Normalerweise twittert das Social Media-Team von „Radio Dresden“ über Verkehrsunfälle, Lokalpolitik und Freizeitaktivitäten in der sächsischen Hauptstadt. Am Mittag des 10. Dezember jedoch veröffentlichte der Account folgende Nachricht: „AKTUELL: Allen Kollegen von Radio #Dresden geht es gut. Der Sender wurde nicht gestürmt. Der Täter, der seine Mutter in Prohlis getötet hat, wollte laut Polizei vermutlich gezielt in die Medien. Er hat sich jetzt mit einer Geisel in der Altmarkt-Galerie verschanzt.“
Am frühen Morgen hatte der 40jährige David W. seine 62 Jahre alte Mutter im Dresdner Stadtteil Prohlis erschossen, so der Mitteldeutsche Rundfunk. Es war 08:30, als der Täter versuchte, in das Bürogebäude „Ammonhof“ einzudringen, in dem er mehrere Male auf die Eingangstür schoss, um diese dann von innen öffnen zu können. In den Räumlichkeiten befinden sich die Büros der Radiosender „Radio Dresden“. Außerdem zielte er mit seiner Waffe auf Unbeteiligte; einen Mann nahm er als Geisel. Ihm konnte im Laufe des Chaos die Flucht gelingen. Außerdem hatte der Täter einen neunjährigen Jungen bei sich; es soll sich um das Kind einer Nachbarin handeln. Wie der Junge in die Obhut des Schützen kam, ist noch unklar. Glücklicherweise blieben die Mitarbeiter*innen des Radiosenders unverletzt, unter anderem dank verstärkter Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ etabliert worden waren. Er hatte zudem einen weiteren Radiosender kontaktiert: „Um über Satanismus zu reden“, wie der Dresdner Journalist Eric Hofmann, der sich intensiv mit dem Fall beschäftigt hat, Belltower.News berichtet.
Anschließend fuhr der Täter in das nahe gelegene Einkaufszentrum „Altmarktgalerie“, wo er eine 38 Jahre alte Frau als weitere Geisel nahm und sich mit ihr und dem Kind in dem Büro eines Drogeriemarktes verschanzte. Von dort aus kontaktierte er selbst die Polizei. Um die Mittagszeit wurde das Einkaufszentrum geräumt und Beamt*innen des Spezialeinsatzkommando der Polizei traten in Verhandlungen mit dem als „psychisch labil“ beschriebenen Mann. Im Laufe des folgenden Schusswechsels wurde der Täter getroffen und verstarb kurze Zeit später. Woher er die Waffe habe, ist noch Gegenstand der Ermittlungen. Laut Eric Hofmann sei die Pistole eine illegale Waffe; W. hätte sie nicht besitzen dürfen.
Psychische Krankheit – oder doch mehr?
Wenn weiße Männer Gewalttaten begehen, ist die Öffentlichkeit schnell dabei, die Angelegenheit zu individualisieren: „Familiendrama“ oder „psychische Krankheit“ sind gerne verwendete Begriffe. Es ist naheliegend, dass David W. psychisch labil gewesen war; zumindest beschreiben ihn Bekannte als „seltsam, ruhig und etwas wirr“. Sein Social Media-Profil wirkt auf den ersten Blick unauffällig: er teilt Petitionen gegen Massentierhaltung oder Plastikmüll. Die mit „Gefällt mir“ bewerteten Seiten weisen ebenfalls nicht auf eine mörderische Tendenz hin: „Recycling Guru“, „Ärzte gegen Tierversuche“, ein Techno-Künstler. Einige Facebook-Freund*innen von David W. jedoch brechen mit dem Bild des Gutmenschen: sie haben schwarz-weiß-rote Flaggen im Profilbild, teilen Sharepics mit nationalistischen Inhalten und verbreiten Desinformation über den Corona-Impfstoff. Unter den Freunden ist auch der sächsische AfD-Politiker Steffen Janich. Janich bewirbt eine Veranstaltung, auf der die rechtsradikale Rapperin Runa auftreten soll; sie ist Teil des der „Identitären Bewegung“ nahestehenden Plattenlabels „Neuer Deutscher Standard“. Der Janich ist Polizist, ist vehementer Gegner von Corona-Schutzmaßnahmen, ruft zu der jährlich stattfindenden Neonazi-Demo zum 13. Februar in Dresden auf. Er wurde wegen der Organisation von nicht angemeldeten Demonstrationen 2020 vom Dienst suspendiert.
Ein weiterer Hinweis auf verschwörungsideologische Radikalisierung könnte die Panik vor der drohenden satanischen Weltherrschaft“ sein: innerhalb der antisemitischen und stellenweise vom christlichen Fundamentalismus beeinflussten QAnon-Bewegung spielt die „Satanic Panic“ eine entscheidende Rolle. QAnon-Gläubige gehen davon aus, dass eine satanische Kabale sämtliche Regierungen der Welt unterwandert hätte und Kinder töten wurde, um sich an deren Blut zu laben.Außerdem muss über den Mord an Mutter Kerstin W. gesprochen werden. Jan Riebe von der Fachstelle für Antifeminismus, Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung konstatiert: „Femizide von Söhnen an Müttern sind nach partnerschaftlichen Femiziden die am häufigsten auftretende Form von Morden an Frauen, weil sie Frauen sind.“ Außerdem hat der Großteil von Amokläufern oder Rechtsterroristen eine Historie in Bezug auf Misogynie oder Gewalt gegen Frauen. Die Wiederherstellung einer gekränkten, entwendet geglaubten Männlichkeit ist integraler Bestandteil von Amoktaten. Den Mord und die Geiselnahme in Dresden auf bloße psychische Krankheit zurückzuführen, ist verkürzt. Einerseits ignoriert es die politischen Hintergründe und den Aspekt gekränkter Männlichkeit, andererseits stigmatisiert es Menschen mit psychischen Leiden. Der überwältigende Großteil psychisch Kranker begeht nämlich keine derartigen Gewalttaten.