Im 2001 erschienen Spionageabenteuer „Metal Gear Solid 2: Sons of Liberty“ gerät für den jungen und naiven Protagonisten Raiden die Welt aus den Fugen. Der von den Spielenden verkörperte Geheimagent sieht sich am Ende des Spiels mit dem Umstand konfrontiert, dass eine Künstliche Intelligenz jeden seiner Schritte voraussieht und kontrolliert. Es handle sich dabei um einen Testlauf, der unter Beweis stellen soll, dass man mit vorgegebenen Szenarien und Umständen menschliches Verhalten kontrollieren kann. Der Logik der herrenlosen KI zufolge hat die Digitalisierung zu so viel Informations- und Datenmüll geführt, dass den Menschen das Selektieren von Wahr- und Unwahrheiten abgenommen werden muss, damit der gesamtgesellschaftliche Fortschritt nicht ins Stocken gerät. In diesem Moment hinterfragt das Spiel einen Großteil der Ereignisse, die die Spielenden zuvor selbst erlebt haben. „Metal Gear Solid 2“ stellt die Spielenden so vor die gleiche Herausforderung, vor die auch Protagonist Raiden innerhalb der Geschichte gestellt wird: Fiktion und Fakten in einer Welt auseinanderzuhalten, in der statt Wahrheiten und Lügen vielmehr „verschiedene widersprüchliche Wahrheiten“ nebeneinander zu existieren scheinen.
Die Geschichte von „Sons of Liberty“ wird 20 Jahre nach der Veröffentlichung des Spiels gern als prophetische Vision des modernen postfaktischen Zeitalters angeführt. Auch wenn wir heute auf die Hilfe von Algorithmen setzen, um uns im Informationsdschungel zurechtzufinden, wollen wir trotzdem die Hoheit über die Auslegung von Realität und Wahrheit behalten. Ebenso sollten wir als Mitglieder einer freien und offenen Gesellschaft sicherstellen, dass junge und nachfolgende Generationen die entsprechen – den Fähigkeiten an die Hand bekommen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Als besonders bei jungen Menschen beliebtes Medium können digitale Spiele hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
Games trainieren unsere Fingerfertigkeiten, Reaktionsfähigkeiten und räumliches Denken. Sie können uns allerdings auch dazu anregen, uns mit den gesellschaftlichen Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu beschäftigen. Mehr noch, ein gewisser Grad an „Games-Alphabetisierung“ sollte heute zur Medienbildung und -erziehung eines jeden Menschen dazugehören. Mithilfe der Interaktivität digitaler Spielwelten können wir nämlich nicht nur bereits in jungen Jahren erfahren, was es bedeutet, seine Umwelt zu beeinflussen (Stichwort: Selbstwirksamkeit), sondern auch, was es heißt, dem Einfluss (und gegebenenfalls der Manipulation) der eigenen Umwelt ausgesetzt zu sein. Die Lerneffekte digitaler Spiele entfalten sich nicht über Nacht und entstehen auch nicht im luftleeren Raum. Wie bei allen Medien ist die Art, wie Games auf uns wirken, zum großen Teil davon abhängig, wie wir lernen, mit ihnen umzugehen. Entscheidend ist deshalb eine pädagogische Rahmung mit Lehr- und Lernmethoden, die die Erfahrungen aus dem Spiel ins Lernen für die Realität übersetzen.
Medien- und Informationskompetenz
Selbst Erwachsene tun sich heute mit der Einordnung von digitalen Informationen schwer. In einer Studie der Stiftung Neue Verantwortung erkannten lediglich 43 % der Befragten einen präparierten Social Media-Post als Falschinformation. Jüngere Generationen sind laut der Studie zwar kompetenter als ältere, allerdings zeigen sich hier, je nach Bildungshintergrund, deutliche Unterschiede:
Je höher die formale Schulbildung, desto höher die Kompetenzwerte. Zudem ist bei Anhänger:innen antidemokratischer Parteien die digitale Informationskompetenz besonders niedrig, was der Studie zufolge Hand in Hand mit einem geringen Grundvertrauen in Demokratie und Medien geht. Das Handhaben und Einordnen digitaler Informationen und Medien ist deshalb nicht nur eine Schlüsselkompetenz für die moderne Arbeitswelt, sondern auch eine Grundvoraussetzung für mündige Bürger:innen in einer digitalen demokratischen Gesellschaft.
Das Vermitteln digitaler Medienkompetenz sollte im Idealfall zu einem roten Faden werden, der sich durch die Schullehrpläne aller Fächer zieht. Das funktioniert nur, wenn digitale Medien aktiv in den Unterricht eingebunden werden, und auch Games können hier ergänzend eine wichtige Rolle spielen. Digitale Spiele vereinen mit gestalterischen, narrativen und darstellerischen Elementen nicht nur alle bisherigen Medienformen und -techniken; ihre Entwicklung ist auch seit den frühen 1960er Jahren eng mit der Geschichte des Computers und des Internets verknüpft.
Computerspiele sind seit jeher ein spielerischer Zugang zur digitalen Welt und können deshalb auch ein Zugang zum digitalen Lernen und dem Auseinandersetzen mit digitalen Informationen sein. Serious Games wie „Bad News“ (2018) oder das von der Bildungsstätte Anne Frank herausgegebene „Hidden Codes“ (2021) veranschaulichen, wie digitale Spiele mithilfe von interaktiven und narrativen Elementen zur konstruktiven Auseinandersetzung mit Themen wie Fake News oder Extremismus im Netz motivieren können.
Im Zweifel braucht es aber gar keine dezidierten „Lernspiele“, um aus und mit Games zu lernen. Auch herkömmliche „Unterhaltungsspiele“ bieten ähnlich wie Literatur oder Film viele Anknüpfungspunkte, über die sich insbesondere junge Menschen für Themen begeistern lassen, mit denen sie im ersten Moment vielleicht eher fremdeln. So kann die kritische Auseinandersetzung mit einem spielbaren Spionage-Thriller wie „Metal Gear Solid 2“ wertvoll für das Schulen von Medienkompetenz und digitaler Mündigkeit sein. Gerade weil uns engmaschige Verschwörungsplots mit einfachen Kausalketten als Fiktion so faszinieren, sollten wir überall da, wo uns solche Erzählungen als vermeintliche Realität präsentiert werden, besonders skeptisch sein. Denn die Realität folgt weder erzählerischen Konventionen noch den festgeschriebenen Regeln eines Game Masters.
Medienpädagogik und digitale Infrastruktur
Natürlich können aus Schüler:innen keine digital-mündigen Bürger:innen werden, wenn es an pädagogischen Fachkräften fehlt, die sie darauf vorbereiten. In einer Pisa-Sonderauswertung der OECD aus dem Jahr 2020 landet Deutschland bei der digitalen Lehrer:innenausbildung auf Platz 76 von 78. Die Ergebnisse gehen auf Umfragen über entsprechende Fortbildungsmöglichkeiten an den Schulen zurück. Natürlich kann man diesen Umstand nicht den Lehrkräften in Deutschland ankreiden, ganz im Gegenteil: Es gibt bereits vielerorts individuell engagierte Lehrende, die mit viel Elan digitale Medien inklusive Games in den Unterricht einbringen. Woran es mangelt, sind systematische digitale Ansätze zur Unterrichtsgestaltung sowie entsprechende Fortbildungsangebote für Lehrkräfte.
Mit der Initiative „Games machen Schule“ möchte die Stiftung Digitale Spielekultur aus diesem Grund prüfen, wie digitale Spiele im Unterricht eingesetzt werden können. In Berlin befindet sich im Rahmen der Initiative ein von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gefördertes Modellprojekt in Vorbereitung, das neben dem Einsatz von Games im Schulunterricht auch erforschen möchte, welche Qualifikationen Lehrkräfte benötigen und wie sie fortgebildet werden können.
Neben den Voraussetzungen bei den Lehrkräften ist für die erfolgreiche Vermittlung von Medienkompetenz mit Games auch die digitale Infrastruktur an den Schulen entscheidend. Für eine bessere Ausstattung sorgt seit 2019 der Digitalpakt Schule des Bundes – zumindest in der Theorie. Denn aufgrund komplizierter Antragsverfahren und fehlender IT-Fachkräfte an den Schulen waren es Ende 2020 nur knapp 500 Millionen von den zugesag
ten 6 Milliarden Euro, die als Fördergelder ausgezahlt wurden. Die Schulen, die digital gut ausgestattet und auf dem neuesten Stand sind, verdanken dies aktuell ebenfalls oft einzelnen engagierten digitalaffinen Lehrkräften.
Potenziale digitaler Spiele aktivieren
Games sind keine magischen Werkzeuge, die ohne aktives Zutun unsere Probleme lösen können. Aber sie sind mehr als bloße Unterhaltungsmaschinen. Wie andere Massenmedien auch sind sie in erster Linie ein Produkt. Aber eben ein Produkt, das künstlerischen oder edukativen Wert haben kann. Ob wir mit und aus ihnen lernen können, hängt vor allem von den Rahmenbedingungen ab, die wir für sie und andere digitale Medien im Schul- und Bildungswesen schaffen. Wichtig ist, dass wir ihre Rolle als Diskursgeber und Projektionsfläche für viele Millionen Menschen in Deutschland ernst nehmen.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre:
Amadeu Antonio Stiftung / Good Gaming – Well Played Democracy:
„Unverpixelter Hass. Toxische und rechtsextreme Gaming-Communities.“
Berlin 2022
90 Seiten