet verschiedene Probleme für demokratische Gesellschaften. Ein grundsätzliches Problem ist, dass seine Vertreter*innen ein negatives Verständnis von Freiheit propagieren, das eine Einschränkung von Individuen durch den Staat, etwa im Bereich der Wirtschaft oder der Redefreiheit, auch zum Wohle und Schutz von Minderheiten und der Gesellschaft ablehnt. Dies verdeutlicht sich beispielhaft an Elon Musks Kauf von Twitter. Er propagierte, die in X umbenannte Plattform zu einem Ort der Redefreiheit zu machen, was jedoch die Freiheit von Minderheiten, etwa Migrant*innen und sexuellen Minderheiten, von Diskriminierung einschränkte, indem Beschränkungen diskriminierender Accounts aufgehoben wurden. Ähnliches passierte auch auf Metas Plattformen Facebook und Instagram. Von diesem Aspekt cyberlibertärer Handlungen profitieren auch extrem rechte Akteur*innen weltweit, wie zuletzt der extrem rechte Aktivist Martin Sellner in der „neurechten“ Zeitschrift Sezession feststellte. Bei allen Unterschieden, so schrieb Sellner in Ausgabe 124, sehe er als Basis einer zeitlich begrenzten Zusammenarbeit „Realismus, Meritokratie, Exzellenz, Fleiß, Ablehnung des Egalitarismus und Kampf gegen die moralinsaure Sklavenmoral“.

Ein weiteres Problem des Cyberlibertarismus ist sein „move fast and break things“- Akzelerationismus, also die Beschleunigung von Prozessen, an die sich die Menschen anpassen müssten. In seiner aktuellen Ausformung scheint der Cyberlibertarismus die Beschleunigung der technologischen Entwicklungen auf das Politische übertragen zu wollen und zu können, was sich etwa an den Tätigkeiten von Musks DOGE in den USA verdeutlicht. Hier zeigt sich nicht nur die Vorstellung, dass der Staat digitale Technologien nicht regulieren solle, sondern besser gleich wie ein (Technologie-)Unternehmen zu führen sei, um dessen „Effizienz“ zu steigern.

Dies hat mehrere problematische Folgen, von denen zwei an dieser Stelle knapp umrissen werden sollen. Zum einen bürden Cyberlibertäre die Kosten eines solchen Vorgehens nicht nur Mitarbeitenden und Kund*innen auf – was bereits schlimm genug ist –, sondern vulnerablen Personengruppen, die vom Funktionieren bestimmter staatlicher Systeme abhängig sind. Zum anderen stellt dies ein Problem für deliberative (beratende) Demokratien dar, in denen Politik als Aushandlungsprozess der Bürger*innen stattfindet. Der beschleunigte und auf schnelle Entscheidung drängende Diskurs lässt wenig Zeit für eine umfassende Analyse, Reflexion, Kritik und Debatte, die für Entscheidungsprozesse innerhalb von Demokratien wichtig sind. Fragen nach der Richtigkeit der Behauptungen oder detaillierten Folgeabschätzungen der präsentierten Lösungsvorschläge werden damit an den Rand des Diskurses oder zeitlich sogar hinter die Entscheidung gedrängt.

Fazit

Cyberlibertarismus ist nicht erst seit der zweiten Amtszeit von Donald Trump zu einem Problem für liberale Demokratien geworden. Er ist seit Jahrzehnten Teil der Diskurse um digitale Technologien und hat diese über die Zeit geprägt. Dazu haben, vor allem in westlichen Gesellschaften, ein breiter Glaube an technologischen Determinismus, also der Unvermeidbarkeit technologischer Entwicklungen, und der Personenkult um dessen Propheten beigetragen. Über Jahrzehnte hinweg wurden cyberlibertäre Tech-Milliardäre als Genies gefeiert, deren Visionen nicht zu hinterfragen seien. Sie füllen und füllten mit ihren utopischen Narrativen eine Lücke innerhalb liberaler Gesellschaften, denen das zentrale Glücksversprechen und ein Glaube an die Problemlösungskompetenzen des Staates abhandengekommen waren. Diese Herausforderungen gilt es innerhalb demokratischer Gesellschaften zu bewältigen, um eine Perspektive zu eröffnen, in der Menschen nicht die Getriebenen technologischer Veränderungsprozesse sind, sondern in demokratischen Prozessen selbst darüber bestimmen, wie Technik ihr Leben beeinflusst.

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