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Halle-Prozess „Nebenklägerin zu sein bedeutet für mich, die Deutungshoheit über meine Erinnerung zu haben“

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Am 9. Oktober 2019 versuchte der Attentäter Stephan B., bewaffnet in diese Synagoge in Halle zu stürmen. Er tötete zwei Menschen. Am 21. Juli beginnt der Prozess gegen ihn im Landgericht Magdeburg. (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Am 21.07.2020 beginnt vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen Stephan B., der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss Kiez-Döner verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.

 

Quelle: Debi Simon

 

Rabbinerin Rebecca Blady ist auf Long Island, New York, USA geboren und aufgewachsen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Rabbiner Jeremy Borovitz ist sie als Mitbegründerin von Hillel Deutschland: Base Berlin 2019 nach Berlin gezogen, um die junge und lebendige jüdische Community zu stärken. Im Rahmen ihres Base Berlin-Programms organisierten Blady und Borovitz eine Reise nach Halle mit einer Gruppe von etwa 20 jungen Menschen aus ganz Deutschland, um am 9. Oktober 2019 einen Yom-Kippur-Gottesdienst zu erleben.

 

 

 

Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.


Belltower.News: Wie haben Sie den Anschlag erlebt?

Rebecca Blady: Als wir hörten, dass gerade ein Anschlag passiert und jemand vor der Synagoge angeschossen wurde, haben wir uns oben in der Wohnung versteckt, in der Jeremy, meine Tochter und ich übernachteten. Die Wohnung befindet sich direkt über der Synagoge. Ich kann mich daran erinnern, dass es eine große Unklarheit darüber gab, was eigentlich genau passiert ist. Zu dem Zeitpunkt waren alle Gruppenmitglieder, die mit uns nach Halle gefahren sind, in der Synagoge, außer zwei Personen. Deshalb haben wir als erstes unsere Handys angeschaltet – was wir an Yom Kippur normalerweise niemals machen würden – um sicherzustellen, dass alle in Sicherheit sind und um zu erfahren, wo sich die anderen aufhalten. Nachdem wir mit den fehlenden Gruppenmitgliedern in Kontakt waren, gingen wir wieder nach unten und setzten das Gebet fort, das in dem Moment noch bedeutungsvoller und kraftvoller wurde.

Die dritte Person, die nicht in der Synagoge war, war unsere Tochter. Während unserer Gebete war sie mit ihrer Babysitterin unterwegs. Das war für mich das schlimmste. Als ich an sie dachte, brach für mich innerlich die Welt zusammen und ich konnte nicht mehr klar denken. Meine Tochter und ihr Babysitter haben die Synagoge durch dieselbe Tür verlassen, auf die der Täter 45 Minuten später geschossen hat. Nachdem wir von der Polizei evakuiert wurden, sollten wir in einen Bus steigen, der uns in ein Krankenhaus brachte. Die Polizei wollte meine Tochter zunächst nicht in den Bus lassen, da sie meinten, dass der Bus nur für Personen gedacht sei, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Synagoge befanden. Das war für mich der Punkt, an dem ich das Vertrauen in die Polizei verlor. Jeremy, mein Ehemann, musste ihnen damit drohen, nicht einzusteigen und nicht mitzufahren, wenn wir unsere Tochter nicht mitnehmen könnten. Ich hatte unglaubliche Angst, dass ich auch noch von ihm getrennt werden würde. Aber es war die einzige Möglichkeit, um Druck auf die Polizei auszuüben und unsere Tochter mitnehmen zu können. Als wir im Krankenhaus ankamen, zeigte sich, wie groß der Unterschied zwischen dem Verhalten der Polizei und dem Krankenhauspersonal uns gegenüber war. Das Krankenhauspersonal war unglaublich freundlich und hilfsbereit. Sie waren so großzügig, sie brachten uns alles, was wir brauchten, und taten alles, um für unsere Gruppe da zu sein.

Wie geht es Ihnen heute?

Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, was der Anschlag mit mir gemacht hat und wie sich das Erlebte auf mich ausgewirkt hat. Im Umgang mit meinen Freund*innen und innerhalb der Community war ich nicht so präsent, wie ich es normalerweise wäre. Ich habe viel Zeit gebraucht, um diese Erinnerung in mein Leben zu integrieren. Der Wendepunkt kam für mich erst vor ein paar Monaten. Mittlerweile habe ich die Kraft und die Motivation, um über das Erlebte zu sprechen und ich möchte sichergehen, dass die Geschichte richtig erzählt wird und alle, die dabei waren, sich in der Lage und sicher genug fühlen, das ebenso können. Ich möchte, dass wir während dieser Zeit und in dieser Situation Verbündete füreinander sind. Im Laufe der Zeit habe ich realisiert, dass dieser Anschlag auch die jüdische Community in Berlin tief getroffen hat. Es ist wichtig, dass die jüdische Perspektive berücksichtigt wird und diese Perspektive nicht ausgelassen oder übergangen wird, wenn über den Anschlag erzählt und berichtet wird. Als Nebenklägerin am Gerichtsverfahren teilzunehmen bedeutet für mich, eine neue Phase des Heilungs- und Verarbeitungsprozesses.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenklägerin zu werden?

Zuerst war ich nicht wirklich daran interessiert, aber mit der Zeit habe ich erst realisiert, was für ein Geschenk das ist. Nebenklägerin zu sein bedeutet für mich, die Deutungshoheit über meine schmerzhafte Erinnerung zu haben. Auch die Möglichkeit, als Nebenklägerin vor Gericht auszusagen, bedeutet mir persönlich sehr viel, nicht nur, wegen des Anschlags und wegen dem, was ich erlebt habe, sondern auch aufgrund meiner eigenen Familiengeschichte. Alle meine Großeltern sind Holocaust-Überlebende. Bevor sie in die USA kamen, lebten sie in Polen und der damaligen Tschechoslowakei. Die Tatsache, dass ich in Deutschland lebe, ist für meine Familie nicht leicht. Und einer der Gründe, warum ich mich für ein Leben hier entschieden habe ist, mich mit meiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich bin erst so kurze Zeit in Deutschland, es ist sehr schwer und schmerzhaft Halle als eines der ersten Ereignisse erlebt haben zu müssen. Einer der Gründe warum ich an dem Tag selbst und in den Monaten danach wie erstarrt war, ist, dass es mich tief im Inneren berührt hat. Als Enkelin von Holocaust-Überlebenden habe ich einen sehr kleinen Teil von dem erlebt, was meine Großeltern durchmachen mussten. Und mir ist jetzt bewusst, dass ich das Trauma, welches sie überlebt haben, geerbt habe. Was ich erlebt habe ist natürlich ein anderes Ereignis zu einem ganz anderen Zeitpunkt, aber es ist immer noch derselben Familie passiert. Wenn ich jetzt zu diesem Gerichtsprozess gehe und daran teilnehme, dann geht es natürlich darum, was uns in Halle passiert ist, aber es geht auch darum, was meinen Großeltern passiert ist. Sie hatten noch nie die Gelegenheit, das, was ihnen widerfahren ist, als Zeugnisse, als Beweise in einem Gerichtsverfahren einzubringen. Nebenklägerin in diesem Prozess zu sein und die Möglichkeit zu haben, in 2020 vor einem Gericht in Deutschland auszusagen und dazu beizutragen, dass Gerechtigkeit geübt wird, ist für mich etwas sehr kraftvolles.

Was erhoffen Sie sich von dem Prozess?

Wir als Base Berlin arbeiten mit der jungen jüdischen Community hier in Deutschland, um sie darin zu bestärken, einen positiven Beitrag zu dieser Gesellschaft zu leisten. Die Gesellschaft zu verändern und zu verbessern ist eines der zentralen Grundwerte des Judentums. Als Nebenkläger*innen wird uns in dem Prozess eine öffentliche Plattform gegeben, um dem Gericht und der Öffentlichkeit zu erzählen, was passiert ist, wie es sich für uns angefühlt hat und wie es uns heute mit diesem Ereignis geht. Wir haben auch die Chance, unsere Bedenken und Analysen mitzuteilen, warum wir glauben, dass es passiert ist und was wir nach dem Anschlag erlebt haben. Ich denke, dass unsere Perspektiven und Stimmen zu den notwendigen strukturellen Veränderungen beitragen können, damit diese Gesellschaft ein besserer Ort für uns alle wird. Und ich hoffe, dass unsere Stimmen gehört werden.

Weitere Informationen zum Gerichtsprozess: Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.

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