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Hanau-Anschlag „Uns Hinterbliebenen ist wichtig, Stärke zu zeigen“

Schwerpunkt Rechtsterrorismus: Çetin Gültekin hat vor genau einem Jahr seinen Bruder Gökhan beim rechtsterroristischen Hanau-Anschlag verloren. Seitdem trauert er nicht nur. Er will Antworten – und organisiert sich mit anderen Überlebenden und Hinterbliebenen in der „Initiative 19. Februar Hanau“. Zusammen haben sie einen Laden in der Hanauer Innenstadt gemietet – direkt gegenüber vom ersten Tatort. Es ist ein Treffpunkt und Gedenkort zugleich. Ein Gespräch.

 
140 qm gegen das Vergessen: "Der Laden" in Hanau, ein Treffpunkt und Gedenktort für Überlebende und Hinterbliebene
140 qm gegen das Vergessen: "Der Laden" in Hanau, ein Treffpunkt und Gedenktort für Überlebende und Hinterbliebene (Quelle: Initiative 19. Februar Hanau)

Belltower.News: Der rechtsterroristische Hanau-Anschlag, bei dem Ihr Bruder Gökhan Gültekin ermordet wurde, jährt sich zum ersten Mal. Wie geht es Ihnen heute?
Çetin Gültekin: Heute geht es mir schlechter als vor einem Jahr. Es ist nicht nur der Verlust meines Bruders, was auch sehr schmerzhaft ist. Hinzu kommen noch viele andere Probleme und Lasten, mit denen wir Angehörige der Todesopfer klarkommen müssen – zusätzlich zu unserer Trauer. Wir wollen Antworten. Alles, was wir bis heute als Initiative zum Anschlag veröffentlicht haben, ist durch unsere eigenen Ermittlungen und Recherche entstanden. Niemand ist zu uns mit Information gekommen, nicht die Polizei, nicht der Staat. Und es gibt immer noch viele offene Fragen zum Anschlag.

Damit meinen Sie zum Beispiel die unterbesetzte Notrufstelle in der Tatnacht, den verschlossenen Notausgang in der „Arena Bar“, die Waffenscheine der Täters. Aber auch der Umgang der Polizei mit den Überlebenden und Hinterbliebenen wurde schon mehrfach kritisiert. Fühlen Sie sich von den Behörden im Stich gelassen?
Ja, definitiv. Wenn wir heute für Gerechtigkeit und eine lückenlose Aufklärung der Tat selbst recherchieren müssen, wenn wir also Polizeiarbeit übernehmen müssen, dann fühlen wir uns natürlich im Stich gelassen. Das sehen wir auch dadurch, dass nach all dem, was wir verlangt haben, immer noch nichts gemacht wird.

Es wird kein Prozess geben, keine juristische Aufarbeitung des Anschlags, da der Täter sich selbst erschossen hat. Somit sind Betroffene und ihre Angehörigen alleine gelassen, die Tat und ihre Folgen zu verarbeiten. Was fordern Sie von der Politik, von der Gesellschaft, um diesen emotionalen Prozess zu unterstützen?
Wir haben vier Forderungen: Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen. Erinnern werden wir als Angehörige so oder so – ohne Hilfe von anderen. Wir gedenken den Verstorbenen jeden Monat am 19. auf einer Kundgebung in Hanau. Bei den anderen drei Forderungen wird es allerdings schwieriger sein. Seit einem Jahr kämpfen wir, kämpfen wir, kämpfen wir. Aber bislang gab es weder eine Aufklärung des Anschlags noch Gerechtigkeit für uns noch politische Konsequenzen.

Inzwischen haben Überlebende und Hinterbliebene selbst die Initiative ergriffen – wortwörtlich mit der „Initiative 19. Februar Hanau“. Sie organisieren sich und haben einen Raum in der Hanauer Innenstadt gemietet, den Sie selbst verwalten: „der Laden“, wie es vor Ort genannt wird. Wie kam das Projekt zustande?
Den Laden haben wir bereits Mitte März 2020 gemietet, also direkt nach dem Anschlag. Wir sind neun Familien und in den ersten Wochen danach kannten wir uns natürlich nicht. Wir hatten keine Adressen, keine Telefonnummern. Jede*r hatte seine*n eigene*n Sachbeauftragte*n von der Stadt Hanau zugewiesen bekommen. Dann gab es ein erstes Treffen mit allen Familien: Wir haben beschlossen, dass wir etwas machen müssen, denn es kann nicht sein, dass wir uns immer bei einer anderen Familie zu Hause treffen müssen. Der Laden war eine Lösung: So hatten wir eine Anlaufstelle, einen Treffpunkt. Nachdem wir den Laden geöffnet haben, haben wir schnell bemerkt, dass es die richtige Entscheidung war: In diesem Laden haben wir uns vernetzt, Online-Kampagnen organisiert, Interviews gegeben, mit Fernsehteams gedreht.

Eine Pressekonferenz im Laden (Quelle: Initiative 19. Februar Hanau)

Wie sieht der Laden aus?
Den Laden haben wir gemeinsam renoviert. Am 1. Mai öffneten wir dann unsere Türen offiziell zum ersten Mal. Wir haben Tische und Stühle, aber auch eine Kuschelecke mit Sofas. Auf einer Tafel planen wir die kommende Woche und schreiben Ideen auf. Abends oder am Wochenende kochen, essen und trinken wir.

Ist der Laden für Sie nur ein Treffpunkt oder auch ein Ort des Gedenkens?
Es ist auf jeden Fall auch ein Ort des Gedenkens: Wir nennen den Raum „140 Quadratmeter gegen das Vergessen“. Wenn ich den Laden betrete, fühle ich mich, als wäre ich in der Wohnung von meinem Bruder Gökhan. Ich bin dort bei ihm zu Gast. So fühlen sich auch die anderen Hinterbliebenen. Es gibt auch eine Gedenkecke mit Fotos der Todesopfern. Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz, die beim Anschlag ermordet wurde, sitzt oft auf dem Sessel in dieser Ecke. Er schaut sich stundenlang das Porträt seiner Tochter an. Wir alle benutzen diese Ecke, manchmal zu zweit, manchmal zu dritt.

Warum war es Ihnen wichtig, einen Laden zu eröffnen?
Uns war von Anfang an wichtig, nicht auf das übliche „Opferbild“ reduziert zu werden, sondern mit dem Kopf hoch Stärke zu zeigen. Und das hat nur funktioniert, weil wir neun Familien sind: das heißt neun Kulturen, neun Ideen, neunmal so viel Kraft. Ich habe auch Tage, wo ich nichts schaffe. Dann springt eine andere Familie ein und zeigt diese Stärke. Und wenn es denen mal nicht gut geht, dann springt noch jemand ein. Gemeinsam sind wir stark. Wir organisieren uns demokratisch und stimmen immer zusammen ab, was die nächsten Schritte sind.

Sie zeigen auch Stärke dadurch, dass der Laden direkt gegenüber vom ersten Tatort liegt…
Es ist ein Statement, wir sind sichtbar. Wir haben Glück gehabt, eine Location direkt gegenüber von der „Midnight Bar“, in der Krämerstraße 24, zu finden. Wir haben schnell angerufen und hatten innerhalb einer Woche den Vertrag unterschrieben.

Wie zahlen Sie die Miete?
Die Miete kostet 2.500 Euro im Monat, die zahlen wir durch Spendengelder. Zunächst wollte der Vermieter uns nur einen Vertrag für zehn Jahre geben, was natürlich eine große finanzielle Verantwortung gewesen wäre. Über die „Initiative 19. Februar Hanau“ konnten wir dann erstmal einen Vertrag für drei Jahre verhandeln.

Wie werden Sie den ersten Gedenktag verbringen?
In der Familie Gültekin reden wir schon seit Wochen darüber, was wir alle machen werden. Meine Mutter hat Frikadellen für die Gäste und Trauernden im Laden vorbereitet und wird den ganzen Tag vor Ort sein, bis spät abends. Ich bin zuerst mit dem türkischen Konsulat für das Freitagsgebet verabredet. Ab 14 Uhr bin ich auch im Laden und um 15 Uhr gibt es eine Demo auf dem Marktplatz. Abends werde ich auf einer Kundgebung auf dem Kurt-Schumacher-Platz sein, direkt vor dem Kiosk, wo mein Bruder erschossen wurde. Um 22 Uhr wird dort ein neues Graffiti enthüllt, das wir gemacht haben. Und um Punkt 22:03 Uhr, die genaue Uhrzeit, als er ermordet wurde, werden wir eine Schweigeminute halten.


Schwerpunkt Februar 2021: Rechtsterrorismus

Im Februar 2021 beschäftigt sich Belltower.News vertieft mit dem Thema Rechtsterrorismus. Im Schwerpunkt sind erschienen:

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