Mustafa Tunç hatte noch nie in seinem Leben eine echte Pistole gesehen. „Nur im Fernsehen“, sagt der Mann – Anfang 50, grüner Hoodie, Dreitagebart. Das ändert sich am 19. Februar 2020, um 21:50 Uhr. Schüsse am Hanauer Heumarkt: Ein rechtsextremer Attentäter eröffnet das Feuer in der Bar „La Votre“, er ermordet dabei den Wirt Kaloyan Velkov. Vor der Bar treffen vier Kugeln Fatih Saraçoğlu tödlich. Ein Haus weiter liegt die Shisha-Bar „Midnight“, dort bringt er den Eigentümer Sedat Gürbüz um.
Als Mustafa Tunç die Schüsse hört, arbeitet er nebenan im Wettbüro „Tipwin“. Sedat Gürbüz betreibt auch diesen Laden, er ist Tunçs Chef. Davor auf der Straße begegnet Tunç dem Attentäter: „Er zielte genau auf meine Brust“, erinnert er sich mit zittriger Stimme. Tunç starrt ihm direkt in die Augen. „Ich wollte, dass er mich ansieht“. Zweimal richtet der Täter seine Waffe auf Tunç. Doch er drückt nicht ab – und bis heute fragt sich Tunç, warum. „Ich sehe nicht aus wie ein Ausländer, ich habe blaue Augen und blonde Haare“. Der Täter spricht ihn auch an, offenbar um herauszufinden, ob er mit einem Akzent spricht. Doch Tunç kann nicht antworten – aus Angst. „Ich konnte mich nicht bewegen, ich stand steif da“. 20 Sekunden vergehen: Tunç denkt an seine Familie, seine Geschwister, seine Freund:innen. Dann schießt der Täter sich seinen Weg weiter durch die Stadt und tötet insgesamt neun Menschen aus einem rassistischen Motiv, bevor er schließlich seine Mutter und sich selbst erschießt.
Zwei Jahre später kämpft Tunç immer noch mit den Folgen dieser Nacht. Bis heute spüre er das Metall der Waffe an seiner Brust. „Früher war ich glücklich, ich war zufrieden mit meinem Leben. Nun ist mein Leben ruiniert. Ich habe Angst“. Er laufe nicht mehr gerne alleine, gehe nachts nicht mehr raus. Manchmal schließe er sich für ein paar Tage in seiner Wohnung ein. Tunç leidet nicht nur psychisch am Anschlag: Seitdem hat sich seine Arthrose verschlechtert. In den vergangenen zwei Jahren musste er zweimal operiert werden und hat immer noch chronische Schmerzen. Ein Jahr lang konnte er nur mit Krücken laufen. Ärzt:innen vermuten, dass seelische Belastung der Auslöser sein könnte.
„Ich habe Schuldgefühle: Hätte ich etwas verhindern können? Manchmal kann ich deswegen die Familien der Opfer nicht ansehen“. Wenn ihm alles zu schwer wird, fliegt Tunç für ein paar Wochen zurück in die Türkei. „Dort kann ich wieder zu mir kommen“. 1971 wird er in der Küstenstadt Izmir geboren, mit vier Jahren zieht er mit seinen Eltern nach Steinheim in Nordrhein-Westfalen. Seit 1986 ist Hanau sein Zuhause, inzwischen ist er 51 Jahre alt. Seit dem Anschlag kann er nicht mehr arbeiten, das Wettbüro „Tipwin“ ist bis heute geschlossen. „Ich habe meinen Chef verloren“.
Doch nicht alles am Hanauer Heumarkt ist seit dem 19. Februar 2019 stehengeblieben. Die Bar „La Votre“ heißt jetzt „Café Aras“, ein Raucherlokal. Aus „Midnight“ wurde „Hashtag“, eine hippe Shisha-Bar mit Neonschild und Instagram-Seite, die auch Bitcoins akzeptiert. Gegenüber von seinem alten Arbeitsplatz „Tipwin“ sitzt Tunç im Laden der „Initiative 19. Februar Hanau“ – einem 140-Quadratmeter-Raum in der Krämerstraße, wo Überlebende und Hinterbliebene sich seit dem Anschlag treffen und organisieren. Im „Laden“, so nennen sie die Räumlichkeiten. Es hilft Tunç, hier zu sein – auch wenn er hintenherum laufen muss oder die Augen halb zudrückt, wenn er ankommt, damit er das „Tipwin“ nicht sehen muss – ein Ort mit so vielen Erinnerungen, positiven wie nun auch negativen.
Der Laden ist für Überlebende und Hinterbliebene ein ambivalenter Ort. „Wir weinen zusammen, wir lachen zusammen“, erzählt Vaska Zlateva, die beim Anschlag ihren Cousin Kaloyan Velkov verlor. Der Laden fühle sich an wie ein Wohnzimmer. „Wir sind jeden Tag hier, alle Familien“, sagt die 36-Jährige aus Bulgarien. Ein Ort zum Trauern und Gedenken. „Ich habe meinen Cousin immer noch sehr lieb, er ist 24 Stunden am Tag in meinen Gedanken“. Ihr Cousin war das erste Opfer der Nacht. Erst 25 Minuten nach den ersten Schüssen in der Bar „La Votre“ wurde seine Leiche hinter dem Tresen gefunden. Bis heute fragt sich seine Familie, warum das so lange gedauert hat.
In den zwei Jahren seit dieser Nacht hat sich für Zlateva wenig verändert: „Der Anschlag fühlt sich an wie gestern“. Auch sie hat Angst – um ihr Kind und davor, dass so etwas nochmal passiert. Seit 2011 wohnt sie in Deutschland, wegziehen will sie nicht: „Ich bleibe hier, ich bleibe hier“, wiederholt sie mit Entschlossenheit. Doch auch Wut ist in ihrem Ton zu hören: „Dieses Land hat große Fehler gemacht“. Sie fragt sich, warum die Behörden nicht auf die vielen früheren Warnzeichen beim Täter reagierten. Warum die Polizei zu spät eintraf. Warum neun junge Menschen sterben mussten. Und sie fordert Konsequenzen.
Der Hanauer Heumarkt ist der erste Tatort am 19. Februar 2020. Der Attentäter hat vor, dort mindestens zehn Menschen zu töten, wie er in Notizen zur Tat schreibt, die später von Ermittler:innen sichergestellt werden. Das gelingt ihm nicht – dank Vili-Viorel Păun. Der 22-jährige Rom ist Kurier bei einem Versandunternehmen, er ist nach einem langen Tag fast zu Hause, als er Schüsse hört. Er gerät ins Kreuzfeuer des Täters, doch er flieht nicht. Stattdessen wendet er sein Auto, versucht, sich dem Täter in den Weg zu stellen.
Păun verfolgt den Attentäter nach Kesselstadt – ein zweieinhalb Kilometer langer Weg: unter die Bahnbrücke, am Main entlang, am Schloss Philippsruhe rechts abbiegen. Eine Überwachungskamera der Autowerkstatt „West Garage“ zeigt wenige Sekunden der Verfolgungsjagd. Dreimal wählt Păun unterwegs die 110, dreimal kommt er nicht durch. Viele Notrufe an diesem Abend laufen ins Leere, wegen eines veralteten Telefonsystems und einer unterbesetzten Notrufstelle. Wäre er durchgekommen, hätte er überlebt? Diese Frage stellt sich seine Familie bis heute.
Der Kurt-Schuhmacher-Platz in der Kesselstadt ist der zweite Tatort in dieser Nacht. Es ist kurz nach 22:00 Uhr: Vor der „Arena Bar“ schießt der Attentäter siebenmal auf Păun, drei der Schüsse gehen durch die Windschutzscheibe seines silbernen Mercedes hindurch. Sie treffen ihn tödlich, der Motor läuft noch. Der Attentäter stürmt in einen Kiosk und ermordet Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar. In der „Arena Bar“ nebenan erschießt er Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović. Die Bar ist eine Todesfalle: Der Notausgang, der einzige Fluchtweg, ist verschlossen.
Seit dem Anschlag ist auch die „Arena Bar“ immer noch geschlossen. Am Türrahmen kleben noch Reste einer Siegelmarke des Bundeskriminalamts. Die Ermittlungen zum verschlossenen Notausgang, die erst nach einer Strafanzeige von Betroffenen eingeleitet wurden, wurden inzwischen wieder eingestellt. Der Notausgang war in dieser Nacht nicht zum ersten Mal verschlossen. Bereits 2017 stellten Polizeibeamt:innen bei einer Kontrolle fest, dass der Notausgang verschlossen war. Stammkunden der Bar behaupten, das sei mit Absicht so – um die Flucht von Gästen bei einer Razzia zu verhindern.
An der Stelle, wo Păuns Auto stehengeblieben ist, wo er erschossen wurde, steht heute ein Denkmal: Ein Kreuz ragt aus einem Stein, darunter Kerzen und Blumen. Eine Gedenktafel erinnert an seine heldenhaften Taten: „Vili-Viorel Păun bezahlte an dieser Stelle seine Zivilcourage mit dem Leben“. „Wir haben sehr viel Druck gemacht wegen dieses Kreuzes“, sagt sein Vater Niculescu Păun. Posthum wurde sein Sohn mit der hessischen Medaille für Zivilcourage geehrt, übergeben vom Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU).
Niculescu Păun, ein 47-Jähriger aus Rumänien, trägt Lederjacke und Schal, seine Stimme ist melancholisch und bedrückt, der Wind bläst durch seine dunklen Haare. „Man sagt, die Zeit repariert alles. Aber heute geht es mir, meiner Frau, meiner Familie noch schlimmer. Weil wir Vili so sehr vermissen“. Vor dem Anschlag war er Staplerfahrer, seine Frau arbeitete im Lager einer Supermarktkette. Doch seit dem Tod ihres Sohnes sind die beiden arbeitsunfähig. „Wir können uns nicht mehr konzentrieren“. Bis kurz vor dem zweiten Jahrestag des Anschlags waren Păun und seine Frau wieder in Rumänien. In ihrem Heimatdorf Singureni, einer 1.500-Seelen-Gemeinde bei Bukarest, wurde eine Straße nach ihrem Sohn benannt. Auch 22 Bäume wurden dort gepflanzt – „ein Baum für jedes Jahr, das Vili in dieser Welt gelebt hat“.
Vater Păun ist stolz auf seinen Sohn. „Er hat mehr als sieben Menschen am Heumarkt das Leben gerettet, eventuell sogar mehr“, sagt er. „Aber vielleicht würden heute sechs weitere Menschen, auch Vili, noch leben, wenn die Polizei erreichbar gewesen wäre“. Păun fordert eine konsequente Aufklärung, er will wissen: Wer war für den verschlossenen Notausgang in der „Arena Bar“ verantwortlich? Wer war für die Waffenscheine zuständig, die der Attentäter legal besaß? Wer für die Notrufstelle, die unterbesetzt war und nicht funktionierte? „Nach zwei Jahren gab es immer noch keine Konsequenzen. Die Polizei und das Innenministerium gratulieren sich gegenseitig für gute Arbeit“.
Auch für den Überlebenden Mustafa Tunç kann es keinen Schlussstrich geben. „Die deutsche Gesellschaft muss die Augen aufmachen“, sagt er. „Man kann hier nichts vertuschen oder unter den Teppich kehren“. Auch er will, dass Verantwortung übernommen wird. Doch gegenüber den deutschen Behörden fühle er sich machtlos. Und selbst nach einer lückenlosen Aufklärung der Tat: Die Wunden werden bleiben.