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Handlungsmöglichkeiten der Praxis „Besorgte“ Mutter und Vielfaltserziehung

 

Der Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Ene, mene, muh – und raus bist du! – Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik“ der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung (September 2018). 

 

Ebene II: Elternarbeit – Fall II.3: „Besorgte“ Mutter

 

In ihrer Kita gibt es eine Verkleidungsecke mit Kostüm- und Schminksachen, welche die Kinder rege nutzen. Ein Junge lässt sich von ihnen die Fingernägel lackieren. Am nächsten Tag sucht dessen Mutter vehement ein Gespräch mit ihnen. Sie fragt, was das solle und erklärt, das habe einen schlechten Einfluss auf ihr Kind, Kinder sollten heutzutage nicht noch zusätzlich verunsichert werden; Jungen seien Jungen, Mädchen seien Mädchen und sie möchte, dass ihr Junge »später mal ein richtiger Mann wird«. Sie als Erzieher*in erklären, dass in ihrer Kita geschlechtliche Vielfalt und Toleranz begrüßt werden, Kinder sich ausprobieren können und dafür auch unterschiedliche Materialien zum Lesen und Spielen ausliegen, u.a. zum Schminken und Kostümieren. Die Mutter lehnt das lautstark ab, es fallen Worte wie »Frühsexualisierung« – hier sollten wohl Kinder mit dem »Genderquatsch« indoktriniert werden, sie erziehe ihre Kinder selbst.

 

In der beschriebenen Situation in der Kita geht es um altersgerechte pädagogische Angebote, die es Kindern ermöglichen, sich in unterschiedlichen Rollen und Inszenierungen auszuprobieren. Dies ist Teil der kindlichen Entwicklung. Die Annahme, Jungen würden sich nicht die Fingernägel lackieren, verweist auf geschlechtsspezifische, gesellschaftliche Zuschreibungen. Aus Perspektive von Kinderrechten, des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und weiteren fachlichen Einschätzungen werden mit geschlechtsstereotypen Interventionen Bedürfnisse und Bedarfe des einzelnen Kindes nicht angemessen wahrgenommen. Kindern werden individuelle Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten, sie verlieren »unpassende« Ausdrucksmöglichkeiten, werden auf »typisches« festgelegt – kurz: Sie werden beschränkt (siehe Interview mit Stephan Höyng). Jenseits dessen sind rechtsextreme Positionen in hohem Masse anschlussfähig an die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Anders gesagt: So finden sich beispielsweise sexistische Aussagen, stereotype Geschlechtervorstellungen (binäre und traditionelle Vorstellungen vom Junge- und Mädchen-Sein, Männlichkeit und Weiblichkeit) in vielen Milieus. Sie sind insofern anschlussfähig bzw. haben sie eine Brückenfunktion an rechtsextreme Ideologie.

In der konkreten Bearbeitung des Falles würden wir empfehlen, die Mutter zu einem Einzelgespräch in die Kita einzuladen. Die aktuelle Gesprächssituation scheint nicht geeignet, um ein fachliches Gespräch mit ihr zu führen. In einem extra vereinbarten Einzelgespräch ist es möglich, die Vorteile der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen und der Wahlfreiheit in Sozialisationsprozessen konstruktiv aufzuzeigen. Hilfreich ist die Grundannahme, dass die allermeisten Eltern ihre Kinder lieben und sie fördern und unterstützen. Die Wortwahl der Mutter (»Gender-Quatsch«, »Frühsexualisierung«, »richtiger Mann«) gibt Grund zu der Annahme, dass diese sich im Kontext (neu-)rechter oder fundamentalistischer Ideologien verortet oder bewegt. Daher wäre es gut, darauf vorbereitet zu sein, dass das Gespräch durchaus kontrovers verlaufen kann. Wichtig ist es, das Kindeswohl und das damit verbundene Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Ziel des Gespräches im Blick zu behalten. Hier kann auch darauf verwiesen werden, dass sie in der Kita selbstverständlich dem Jungen weiterhin ermöglichen, sich vielfältig auszuprobieren und diese fachliche Haltung generell der pädagogischen Arbeit im Team zugrunde liegt. Der Dialog mit der Mutter kann eine wichtige Basis für eine strategische Arbeitsbeziehung sein, in der die Interessen und Bedürfnisse des Kindes im Vordergrund stehen.

Zudem wäre es förderlich, im Team darüber zu beraten, ob eine Fachveranstaltung mit externen Expert*innen für einen Elternabend zum Thema »Geschlechtliche Vielfalt« sinnvoll ist. Auf jeden Fall ist es hilfreich, pädagogisches Informations- und Fortbildungsmaterial zum Thema zu bestellen, den Kolleg*innen im Team und den Eltern zu empfehlen und in die pädagogische Arbeit mit den Kindern einzubeziehen.

 

»Frühsexualisierung«

Bereits 2007 wird die Formulierung einer sogenannten »Frühsexualisierung« u.a. von Gabriele Kuby, ultra-konservative katholische Publizistin, in eine Debatte eingebracht, in der eine Broschüre des Bundesamtes für gesundheitliche Aufklärung für Eltern zum Thema kindliche Sexualität diskreditiert wird. Die Neue Rechte und christlich-fundamentalistische Akteur*innen haben dieses Wort aufgegriffen und verwenden es seitdem als Kampfbegriff, um geschlechtliche Vielfalt und Sexualaufklärung anzugreifen. Mit den Mobilisierungen gegen Bildungspläne greifen weitere gesellschaftliche Gruppen das Thema auf. Familistische, homofeindliche Initiativen wie die »Besorgten Eltern« und die »Demo für alle« können sich hierüber etablieren. Letzteregehören wie die Initiative »Familienschutz« zum Kampagnennetzwerk »Zivile Koalition« von Beatrix von Storch (AfD). Die Initiative Familienschutz verschickt gezielt Flyer »gegen Gender und Frühsexualisierung« und verunsichert damit Eltern und Kita-Fachkräfte. Inhaltlich lässt sich festhalten: Die mit dem Wort »Frühsexualisierung« verbundenen Kampagnen entsprechen keinerlei fachlichen Erkenntnissen und Standards. Die Verwendung des Wortes »Genderquatsch« durch die Mutter in der beschriebenen Situation verweist auf einen weiteren Kampfbegriff der Neuen Rechten: »Genderwahn«. Diese Debatte begann 2006 im bürgerlichen Feuilleton und wurde umgehend von der rechtspopulistischen Zeitung »Junge Freiheit« aufgegriffen. »Gender« hat sich als Chiffre etabliert und fungiert als zentrale rechtsextreme Klammer gegen Gender Mainstreaming, Gleichstellungspolitiken, Gender Studies, Feminismus und Sexualaufklärung (vgl. zum Thema den Diskursatlas Antifeminismus, oder Laumann, Vivien/Debus, Katharina 2018: »Frühsexualisierung« und »Umerziehung«? Pädagogisches Handeln in Zeiten antifeministischer Organisierungen und Stimmungsmache. In: Lang, Juliane/Peters, Ulrich (Hrsg.): Antifeminismus in Bewegung. Hamburg: Marta Press, S. 275 – 301).

 

Pädagogik der vielfältigen Lebensweisen

Kinder wachsen heute in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft auf. Die Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Menschen und die Beschäftigung mit Strategien von Antidiskriminierung und Solidarität werden daher in der pädagogischen Arbeit immer wichtiger. In Kitas sind Kinder meist zum ersten Mal in einer größeren Kindergemeinschaft. Sie haben dort die Möglichkeit, die Vielfalt an Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf der Grundlage von gleichen Rechten und gleichen Möglichkeiten kennenzulernen. Es gibt nicht die eine »Bilderbuchfamilie«, wie wir sie noch immer in den meisten Kinderbüchern vorfinden. Materialien in den Einrichtungen und der pädagogische Umgang sollte die Vielfalt von Lebensrealitätenberücksichtigen, die für Kinder eine Rolle spielen. Das bedeutet möglichst einen Verzicht auf Klischees und Zuschreibungen. Eine Pädagogik der vielfältigen Lebensweisen zielt auf die Auseinandersetzung mit Grundfragen des vielfältigen menschlichen Zusammenlebens, z.B. durch die sichere und selbstverständliche Beschäftigung mit unterschiedlichen Familien (vgl. Queerformat 2013: Vielfalt fördern von klein auf, https://bit.ly/2tGmLxI, S. 18f.). Für Berlin hat die Initiative Queerformat einen Medienkoffer »Familien und vielfältige Lebensweisen« erarbeitet, der ausgeliehen werden kann. An den Materialien kann sich aber auch außerhalb Berlins gut orientiert werden: https://bit.ly/2MoCAkn und https://bit.ly/2yISDHT.

 

MEHR FALLANALYSEN UND HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN IN DER PRAXIS:

Ebene I: Pädagogisches Handeln mit Kindern

Fall I.1: »Morgenkreis«

Fall I.2: »Nationalsozialistische Symbole und problematisches Verhalten«

Fall I.3: »Kinder aus völkischen Elternhäusern«

Ebene II: Elternarbeit

Fall II.1: »Frühzeitiges Erkennen von Rassismus«

Fall II.2: »Bildung für das eigene Kind«

Fall II.3: »Besorgte« Mutter und Vielfaltserziehung 

Ebene III: Arbeit im Team und mit Träger

Fall III.1: »Feindschaft gegenüber Geflüchteten«

Fall III.2: »Wahrnehmung von Rassismus«

Ebene IV: Umgang mit rechtsextrem engagierten Kolleg*innen und arbeitsrechtliche Fragen

Fall IV. 1 und 2: »Aktivistinnen in der Kita«

Fall IV.3: »Flüchtlingsfeindliche Postings«

 

MEHR AUS DER BROSCHÜRE AUF BELLTOWER.NEWS:

Kindertagesbetreuung in Zeiten rechtspopulistischer Mobilisierung (Einleitung)Handlungsempfehlungen aus unserer Arbeit für die Pädagogik

 

INHATE DER FACHSTELLE GENDER, GMF UND RECHTSEXTREMISMUS AUF BELLTOWER.NEWS

http://www.belltower.news/category/lexikon/gender

 

DIE BROSCHÜRE ALS PDF ZUM DOWNLOAD:

http://www.gender-und-rechtsextremismus.de/w/files/pdfs/fachstelle/kita_internet_2018.pdf

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AfD und Halemba Wieviel Bekenntnis zum Nationalsozialismus ist erlaubt?

Der Fall Halemba offenbart wie weit die Radikalisierung der AfD bereits fortgeschritten ist. Für Teile der Junge Alternativen (JA) ist die Mutterpartei aber immer noch nicht rechtsextrem genug. Das sorgt für Streit auf offener Bühne und hinter den Kulissen.

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