Es war Juli 1981. Meine Mutter, eine Afroamerikanerin, sprang in aller Herrgottsfrühe aus den Federn, um die live aus London übertragene Hochzeit von Prince Charles und Lady Diana nicht zu verpassen. Ja, Mama. Eine Schwarze und progressiv wählende US-Demokratin mit keinen uns bekannten Blutsverwandten im Buckingham-Palast. Aber es war, als hätte sie eine eingravierte Einladung direkt aus dem Hause Windsor erhalten. Die etliche Zeitzonen entfernte Zaungästin war so aufgeregt, dass sie ihr Frühstück kaum anrührte.
Während der Zeremonie haben wir Mama ein wenig belächelt. Allerdings schüttelten ihr Charles und Diana höchstpersönlich die Hand. In echt. Es geschah nicht etwa in London, sondern während die beiden Royals durch die USA tourten. Das Tête-a-Tête zur Teestunde ereignete sich genauer genommen in einem großen Saal, der mit etwa 150 Aktivist*innen, Community-Vertreter*innen, Journalist*innen und mindestens einem Dutzend Leibwächter*innen gefüllt war. Immerhin war es eine Art Ritterschlag für meinedamals nahezu 60-jährige Mutter.
Meine Cousine dahingegen war weniger begeistert. Sie schimpfte auf meine Mutter fast so sehr wie auf das beliebte Prinzenpaar selbst. „Die Queen schickt ihre Rockstars auf Achse, anstatt dass sie sich alle endlich mit der Ausbeutung unserer Vorfahren zu befassen! Brot und Spiele! Und währenddessen verhungern Menschen in Afrika, in der Karibik, in Indien, in Asien, im Nahen Osten!“
Daraufhin erwiderte Mama mit einem, mangels eines besseren Wortes, souveränen Schmunzeln: „Das ist doch eine neue Generation da im englischen Königshaus. Der Charles ist kein Prinz Philip.“ Man erinnere sich. Prinz Philip, der schließlich 99 Jahre alt gewordene Herzog von Edinburgh, der in Sachen Diplomatie auf allen Kontinenten außer der Antarktis wiederholt ins Fettnäpfchen trat, galt quasi als Großbritanniens Heinrich Lübke. Für meine Mutter sei es immerhin selbstverständlich gewesen, dass der tierliebe Fuchsjäger Charles gewissermaßen ganz Ohr sein würde, was die Forderungen nach Wandel beträfe. Und mit der unschlagbaren Prinzessin Di an seiner Seite würde es zu einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit kommen. Okay, meine Mutter hatte viele Talente. Hellsehen zählte aber mitnichten dazu.
Aufklärung? Oder Menschenverachtung im modernen Gerüst?
Preußen anno 1820: Ein Schwabe namens Wilhelm Friedrich Hegel veröffentlichte, gerade rechtzeitig zur Leipziger Herbstmesse, sein Buch Grundlinien der Philosophie des Rechts. In dem auch heute gefeierten Werk lobt der Philosoph Hegel den Staat als die optimale Form des menschlichen Zusammenlebens. Demnach verkörpere der Staat sogar die „Verwirklichung der Freiheit“, und Letztere sei idealerweise durch die konstitutionelle Monarchie mit Erbfolge gesichert – wie bereits seit 1689 in Großbritannien. Dabei hob Hegel den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft hervor und erblickte darin den „Boden der Vermittlung“ zwischen dem Individuum und dem Staat. Infolgedessen beschränke sich die Aufgabe des Monarchen darauf, „Ja“ zu sagen und „den Punkt auf das i“ zu setzen. Buchstäblich begrüßenswert, oder?
Aus dem Munde Hegels, der die Französische Revolution eigentlich bejubelt hatte, klang es wie eine aussichtsreiche Kompromisslösung. Ein gezähmter König, ein engagiertes Volk.
Der Königsberger Immanuel Kant, wohl der andere Gigant aus der prä-prechtschen Epoche deutscher Philosophen, gab sich vergleichsweise betont republikanisch. Wiederum lehnte Kant die Basisdemokratie geradezu allergisch ab. Doch damit nicht genug: Kant hat die „Rassenhierarchie“ verteidigt. Im Grunde genommen agierte auch er als Sitten- und Privilegienwächter der herrschenden Kaste. Nächstenliebe mit Ordnung und Othering.
Kants kategorischer Imperativ entpuppt sich vielmehr als eine selbstverliebte Tautologie. Denn der Inhalt des kategorischen Imperativs ergäbe sich, gleichsam als ein „objektives“ moralisches Prinzip, ja aus der Vernunft. Allerdings handeln vernünftige Menschen per definitionem in der Regel vernünftig. Für sie ist der Zwang eines Imperativs also nicht nötig. Ihre „Vorschrift“ ist die Vernunft selbst. Semantische Spitzfindigkeit meinerseits? Jein. Kants Prinzip wohnt auf jedweden Fall ein nicht minder gravierender Denkfehler inne. Dieser fungiert wiederum über die Jahrhunderte hinweg erfolgreich als das Fundament des weißen, christlichen und nicht zuletzt patriarchalischen Gesellschaftsordnung: Mittelmäßigkeit, die sich als moralisch überlegen versteht und ihre Machtposition voller Menschenverachtung ausübt.
Die rassifizierte Ideologie wurde zu einer Weltanschauung. Mit passionierter Penibilität entwickelte und erweiterte man diese Pseudowissenschaft, um die generationenübergreifende Unterwerfung von Menschen wie meinen Vorfahren und mir zu rechtfertigen. Die hochgelobten Humanisten und Fürsprecher der Freiheit sahen tatenlos zu, während Nichtweiße entmenschlicht wurden. Es lebe die Freiheit? Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Immanuel Kant hatten gut reden, wie auch George Washington und Thomas Jefferson, zwei US-Präsidenten, die auf ihren Plantagen zahlreiche Versklavte ackern ließen. Ja, ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung, gleichsam zum Urknall des Universalismus, blühte der Handel mit Versklavten auf.
Der hegelsche Staatsgedanke wirkte sich auch auf den „Liberalismus“ der Ära Otto von Bismarcks aus. Allerdings bildete Deutschlands Reichsverfassung von 1871 bei Lichte besehen keine echte konstitutionelle Monarchie. Denn weder der damalige Kaiser Friedrich Wilhelm I. noch dessen Reichskanzler Bismarck unterlagen einer parlamentarischen Kontrolle. De facto genoss Bismarck vielmehr freie Hand. Unter Bismarck wurde ja das Deutsche Kolonialreich gegründet, und er lud 1884 zur Berliner Kongo-Konferenz ein, auf der die europäischen Großmächte sowie Russland, die USA und das Osmanische Reich die Aufteilung des Schwarzen Kontinents beschlossen. Stichwort: Wettlauf um Afrika. Der Rest ist Geschichte. Aber wo bleibt die Zukunft?
Aufklärung und Aufarbeitung
London, der 6. Mai 2023. Kanonen donnern entlang der Themse, Kirchenglocken läuten aus den Türmen von Westminster Abbey. King Charles III. legt seinen Eid als König ab, seinem Land und seinen Leuten zu dienen. Doch was ist mit seinem anderen Versprechen? Jüngst beteuerte er, Recherchen über den Nexus zwischen dem britischen Königshaus und dem internationalen Handel mit Versklavten wohl „mit Nachdruck und Entschlossenheit“ zu unterstützen. Sind das Worthülsen oder wahre Hoffnungsschimmer? In der Vergangenheit hat sich das Königreich dazu bereit gezeigt, für begangenes Unrecht finanzielle Reparationen zu leisten. Als 1833 die Sklaverei im gesamten britischen Empire per Gesetz abgeschafft wurde, genehmigte beispielsweise das Parlament die Zahlung von 20 Millionen Pfund – nach heutigem Wert etwa 300 Millionen Pfund als Entschädigung. Diese Summe ging freilich nicht etwa an ehemals versklavte Afrikaner*innen, sondern an Sklavenbesitzer.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland muss in puncto Verantwortung noch viel gemacht werden. Ebenfalls in Wort und Tat. Straßenumbennungen finden statt, die als würdigende Wegweiser durch die Afrodeutsche Geschichte führen können. Die vor wenigen Wochen getroffene Entscheidung der Westfälischen Wilhemsuniversität Münster, Kaiser Wilhelm II. aus ihrem Namen zu streichen, sollte auch Schule machen. Denn die Verherrlichung des Kolonialismus ist die Verharmlosung des Hasses.
Es ist zudem höchste Zeit, dass Kant vom Sockel gehoben wird. Hegel auch. Hegel mit Köpfchen. Dabei müssten diesen bedeutenden (Vor)denker weder verbannt noch totgeschwiegen werden. Aber Rassist*innen gehören nicht auf einPodest. Um Rache geht es nicht, sondern um Recht und Respekt. Respekt für die Opfer der jahrhundertelangen Unterdrückung. Rückgaben und Reparationszahlungen an die ausgebeuteten Länder müssen zudem zügiger und umfangreicher erfolgen. Über den Umgang mit Kolonialismus zerbreche man sich angeblich den Kopf, während allerhand afrikanische Schädel auf der Museumsinsel weiterhin herumliegen.