Doris Akrap
Obdachlose stehen auf der sozialen Leiter ganz unten. Aus dem bürgerlichen Leben heraus gefallen, folgen aus den existenziellen Problemen (keine Wohnung, keine Erwerbsmöglichkeit) psychische und physische Schäden. Allein diese Lebenssituation ist für viele lebensbedrohlich. Zusätzlich zu dieser äußerst prekären Lebenslage sind Obdach- und Wohnungslose täglich Bedrohungen, Gefahren, Diskriminierungen und Pöbeleien ausgesetzt, die ihnen von Dritten zugefügt werden.
Es gibt Orte, an denen es für Obdachlose besonders riskant ist, sich aufzuhalten und solche in denen sie relativ geschützt vor Übergriffen sind. Doch Obdachlosenfeindlichkeit gibt es überall. Angriffe auf Obdachlose reichen von der in die Alltagssprache übernommenen Beschimpfung »Du Penner!« über Fußtritte bis hin zum Mord.
Im Jahr 2005 etwa wurde innerhalb weniger Monate in Frankfurt/Oder ein obdachloser Mann von zwei 16 und 17 Jahre alten Schülern in einer Wohnung erstochen. In Cottbus wurde ein 19-jähriger festgenommen,der einem 51-jährigen Wohnungslosen mit einem Dutzend Stiefeltritten das Gesicht und den Schädel zertrümmert hatte. In Frankfurt/Oder zündeten zwei 19 und 23 Jahre alte junge Männer einen auf einer Parkbank schlafenden Obdachlosen an. In Forst erstachen zwei 35 und 46 Jahre alte Männer in einer Wohnung einen obdachlosen 55-jährigen Mann, den sie zuvor verstümmelt hatten.
Meist gelangen nur solche mörderischen Angriffe auf Obdachlose in die Schlagzeilen. Über die Zahl der Übergriffe auf Obdachlose gibt es keine offizielle Statistik. Oft gehen die Obdachlosen
weder zum Arzt noch zur Polizei, einzig die Einrichtungen, die sich um Obdachlose kümmern, sehen die Verletzungen. Häufig werden Obdachlose in der »S-Bahn-Rutsche« verprügelt. S-Bahn-Rutsche nennen die Berliner Sozialarbeiter die von Obdachlosen als Zuflucht genutzte Ring-S-Bahn, mit der sie bis Betriebsschluss fahren und in den Waggons schlafen. Diese Möglichkeit, ungestört im Warmen zu sitzen, gilt unter Obdachlosen gleichzeitig als sehr gefährlich. Nicht etwa, weil die Bahn-Angestellten sie hinauswerfen würden, sondern weil immer wieder Jugendliche in die Waggons eindringen und sie verprügeln.
Nicht nur die konkreten Erfahrungen von brutalen Übergriffen am eigenen Körper rufen bei Obdachlosen psychische Störungen hervor, sondern auch die tägliche Konfrontation mit der Möglichkeit, bedroht zu werden. Weibliche Obdachlose begeben sich oft aus Angst vor Vergewaltigungen in den Schutz männlicher Obdachloser. Häufig besteht ein Schutzmechanismus obdachloser Frauen darin, psychisch abzuschalten, um unzurechnungsfähig und damit abschreckend auf Angreifer zu wirken.
Der Kreuzberger Wrangelkiez, ein multikulturelles Viertel mit vergleichsweise tolerantem Klima, Streetworkern und zahlreichen Einrichtungen für Obdachlose, ist nicht gerade bekannt für Obdachlosenfeindlichkeit. Und trotzdem sind die Leute, die hier auf der Straße leben, Bedrohungen ausgesetzt. So treffen sich dort etwa vor einem Supermarkt regelmäßig Obdachlose, Wohnungslose und Arme. Im Sommer 2006 versuchten migrantische Jugendliche, die dort Sitzenden anzugreifen. Nach Augenzeugenberichten waren es »ortsfremde« Jugendliche, die nicht aus dem Wrangelkiez kamen.
Sozialarbeiter und Betroffene aus dem Kiez berichten, dass es zwischen denen, die auf der Straße leben, und migrantischen Jugendlichen öfter zu Auseinandersetzungen kommt. Auf Seiten der deutschen Obdachlosen verraten Argumente wie »Die Ausländer kriegen mehr Sozialhilfe als wir« ein rassistisches Weltbild. Die migrantischen Jugendlichen reagieren darauf mit diskriminierender Gewalt, die sich für ihre eigene Diskriminierung rächen will.
Die Beweggründe hinter Obdachlosenfeindlichkeit entspringen demnach wie alle Ressentiments verschiedenen Quellen. Die Haltung, das Schicksal der Obdachlosen sei selbstverschuldet, ist weit verbreitet. Die Meinung, Obdachlose seien Faulenzer und Schmarotzer, zeigt sich in Sprüchen wie »Geh doch arbeiten!« oder »Dich sollte man ins Arbeitslager stecken!« Innerhalb des fest geformten Ordnungsbildes eines bürgerlichen Lebens erscheint der Obdachlose als derjenige, der die Ordnung bedroht. Jugendliches, oft männliches Aggressions- und Gewaltpotential entlädt sich an schwachen Opfern, wie Obdachlosen, um auf diese Weise eine Selbstbestätigung zu erfahren: »Ich bin kein Schwächling!«
Informationen zur Situation der Obdachlosen, Initiativen und Einrichtungen in Berlin gibt es unter:
Leitfaden für Obdachlose Berlin: www.ofw-leitfaden.de
AG »Leben mit Obdachlosen«, Telefon: 030/616 59340, Büro c/o DW Tagesstätte am Wassertor,
Segitzdamm 46, 10969 Berlin
Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Reflektieren. Erkennnen. Verändern. Was tun gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?“ der Amadeu Antonio Stiftung. Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden.
Mehr zur Arbeit gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit:
| www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/gegen-gmf/