Der Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Ene, mene, muh – und raus bist du! – Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik“ der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung (September 2018).
Fallanalysen und Handlungsmöglichkeiten in der Praxis
Prof. Dr. Esther Lehnert (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Prof. Dr. Heike Radvan (Brandenburgische Technische Universität Cottbus – Senftenberg). Beide sind freie Mitarbeiterinnen der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus.
Die Fälle und Handlungsmöglichkeiten gliedern sich auf verschiedene Ebenen: Pädagogisches Handeln mit Kindern, Elternarbeit sowie professionelles Handeln im Team und beim Träger.
Ebene I: Pädagogisches Handeln mit Kindern
Fall I.3: Kinder aus völkischen Elternhäusern
In einer Kita fallen zwei Geschwister auf, die besonders zurückhaltend sind und wenig von zu Hause, z.B. vom Wochenende, erzählen. So verhalten sie sich im Morgenkreis zum Wochenbeginn schweigsam und passiv. Gleichzeitig gibt es keine sogenannten Disziplinprobleme, diese Kinder scheinen besonders ‚gut zu spuren‘. Außerdem sind traditionelle Geschlechterrollen in den Erziehungsstilen erkennbar: Das Mädchen trägt Kleider und Zöpfe, es wird zu Hause zu Haus- und Handarbeiten angeleitet, der Junge wird stark körperlich gefordert und gedrillt. Beide kommen häufig am Morgen in die Einrichtung, nachdem sie bereits einen 1,5-km-Lauf absolviert haben.
Nun lädt das Mädchen mehrere andere Kinder aus der Kita zum Kindergeburtstag ein. Einige Eltern, deren Kinder eingeladen sind, wissen um die Zugehörigkeit der Eltern in einer rechtsextremen Kameradschaft und machen sich Sorgen, was auf dem Kindergeburtstag passieren könnte. Gleichzeitig möchten sie ihren Kindern nicht so einfach die Teilnahme und damit auch die Möglichkeit zur Freundschaft mit dem Mädchen verbieten. Sie bitten die Erzieher*innen um Rat.
Im Fallbeispiel gibt es Hinweise darauf, dass die Kinder in einem rechtsextremen völkischen Elternhaus aufwachsen. Völkische Erziehungsstile sind in der Gegenwart – wie bereits im Nationalsozialismus – stark darauf ausgerichtet, Kinder zu Gehorsam und Unterordnung in eine völkische Gemeinschaft zu erziehen. Die Erziehung in den Familien ist dabei sehr auf die Ausbildung klassischer Geschlechterrollen bedacht. Es geht darum, ein »richtiger Junge« und ein »richtiges Mädchen« zu sein und um die Perspektive, dass aus Mädchen »deutsche Mütter« werden und aus Jungen »politische Kämpfer«. Auch wenn man nicht von einem einheitlichen Erziehungsstil im aktuellen Rechtsextremismus sprechen kann, sind Erziehungsstile weit verbreitet, die auf Härte, Durchhaltevermögen und Folgsamkeit ausgerichtet sind. Unabhängig davon verfolgen Eltern, die Teil der Neonazi-Szene und von deren weltanschaulichen Ideen überzeugt sind, das Ziel, ihren Nachwuchs ideologisch zu prägen. Hinweise auf solche Erziehungsstile finden sich in rechtsextremen Online-Foren und rechtsextremen Erziehungsratgebern. Das sind zumeist Bücher aus der Zeit des Nationalsozialismus, die z.T. aber auch nach 1945 partiell überarbeitet in der Bundesrepublik aufgelegt wurden, z.B. das Buch von Johanna Haarer »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«. Darin wird eine strenge, autoritäre Erziehung empfohlen und dazu geraten, Kinder nicht zu »verzärteln«. Die Mutter solle »hart werde(n)« und auf das Weinen des Kindes gerade nicht mit emotionaler Zuwendung reagieren. Haarer vermittelt in ihren Büchern nationalsozialistische Ideologie.
Die in der Bundesrepublik erschienene Neuauflage des Buches ist sprachlich bereinigt; empfohlen werden auch hier Erziehungsmaßnahmen im Sinne von Härte, Gehorsam und Unterwerfung. Ein sinnvolles pädagogisches Angebot für Kinder generell, insbesondere aber für Kinder, die in autoritären, disziplinierenden Kontexten aufwachsen, können Angebote der Primärprävention sein – z.B. Ansätze der Vielfalt- und Demokratiepädagogik sowie Projekte zu Kinderrechten. Grundsätzlich hilfreich ist es, das pädagogische Konzept der Einrichtung zu überdenken und ggf. dahingehend zu ergänzen. So ist es wichtig, auf eine Vielfalt der Zugehörigkeiten zu achten – sowohl aufseiten der pädagogischen Fachkräfte als auch aufseiten der Kinder. Stereotype jeglicher Art können unterlaufen werden, wenn zum Beispiel Toberäume nicht nur für Jungen und Kuschelecken nicht nur für Mädchen gedacht werden, das Speiseangebot in der Einrichtung unterschiedlichen religiösen und kulturellen Ansprüchen gerecht wird und unterschiedliche ethnische Herkünfte sich auch im pädagogischen Material spiegeln. Vielfalt aufzugreifen kann auch heißen, gezielt Eltern anzusprechen, die einer anderen Einkommensgruppe oder Bildungsschicht als die Mehrheit angehören oder die eine Migrationsgeschichte mitbringen, sowie Kinder einzubeziehen, die aus Regenbogenfamilien kommen. Eine Alltagskultur, die Verschiedenheiten für alle als gleichwertig erfahrbar werden lässt, ist bereits ein wirksamer Ansatz der Primärprävention gegen Rechtsextremismus. Es gilt, eine Kultur der Verschiedenheit und Gleichwertigkeit aller im Alltag der Kinder erfahrbar zu machen. Damit wird der Vorstellung einer homogenen ‚Volksgemeinschaft‘ und der Ungleichwertigkeit verschiedener Gruppen – zentrale Ideologeme von Neonazis – praktisch etwas entgegengesetzt.
In der konkreten Situation ist es hilfreich, die Eltern zum persönlichen Gespräch in die Kita einzuladen. Hierbei sollte es um die bestmögliche Unterstützung der Kinder gehen – ausgehend davon, dass fast alle Eltern ein gutes und bildungserfolgreiches Aufwachsen ihrer Kinder wünschen. Es sollte deutlich gemacht werden, inwiefern autoritäre und geschlechterstereotype Erziehungsstile die vielfältigen Möglichkeiten von Kindern einschränken und Entwicklungen erschweren. Auf dieser Basis kann eine strategische Arbeitsbeziehung mit den Eltern eingegangen werden, in deren Vordergrund das Kindeswohl steht. Für die Arbeit im Team ist hierbei zu bedenken: Fachkräfte, die möglicherweise von Neonazis als Feind*innen wahrgenommen werden, sollten von ihren Kolleg*innen solidarisch unterstützt und geschützt werden. Sinnvoll kann die Entwicklung eines Schutzkonzeptes sein. Arbeitsbeziehungen mit rechtsextrem orientierten oder organisierten Eltern einzugehen, beinhaltet nicht das Tolerieren von Diskriminierung – vielmehr ist wesentlich, dass sich Pädagog*innen eindeutig positionieren und auch das Einhalten der gemeinsam ausgehandelten Regeln einfordern.
Im Umgang mit den Eltern, die im Vorfeld des Kindergeburtstages um Rat gebeten haben, ist es zunächst wichtig, ihnen für das Vertrauen zu danken und wertzuschätzen, dass sie rechtsextreme Orientierungen als Problem wahrnehmen und diese ansprechen. Das ist leider nicht selbstverständlich. Zudem ist anzuerkennen: Sie begeben sich auf die Suche nach einer Lösung, die die Situation aller Kinder mitbedenkt, sowohl der eigenen als auch der Kinder, die zum Geburtstag einladen. Auf einem Elternabend in der Kita können mögliche Alternativen besprochen werden – z.B. das Begleiten der Kinder durch ihre Eltern oder das alternative Angebot, das Fest in der Kita auszurichten.
Nicht zuletzt kann es in diesem Fall sinnvoll sein, Erscheinungsformen von Rechtsextremismus, (Alltags-)Rassismus und/oder andere Diskriminierungsformen mit allen Eltern in der Einrichtung zu thematisieren. Das kann zum Beispiel in Form eines Elternabends geschehen oder mittels eines Infotages mit externen Expert*innen. Grundsätzlich kann es in diesem Fall sinnvoll sein, eine externe Fachberatung zum Thema Rechtsextremismus für das Team und den Träger begleitend hinzuzuziehen. Auf jeden Fall sollte diese Situation im Team besprochen werden.
Die Frage von Kindeswohlgefährdung
Im Kontext der pädagogischen Arbeit mit Kindern, die in rechtsextrem organisierten Familien aufwachsen, geht es auch um die Diskussion einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Oft geraten Kinder in einen Loyalitätskonflikt zwischen den Ansprüchen der Herkunftsfamilie und den dazu diskrepanten Anforderungen im Außen. Viele werden in Freund-Feind-Bilder einsozialisiert. Das schränkt letztlich den möglichen Erfahrungsraum Heranwachsender ein. Beide Themen könnenden Straftatbestand der Kindeswohlgefährdung berühren. Allgemein ist zu beachten: Das Elternrecht auf Pflege und Erziehung der Kinder ist ein hohes Gut in unserem Grundgesetz. Es kann, gerade aus demokratischer und historischer Perspektive,nicht darum gehen, Kinder ohne Weiteres aus ihren Elternhäusern herauszunehmen. Nicht zuletzt ist dies eine pädagogische Frage, die sich angesichts der Loyalität von Kindern gegenüber ihren Eltern stellt. Man weiß aus der Arbeit mit Kindern, die in Familien aufwachsen, die sich in christlich-fundamentalistischen Gruppierungen oder Sekten bewegen, um die kontraproduktive Wirkung, die eine gegen den Willen von Kindern durchgesetzte Herausnahme haben kann. Kinder versuchen, die ihnen zugewiesenen Pflegefamilien zu verlassen, ihnen zu ‚entfliehen‘ und zu ihren Eltern zurückzukehren – auch wenn es sich dort um nachweisbare Zwangs- und Gewaltsituationen handelt. Aufgabe demokratischer pädagogischer Institutionen sollte es sein, Kinder zu stärken und ihnen in diesem Fall einen alternativen Erfahrungsraum zu ihrem Elternhaus zu eröffnen. Eine Ausgrenzung der betroffenen Kinder ist keine Lösung und ist keinesfalls anzustreben. Vielmehr sollte versucht werden, den Zugang zu den Kindern zu erhalten. Kita und Schule sind diejenigen Institutionen, die es ermöglichen können, den Kindern einen demokratischen Alltag erlebbar zu machen. Insofern sehen wir die Aufgabe von Pädagog*innen zuallererst darin, hier anzusetzen und letztlich ein Fenster offenzuhalten, damit diese Kinder eines Tages selbstständig entscheiden können, ob sie einen anderen Weg gehen wollen oder erwachsener Teil der rechtsextremen Szene werden/bleiben. Es ist sinnvoll, den Kontakt zu diesen Kindern nicht zu verlieren. Von Aussteiger*innen wissen wir: Oft war ein Mensch für sie entscheidend, der sie als Person akzeptiert hat, aber – und hier reden wir vom späteren Jugend- und Erwachsenenalter – in ideologische Widersprüche verwickelt hat. Ausgrenzung ist in der Arbeit mit Kindern keine Lösung.
Rechtsextremismus und Kindeswohlgefährdung
»Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn die persönliche Entfaltungsfreiheit der Kinder und Jugendlichen behindert wird, denn dem im Grundgesetz verbürgten Elternrecht steht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit seitens der/des Minderjährigen aus Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber. (…) Es ist davon auszugehen, dass auch bei rechtsextremistisch orientierten bzw. organisierten Eltern eine große Breite des Umgangs mit Kindern und der Qualität von Eltern-Kind-Beziehungen existiert. Eine Kindeswohlgefährdung ist nicht allein durch das Aufwachsen im rechtsextremen Milieu gegeben. (…) Eine Kindeswohlgefährdung aufgrund rechtsextremistischer Erziehung kommt in Betracht, wenn es zu körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen oder anderen entwürdigenden Maßnahmen kommt. Wenn also aufgrund der Ausübung der elterlichen Sorge die körperliche und/ oder psychische Entwicklung behindert wird, persönliche Bindungen unterdrückt oder überfordernde Loyalitätskonflikte hervorgerufen werden« (Kati Lang 2010: Rechtsextremismus als Thema in der Jugendhilfe. pad e.V./ LICHT-BLICKE Projekt ElternStärken (Hrsg.), https://bit.ly/2oGQRxH).
Kinderrechte
Jeder Mensch hat Rechte – dafür gibt es die Charta der Menschenrechte. Kinder sind auch Menschen, aber sie haben besondere Bedürfnisse in Bezug auf ihre Förderung, ihren Schutz, ihre Mitbestimmung und ihre Entwicklung. Darum hat die UNO 1989 die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. Den Kinderrechten in der UN-KRK liegen vier zentrale Grundprinzipien zugrunde: der Schutz vor Diskriminierung, der Vorrang des Kindeswohls, das Recht jedes Kindes auf Leben, Überleben und Entwicklung sowie die Berücksichtigung der Meinung des Kindes.
»Völkische Familien«
Die Vorstellung einer ethnisch homogenen, über Jahrhunderte bestehenden »Schicksalsgemeinschaft« eint die rechte Szene. Sowohl im Rechtsextremismus als auch im Rechtspopulismus, in Reichs- und Verschwörungsideologien und rechter Esoterik existiert die Angst vorm Aussterben des bedrohten »Volkes«. Tatsächlich prägt in der rechten Szene der »völkische Blick« die Haltung zu Einwanderung, Geschlechterverhältnissen, Sexualität und Fortpflanzung, die Sicht auf Ökologie und Natur, Bildung von Kindern, die Gesellschaftsordnung und vieles mehr. Diese Ideologie findet in der völkischen Bewegung ihren politischen Ausdruck. Sogenannte »Völkische Siedler*innen« lassen sich gezielt in strukturschwachen Regionen nieder, um ihrrassistisches und antisemitisches Weltbild ungehindert ausleben und als Alternative zum »System« etablieren zu können. Diese Rückzugsorte bieten ihnen auch die Chance, ihre Kinder mit »weniger Einflüssen von außen« zu erziehen. Ihre Weltanschauung geht auf das rassistischantisemitische Denken der völkischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, das im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt fand (siehe Amadeu Antonio Stiftung 2017: »Die letzten von gestern, die ersten von morgen«? Völkischer Rechtsextremismus in Niedersachsen. https://bit.ly/2KmkUsw).
Mehr Fallanalysen und Handlungsmöglichkeiten in der Praxis folgen in den kommenden Tagen:
Ebene I: Pädagogisches Handeln mit Kindern
Fall I.2: »Nationalsozialistische Symbole und problematisches Verhalten«
Fall I.3: »Kinder aus völkischen Elternhäusern«
Ebene II: Elternarbeit
Fall II.1: »Frühzeitiges Erkennen«
Fall II.2: »Bildung für das eigene Kind«
Fall II.3: »Besorgte Mutter«
Ebene III: Arbeit im Team und mit Träger
Fall III.1: »Feindschaft gegenüber Geflüchteten«
Fall III.2: »Wahrnehmung von Rassismus«
Ebene IV: Umgang mit rechtsextrem engagierten Kolleg*innen und arbeitsrechtliche Fragen
Fall IV. 1 und 2: »Aktivistinnen in der Kita«
Fall IV.3: »Flüchtlingsfeindliche Postings«
Mehr aus der Broschüre auf Belltower.News:
Kindertagesbetreuung in Zeiten rechtspopulistischer Mobilisierung (Einleitung)Handlungsempfehlungen aus unserer Arbeit für die Pädagogik
Inhate der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus auf Belltower.News
http://www.belltower.news/category/lexikon/gender
Die Broschüre als PDF zum Download:
http://www.gender-und-rechtsextremismus.de/w/files/pdfs/fachstelle/kita_internet_2018.pdf