Die Veranstaltung mit dem Titel „1. Berliner Gespräch zu mafiöser Organisierter Kriminalität“ (mOK) des Projekts echolot: Zivilgesellschaft gegen mafiöse Organisierte Kriminalität wurde in Kooperation mit der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), dem Verein Intersektionales Bildungswerk in der Migrationsgesellschaft (IBIM) und der Organisation Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage organisiert. Geladen war ein gemischtes Fachpublikum aus Berliner Lehrkräften, Sozialarbeiter:innen, Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Vereine und Institutionen, sowie Verwaltung und Politik. Nach zwei Tagen Programm mit Vorträgen, Panel-Diskussionen und Workshops zeigte sich: Rassismus zieht sich wie ein roter Faden durch jegliche Diskussion.
Tahera Ameer, Vorstandsmitglied der AAS, betrachtet die Diskussion um organisierte Kriminalität in Deutschland und zeigte den strukturellen Rassismus in Begriffen wie ‚Ausländerkriminalität‘ oder ‚Clankriminalität‘ auf. Obwohl es in Fachkreisen der Kriminologie und polizeiintern bereits seit den 1980er Jahren ein Bewusstsein dafür gäbe, dass der Begriff „Ausländerkriminalität“ einen Scheinzusammenhang zwischen „nicht-Deutsch“ sein und kriminellem Handeln herstellt, werde für die offizielle Dokumentation von Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) weiterhin daran festgehalten, so Ameer. Relevante Faktoren wie Geschlecht, Alter, Region, Qualifikation und soziale Schicht würden ausgeblendet. Auch die Diskussion um organisierte „Clankriminalität“ würde deutlich zeigen, wie strukturell verankert die rassistische Erwartung einer Andersartigkeit „nicht-Deutscher“ sei. „Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist keine Kosmetik“ betont Ameer. Ein bewusster Umgang mit Sprache ist ein wichtiger Teil dieser Rolle, der sich auch echolot: widmet. Das Projekt schlägt einen neuen Begriff vor: „mafiöse Organisierte Kriminalität“ (mOK) und definiert ihn so:
„Unter mafiöser Organisierter Kriminalität (mOK) versteht man strukturierte Gruppen, deren Macht auf einer Verschränkung wirtschaftlicher, politisch- administrativer und kriminell-gewalttätiger Faktoren beruht. Ihre bloße Existenz erreicht dadurch eine individuell und gesellschaftlich einschüchternde Macht, die auch durch kulturelle Codes unterstützt und projiziert wird.“
Mafiöse OK tritt vielfältig in Erscheinung und es wird mit einem großen Dunkelfeld gerechnet. Im Gegensatz zu „Clankriminalität“, ist mOK frei von rassistischen Annahmen präzise definiert und umfasst Phänomene wie Organisierte Kriminalität nicht-Deutscher Großfamilien, genauso wie Kontaktnetzwerke rechtsextremer Gruppen und die Maskenaffäre der CDU, erklärt Ameer.
Mafiöse Organisierte Kriminalität zeichnet sich vor allem durch ihr Kontaktnetzwerk in wirtschaftliche und politische Strukturen aus. Doch Kontakte können auch informell und nicht-kriminell sein, was den Graubereich und das Feld der potenziellen Mittäterschaft enorm vergrößert. Als prominentes Beispiel nennt Burcu Başdinkçi, Projektleiterin von echolot: die Waffenaffäre um Mecklenburg-Vorpommerns Ex-Innenminister Lorenz Caffier (CDU). Obwohl Caffier behauptet nicht gewusst zu haben, dass der Schießplatzbetreiber und Waffenhändler seines Vertrauens zeitweise der rechtsextremen Preppergruppe „Nordkreuz“ angehörte, bestand eine klare Verbindung zwischen dieser mOK-Struktur und einem hochrangigen Politiker. Ob Caffier sich hat bestechen lassen oder nicht, für die Machtdynamik der mOK-Struktur geht es nicht zwingend darum, ob der informelle Kontakt konkrete Vorteile für die mOK-Gruppe hatte, sondern darum, das Netzwerk der möglichen Einflussnahme durch entscheidende Kontakte sichtbar nach außen zu erweitern. Um die Wirkungsweise dieser mafiösen Struktur zu verstehen, gilt es, die Perspektive der Betroffenen in den Fokus zu rücken: Wie nehmen Betroffene von rechtsextremer Gewalt den Umstand wahr, dass der Innenminister eines Bundeslands regelmäßig den Schießplatz eines „Nordkreuz“-Mitglieds besucht und eine Schusswaffe von ihm erhält?
Ein Klima der Angst und Gefährdung demokratischer Kultur
Am Beispiel um Ex-Innenminister Caffier wird exemplarisch deutlich, dass die mangelnde Frage nach der Betroffenen-Perspektive das deutsche Verständnis von mOK stark eingrenzt. Denn das Bewusstsein dafür, dass die Waffenaffäre des Ex-Ministers ebenso ein einschüchterndes Phänomen mafiöser OK sein kann, wie die Schutzgelderpressung im Café nebenan, fehlt im öffentlichen Diskurs. Stattdessen wird mafiöse OK in der Regel als Gefahr von außen beschrieben, die vor allem die „bio-Deutsche“ Mehrheitsgesellschaft bedroht. Während immer wieder auf Täter:innen geblickt wird und damit die Bedrohung durch „Clankriminalität“ weiter beschworen wird, bleiben Betroffene von mOK-Strukturen medial unsichtbar. Das liegt häufig auch daran, dass sie aus migrantischen Milieus stammen: „Die Opfer sind nicht Andreas und Jutta, sondern Ahmed und Fatma“ erklärt Başdinkçi. Die Handlungsoptionen werden in diesen Fällen durch Faktoren wie ein mangelndes Vertrauen in die Polizei stark einschränkt. Betroffene von beispielsweise Schutzgelderpressung leben ihren Alltag in Angst. Das Ziel der Erpressung ist dabei selten die finanzielle Bereicherung. Stattdessen geht es um territoriale Kontrolle. Die Bedrohungsdynamik wirkt einschüchternd, symbolisch und repressiv, sodass sich Betroffene aus Angst dem neuen Machtsystem unterordnen. Indem demokratische Kultur so aktiv aus bestimmten Räumen als herrschendes System verdrängt wird, wird mOK zu einem gefährlichen Gegensystem.
Pilotprojekt Berlin – Was tun mit 77 eingezogenen Immobilien?
Die unterschätzte Präsenz von mOK-Strukturen wurde in Berlin im Jahr 2018 deutlich, als die Polizei 77 Immobilien im Gesamtwert von rund neun Millionen Euro beschlagnahmte. Ermittler:innen gingen davon aus, dass die Immobilien, die sich im Besitz von Mitgliedern derselben Großfamilie befanden, mit Geldern aus Straftaten erworben wurden. Zwar stehen die endgültigen Beschlüsse noch aus, solange sich die einzelnen Urteile durch die gerichtlichen Instanzen kämpfen, aber Professor der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität Dr. Martin Heger äußerte sich im Rahmen der Diskussion um diesen Fall optimistisch. Was also tun mit 77 eingezogenen Immobilien? echolot: und weitere soziale Akteure sehen ein großes symbolisches Potenzial in der Festlegung einer neuen Nutzungsform dieser Gebäude.
Als Experte für die zivilgesellschaftliche Arbeit gegen die Mafia berichtete Claudio La Camera von Best Practice Beispielen aus Italien. Er betonte die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren. Es sei wichtig das Problem der mOK öffentlich sichtbar zu machen, um vor allem die Tragweite zu kommunizieren. Um den symbolischen Wert der Immobilien umzukehren, wäre es aus zivilgesellschaftlicher Perspektive erstrebenswert, dem italienischen Vorbild zu folgen und entsprechende Immobilien sozialen Akteuren zur Verfügung zu stellen, um sie so für Demokratie fördernde Arbeit nutzen.
Die ersten Schritte dafür wurden in Berlin getan, doch viele Fragen bleiben: Wie steht es um die Sicherheitslage? Wie soll die Finanzierung aussehen? Wie ein Auswahlverfahren, für die Nutzung der Immobilien? Wie kann die notwendige Nachhaltigkeit eines solchen Programms garantiert werden?
Eine gemeinsame Aufgabe
„Es ist nicht die Aufgabe der Zivilgesellschaft die bessere Polizei zu sein” erklärt La Camera. Dennoch zeigt sich in der praxisnahen Diskussion um Lösungsansätze, dass beteiligte Akteure von den jeweils anderen lernen können und von der Zusammenarbeit profitieren. Aktuell fällt die Bekämpfung von mOK-Strukturen zu großen Teilen sozialen Institutionen und Einrichtungen zu. Vor allem Schulen bezeugen wie mOK-Strukturen Schüler:innen im Alltag beeinflussen und tragen somit eine wichtige Verantwortung im Bereich der Prävention. Lehrer:innen berichten, dass vor allem Social Media Plattformen wie TikTok die Phänomene noch verstärken.
Burcu Başdinkçi von echolot: berichtet von einem kürzlich auf TikTok live gestreamten Gespräch zwischen einem Berliner Polizisten und einem bekannten Berliner mOK-Akteur. Im Gespräch tauschten sie sich vor einem Live Publikum aus mehreren Tausend Jugendlichen, freundlich über Rassismusvorwürfe gegenüber der Polizei aus. Die Message die das Gespräch insgesamt verbreitet, stärkt das Bild der gut vernetzten und mächtigen mOK-Gruppe. Der Fall zeigt außerdem, wie das reale Problem des strukturellen Rassismus in der Polizei durch den mOK-Akteur instrumentalisiert wird, um gezielt Jugendliche, die im Alltag von Rassismus betroffen sind, anzusprechen und ihnen eine vermeintlich positive Identifikation zu bieten.
Jugendliche finden Halt in mOK-Strukturen und unterstützen sie durch die Reproduktion von Gewalt und kulturellen Codes on- und offline. Als Außenstehende:r ist es vor allem im Kontext von Minderjährigen oft schwierig, Täter:innen klar von Betroffenen zu differenzieren, der Graubereich im Kontext der Mittäterschaft bleibt groß. Staatliche Defizite, wie der lange nicht überwundene strukturelle Rassismus und die daraus resultierende Benachteiligung bestimmter Gruppen und Milieus begünstigen mOK. Es gilt den vielfältigen Erscheinungsformen von mOK aktiv entgegenzuwirken, die Resilienz potenzieller Betroffener zu stärken und Kindern und Jugendlichen alternative Lebensentwürfe zu ermöglichen, indem bedürfnisorientiert gehandelt wird. Das bedeutet, den Diskurs rassismuskritisch und genderreflektiert zu führen, die Betroffenenenperspektive wahrzunehmen und so einer Normalisierung krimineller Strukturen entgegenzuwirken.
Die Begriffseinführung der „mafiösen Organisierten Kriminalität” ist ein erster Schritt zu einem selbstkritischen Bewusstsein für die vielfältige Problematik. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Bewusstsein einen besseren Umgang mit der Thematik ermöglicht und damit das zivilgesellschaftliche Engagement, ebenso wie den staatlichen Kampf gegen diese undemokratischen Strukturen stärkt.