Wenig beachtet durch die Öffentlichkeit hat Deutschland am 31. März 2021 eine Definition für Antiziganismus angenommen, die von der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (englisch IHRA) im Oktober 2020 beschlossen wurde. Die medialen Beiträge dazu erschöpfen sich meist in Passagen aus der Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes. Das Desinteresse am Antiziganismus beruht auf seiner tiefen Verankerung in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Roma*Romnija und den Sinti*Sintizze ist so oberflächlich, dass das Phänomen kaum erkannt wird.
Gewalt gegen Roma*Romnija in der KZ-Gedenkstätte Dachau
Bei keinem anderen Ressentiment berichten politische Bildner*innen und/oder Roma*Romnija und Sinti*Sint*izze, gibt es so viel Widerstand gegen die Reflexion. Als Beispiel für einen Antiziganismus nicht trotz, sondern im Wissen um die nationalsozialistische Vernichtungspolitik sei die Räumung von Roma*Romnija von der besetzten KZ-Gedenkstätte Dachau 1993 im Begehren um Kirchenasyl in Erinnerung gerufen.
Günther Beckstein, damals bayerischer Innenminister, schrammt beim Sprechen über Sinti*Sintizze und Roma*Romnja 1993 gerade noch am nationalsozialistischen Deutsch vorbei, als er die von ihm so genannte „Lösung des Kirchenasyls auf KZ-Gelände“ 1993 „ohne Gewalt“ schildert.
Hier geht es zu dem Interview mit Günther Beckstein, Trigger-Warnung
1993 besetzten Roma*Romnija, überwiegend Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau in Bayern. Die aus den Kriegen im auseinanderbrechenden Jugoslawien Geflüchteten suchten nicht nur Kirchenasyl wegen Krieg und Antiziganismus in den Herkunftsregionen, sondern sahen sich auch in Deutschland bedroht: „Seit ein paar Wochen hören wir ständig, tagtäglich von Überfällen, von Brandstiftungen, von Morden, von Vertreibungen, von so genannten Asylkompromissen, die nichts anderes bedeuten als die Vorbereitung zur Deportation, zur Massendeportation von Menschen, von Fremden, die in diesem Land Zuflucht suchen,“ sagte Rudko Kawczynski 2020, ein Bürgerrechtler und Rom aus Polen, der selbst in Deutschland Asyl erhalten hatte und nun die jugoslawischen Roma*Romnija unterstützte.
„53 Tage dauerte die Besetzung der Versöhnungskirche, doch Bayerns Innenminister Günther Beckstein blieb unerbittlich – er ließ sogar ein mit Stacheldraht eingezäuntes Abschiebelager vorbereiten und drohte damit, die KZ-Gedenkstätte von der Polizei räumen zu lassen. Nach zähen Verhandlungen erhielten die Roma schließlich freien Abzug und mussten Bayern verlassen. In den folgenden Monaten wurden fast alle in die vom Bürgerkrieg zerstörten Regionen Jugoslawiens abgeschoben“, so eine Darstellung im Bayerischen Rundfunk von 2020.
„Ihr seht, Polizeihubschrauber, Polizisten, Polizeihunde. Wir werden euch gewaltsam vertreiben“
Bei Beckstein selbst klingt dies in dem Interview von 1993 so: „Wir haben einen Riesenpolizeieinsatz geplant“, mit 2.000 Polizist*innen aus ganz Bayern; sogar das neuseeländische Fernsehen war da, weil es, so Bechstein mit leuchtenden Augen, „eine ganz ganz schwierige Situation“ sei: Der Einsatz von Polizei auf dem Gelände einer KZ-Gedenkstätte gegen Sinti*Sintizze und Roma*Romnija, da ja auch welche im KZ Dachau umgebracht worden seien. Fortan erzählt Beckstein seine Geschichte männlicher Größe und Standhaftigkeit: „Ich kann nicht mehr zurück und ich gehe nicht mehr zurück! […] Wenn ich das jetzt abblase, verliere ich jede Autorität.“ Er habe jedoch die Idee gehabt, „Eindruck“ (sic!) einzusetzen. So habe er einen „im Bereich der Zigeunerseelsorge“ Tätigen gefragt, und der habe gewusst: Sinti und Roma hätten „vor Hunden sehr viel mehr Achtung als vor Uniformen“.
Hunderte von Polizeihunden habe er also aus ganz Bayern per Hubschrauber einfliegen lassen, erzählt Beckstein in dem schwer zu ertragenden Interview begeistert weiter. Diese seien um das Lager der Geflüchteten herumgeführt und dabei „scharf gemacht“ worden, so dass sie wirkten, als würden sie auf die Familien losgehen. „Also, ihr seht, Polizeihubschrauber, Polizisten, mit Kampfanzügen, Polizeihunde, alles ist da. Wir werden euch gewaltsam vertreiben“, fällt Beckstein erregt gestikulierend ins erzählerische Präsens. „Ich werd‘ selber hinausfahren, und wenn ich draußen bin, gibt’s keine Gespräche mehr, sondern gibt’s die Räumung,“ so Beckstein. „Und dann sind die freiwillig abgezogen“ ist Becksteins triumphierende Formulierung für die Kapitulation der verzweifelten Menschen, die er als „Lösung des Kirchenasyls auf KZ-Gelände ohne Gewalteinsatz“ bezeichnet. Der Höhepunkt der Geschichte: Beckstein denkt „mit großem Dankeschön an meinen Herrgott“, da sonst seine Karriere anders verlaufen wäre.
Deutlich wird auch, in einem Land, in dem es eine „Zigeunerseelsorge“ überhaupt gibt, ein besonderes antiziganistisches Ressentiment wirksam ist. Ebenfalls zum Rassismus gehört, die eigene Gewalt, den Einsatz von Hunden, als quasi kultursensibles Eingehen auf die Eigenarten der Anderen zu legitimieren: ‚Die sind so, die haben vor Hunden mehr Respekt als vor Uniformen, die wollen es so‘ – gleichzeitig eine typische Stigmatisierung von Roma*Romnija als geleitet von niederen Instinkten und ohne Verständnis für den zivilisatorischen Standard staatlicher Autorität.
Postnationalsozialistische Beziehungen der Gewalt gegen Roma*Romnija
Was Antiziganismus ist, was den Rassismus gegen Roma*Romnija und Sinti*Sintizze in der Nachfolgegesellschaft des Dritten Reiches ausmacht, lässt sich an vielen Beispielen zeigen, zuvorderst die nach 1945 weiterbestehende Kriminalisierung und Nichtanerkennung des Genozids. Die gesamte Nachkriegsgeschichte, die Zeitgeschichte in BRD und DDR und Gegenwart der Angehörigen beider Communitys ist vom Nachleben und den Folgewirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung geprägt. Dies gilt nicht nur für die Deutschen Sinti*Sintizze und Roma*Romnija, so eine häufige Eigenbezeichnung, sondern gerade auch für Roma*Romnija aus dem ehemaligen Jugoslawien, die im Zweiten Weltkrieg verfolgt wurden: Im Oktober 1942 ließ der Kommandierende General Harald Turner aus dem seit April 1941 deutsch besetzten Serbien vermelden: „Serbien einziges Land, das juden- und zigeunerfrei“ sei. Im so genannten „Unabhängigen Staat Kroatien“, der tatsächlich von Italien und Deutschland abhängig war und Bosnien mit umfasste, wurde an den Roma*Romnija wie an den Juden*Jüdinnen und auch an Serb*innen ein Genozid verübt.
Perfiderweise bezieht Beckstein sich im Videointerview mehrfach auf Juden*Jüdinnen, die für die Räumung eingetreten seien, wobei es sehr viele Menschen gibt, die die Besetzung einer KZ-Gedenkstätte oder eines Denkmals für NS-Opfer als Instrumentalisierung verurteilen. Rudko Kawczynski treffend: „Wir, die Glück hatten, dass unsere Eltern überlebt haben, die hier die Schwächsten sind in diesem Land, sind wieder diejenigen, an denen man ungestraft Unrecht begehen kann, an denen man seine Vergangenheit bewältigen kann durch fortgesetztes Unrecht.“
Das Auswärtige Amt: Eine gute Tat zum Abschluss des IHRA-Vorsitzes
Leider finden sich keine Worte über solche und andere Formen postnationalsozialistischer Gewalt in der Pressemitteilung von Außenminister Heiko Maas, als das Bundeskabinett am 31. März die juristisch nicht verbindliche Arbeitsdefinition von Antiziganismus annimmt, damit sie rechtzeitig zum 8. März, dem Internationalen Tag der Roma*Romnija, wirksam ist. In der Mitteilung heißt es, dass Deutschland die Definition als erstes Land auf nationaler Ebene angenommen habe, andere Staaten damit zu ihrer Anwendung ermutigen wolle, und damit eine Art krönenden Abschluss für das Ende seines Vorsitzes in der IHRA finde.
Das Fehlen eines Bewusstseins über die besondere deutsche Verantwortung ist ein Grund mehr, an den Umgang mit Roma*Romnija aus anderen Staaten zu erinnern: Noch heute werden sogar Menschen abgeschoben, die vor mehr als 20 Jahren in Deutschland als Kinder von Geflüchteten des Krieges der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 geboren wurden.
Die Definition als Instrument bei der Bekämpfung von Antiziganismus
Die Definition der IHRA fällt, wie bei internationalen politischen Kompromissen zu erwarten, zwar hinter bestehenden, spezifischeren Bestimmungsversuchen zurück, liefert dennoch gute Ausgangspunkte. Wohl nicht zufällig erwähnen die 34 Staaten neben den individuellen und institutionellen die staatlichen Politiken und Praktiken nicht, denen Roma*Romnija und Sinti*Sintizze ausgesetzt sind:
„Antiziganismus manifestiert sich in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie institutionellen Politiken und Praktiken der Marginalisierung, Ausgrenzung, physischen Gewalt, Herabwürdigung von Kulturen und Lebensweisen von Sinti und Roma sowie Hassreden, die gegen Sinti und Roma sowie andere Einzelpersonen oder Gruppen gerichtet sind, die zur Zeit des Nationalsozialismus und noch heute als ‚Zigeuner‘ wahrgenommen, stigmatisiert oder verfolgt wurden bzw. werden. Dies führt dazu, dass Sinti und Roma als eine Gruppe vermeintlich Fremder behandelt werden, und ihnen eine Reihe negativer Stereotypen und verzerrter Darstellungen zugeordnet wird, die eine bestimmte Form des Rassismus darstellen.“
Als eine der „Leitlinien“ zum besseren Verständnis von Antiziganismus wird, neben der zentralen Bezugnahme auf die Vernichtung im Nationalsozialismus, deutlich die Funktion des Rassismus benannt: „Antiziganismus […] behindert maßgeblich die Inklusion der Sinti und Roma in die Gesamtgesellschaft und verwehrt ihnen gleichberechtigten Zugang zu Rechten, Chancen und Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben.“
Unter den vielen „Beispielen zur Veranschaulichung“ werden zentrale Elemente des Antiziganismus aufgeführt, die deutlich machen, welcher auch staatlicher und staatlich sanktionierter Gewalt die Menschen je nach Land ausgesetzt sind. Eine Bewertung der Definition durch Verbände von Roma*Romnija, Sinti*Sintizze und anderen dem Antiziganismus ausgesetzten Menschen in Deutschland und anderswo bleibt abzuwarten.
Zum Begriff „Antiziganismus“
Hilfreich ist die Anmerkung zur Definition: „Der Begriff ‚Sinti und Roma‘ wird als Oberbegriff für verschiedene verwandte sesshafte oder nicht sesshafte Gruppen verwendet, etwa Roma, Travellers, Gens du voyage, resandefolket/de resande, Sinti, Camminanti, Manouches, Kalé, Romanichels, Boyash/Rudari, Aschkali, Ägypter, Jenische, Dom, Lom und Abdal, die sich in Kultur und Lebenswandel unterscheiden können. Es handelt sich hierbei um eine erklärende Fußnote, nicht um eine Definition des Begriffs ‚Sinti und Roma‘.“ Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern, da international viele weitere, oft auch nicht romanes-/romanisprachige Gruppen mit antiziganistischen Stereotypen belegt werden. In Deutschland kämpfen viele Selbstorganisationen darum, die ständige Bezugnahme auf die Nicht-/Sesshaftigkeit, die hier genannt wird, zu überwinden. Für andere Gruppen ganz ohne sprachliche oder natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit zu den oft als Oberkategorie geltenden Roma*Romnija, sind (frühere) nichtstationäre Lebens- und Arbeitsweisen der Grund, sie mit antiziganistischen Zuschreibungen und Abwertungen zu belegen. In Deutschland sind es vor allem die Jenischen, die in einzelnen Regionen nationalsozialistischer Ausgrenzung und teilweise Verfolgung ausgesetzt waren. Aktuell werden vor allem Menschen aus Rumänien und Bulgarien unabhängig von ihrer Zugehörigkeit antiziganistisch behandelt.
Aus diesem Grund, den – in der Definition wenig benannten – spezifischen Zuschreibungen, ist es je nach Kontext sinnvoll, von Antiziganismus zu sprechen. Spezifisch gegenüber anderen Rassismen ist unter anderem gerade die Zuschreibung eines historisch-kulturell verankerten, kollektiven „Wandertriebs“, einschließlich der Bestimmung einer mobilen Lebensweise als vormodern und unterentwickelt, mitsamt der Ambivalenz der Bewertung.
Vom Auswärtigen Amt wäre zu erwarten, seine Expertise nicht nur mit dem Ausland, sondern auch mit den Kolleg*innen aus dem Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat zu teilen und als erste Maßnahme gegen Antiziganismus endlich „Vertreibungen“ à la Beckstein und Abschiebungen zu stoppen.