
Fünf Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau, bei dem am 19. Februar 2020 neun Menschen ermordet wurden, fand in diesem Jahr eine offizielle Gedenkveranstaltung mit hochrangigen Politiker*innen statt. Dabei hielt Emis Gürbüz, die Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz, eine Rede, in der sie die Stadt Hanau scharf für ihre Versäumnisse kritisierte. Sie sagte: „Hätte die Stadt ihre Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt, wären diese neun Kinder heute noch am Leben.“
Die Rede sorgte für politische Reaktionen. Zwei Tage nach der Gedenkveranstaltung äußerte die Hanauer Koalition aus FDP, CDU und SPD in einer Pressemitteilung scharfe Kritik an Gürbüz‘ Aussagen. Die SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Schwarzenberger erklärte: „Ich wünsche Frau Gürbüz die Kraft, ihren Hass zu überwinden, um sich künftig respektvoll zu äußern.“ Darüber hinaus wurde in der Stellungnahme eine private Angelegenheit thematisiert: „Warum sie bei einer derartigen Gefühlslage die deutsche Staatsbürgerschaft beantrage, bleibt wohl ihr Geheimnis.“
Die Koalition kündigte an, dass es „derlei Gedenkveranstaltungen“ künftig nicht mehr geben werde. Später erklärte der Oberbürgermeister jedoch, das Gedenken werde weiterhin stattfinden, allerdings in kleinerem Rahmen – eine Entscheidung, die laut ihm nicht mit der Rede von Emis Gürbüz in Zusammenhang stehe.
Der Vorfall ereignete sich nicht nur zwei Tage nach der fünfjährigen Gedenkveranstaltung, sondern auch im Endspurt einer der rassistischsten Wahlkampagnen der deutschen Nachkriegszeit. Die Stadt versucht, die Kontrolle über das Gedenken zu übernehmen – unter anderem durch Diffamierungsversuche gegen eine Angehörige. Dieser Einschüchterungsversuch richtet sich jedoch nicht nur gegen sie persönlich, sondern gegen alle, die sich kritisch äußern. Damit lenkt die Stadt den Fokus vom eigentlichen Problem ab: der Verantwortungsübernahme und der Notwendigkeit, Konsequenzen zu ziehen.
Angriff auf die Errungenschaften der Erinnerungspolitik von unten und den Kampf gegen Rassismus
Hanau steht für eine neue Form der Erinnerungspolitik, in der die Namen der Ermordeten im Mittelpunkt stehen und die Betroffenen mit ihren Forderungen gesellschaftliche Sichtbarkeit erkämpft haben. Sie haben immer wieder betont: Erinnern heißt verändern. Gleichzeitig wurde Hanau auch zu einem Symbol im Kampf gegen Rassismus. Die Betroffenen und ihre Unterstützer:innen haben von Beginn an klargestellt, dass die Ermordeten keine „Fremden“ waren, sondern aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Ebenso verdeutlichten sie, dass Rassismus tief in Strukturen und Institutionen verwoben ist.
Diese Form des Erinnerns wurde von zahlreichen Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sowie solidarischen Initiativen erkämpft. Sie beruht auf zwei zentralen Prinzipien, die nun angegriffen werden: die Perspektive der Betroffenen und ihr Recht auf Selbstbestimmung.
Die Betroffenenperspektive
In Hanau wurde das Gedenken aus der Sicht der Betroffenen gestaltet. Nicht die Identität des Täters stand im Mittelpunkt, sondern die Namen und Biografien der Opfer: Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov.
Die Erinnerung wird maßgeblich von den Hinterbliebenen und Überlebenden geprägt. Doch genau dieses selbstbestimmte Erinnern gerät zunehmend unter Druck.
Spannungsfeld: Selbstbestimmtes Erinnern vs. städtische Erinnerungspolitik
Der Kampf um ein selbstbestimmtes Erinnern ist das Ergebnis jahrelanger Konfrontationen zwischen Betroffenen und den Behörden. Seit Jahren setzen sich die Angehörigen der Opfer und Überlebenden dafür ein, nicht nur als Statist*innen bei offiziellen Gedenkveranstaltungen zu erscheinen, sondern die Erinnerungspolitik selbst zu gestalten. Ein Anspruch, den Ibrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Möln, treffend formulierte.
In Hanau schien dieser Kampf erste Erfolge zu zeigen: Die Angehörigen der Ermordeten organisierten eigene Gedenkveranstaltungen, hielten Reden und konfrontierten politische Verantwortliche direkt mit ihrer Kritik.
Nun zeigt die Stadt die Grenzen eines selbstbestimmten Erinnerns. Das ohnehin bestehende asymmetrische Machtverhältnis zwischen den Betroffenen und den Behörden wird durch tief verwurzelten institutionellen Rassismus weiter verstärkt. Der Versuch, die berechtigte Kritik einer Angehörigen als „Hass“ zu diffamieren, ist eine gezielte Strategie der Delegitimierung. Hier wird nicht nur die Kritik inhaltlich infrage gestellt, sondern auch die Legitimität der Betroffenen, diese Kritik überhaupt zu äußern.
Ein besonders schwerwiegender Aspekt ist die Behauptung, eine kritische Haltung – als bloße Gefühlslage unterstellt – sei mit dem Einbürgerungsantrag einer Angehörigen nicht vereinbar. Die Öffentlichmachung dieser privaten Angelegenheit stellt nicht nur einen gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar, sondern verweist auch auf eine problematische Tradition: die Erwartung, dass Migrant:innen erst ihre „Loyalität“ unter Beweis stellen müssen, bevor sie ihre Rechte erhalten. Dabei engagiert sich diese Angehörige aktiv gegen eine der größten Bedrohungen unserer Gesellschaft – Rassismus und Rechtsextremismus – und fordert mit ihrer Haltung nicht nur Gerechtigkeit für die Opfer, sondern auch eine nachhaltige Veränderung, um künftige Taten dieser Art zu verhindern.
Zusammenhalt als Feigenblatt für fehlende Verantwortung
Anstatt Verantwortung zu übernehmen, verschiebt die Stadt die Debatte und versucht, die Deutungshoheit über das Gedenken zurückzugewinnen. Sie inszeniert sich als Verfechterin von Zusammenhalt und Zukunftsorientierung – doch diese Darstellung dient letztlich dazu, sich nicht mit strukturellem und institutionellem Rassismus auseinanderzusetzen, der zum Anschlag führte und hinter den vielfach kritisierten „Versäumnissen“ steht.
Besonders bedenklich ist, dass eine Angehörige, die genau auf diese Verantwortung hinweist, mit dem Vorwurf des Hasses belegt wird. Solche Anschuldigungen verlagern den Fokus und verhindern eine dringend notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen von Rassismus und rechter Gewalt.
Ohne Solidarität kein selbstbestimmtes Erinnern
Was Hanau zu einem Symbol für eine Erinnerungskultur von unten und für den Kampf gegen Rassismus gemacht hat, war die breite Solidarität, die Betroffene und Unterstützende mobilisiert haben. Diese Solidarität ist heute wichtiger denn je. Das Solidaritätsnetzwerk von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zeigt: Betroffene sind nicht allein – ebenso wie viele weitere gesellschaftliche Bündnisse, die über Jahre hinweg gewachsen sind.