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Höchststand rechter Gewalt „Die Zahlen müssen der Weckruf sein“

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Ein Rechtextremer auf einer Neonazi-Demonstration 2022 in Dresden (Quelle: Kira Ayyadi)

Am 9. Mai 2023 veröffentlichten das Bundesinnenministerium (BMI) und Bundeskriminalamt (BKA) die Zahlen der politisch motivierten Gewalt des Jahres 2022 und verzeichnen mit 58.916 Delikte im Jahr 2022 einen neuen historischen Höchststand politisch motivierten Kriminalität (PMK). Besonders die Delikte im Phänomenbereich rechts erreichen einen neuen Höchststand. Daher fordert Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung: Die Zahlen müssen der Weckruf sein, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus auf die höchste politische Ebene gehört“.

Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts, kommentierte die Zahlen: „In Teilen der Bevölkerung bestehen zudem Radikalisierungstendenzen. Diese Entwicklungen – insbesondere in den Bereichen der politisch motivierten Kriminalität rechts und der Hasskriminalität – sind sehr ernst zu nehmen.“

Rechte Straf- und Gewalttaten

Von jenen Straftaten, die einem politischen Bereich zugeordnet werden konnten, ist der Bereich rechter Straftaten der höchste. 23.493 Straftaten wurden im Bereich „PMK rechts“ gezählt. Die Zahl ist um sieben Prozent gestiegen. Auch bei den Gewalttaten wurde ein Anstieg um rund 12 Prozent auf 1.170 registriert, bei denen 675 Menschen verletzt wurden – so viele wie in keinem anderen politischen Bereich. 

Im vergangenen Jahr wurden 41 Prozent der insgesamt erfassten Opfer von Gewalttaten von rechtsmotivierten Täter*innen verletzt. Zwei (von neun) versuchte Tötungsdelikte fallen zudem in diesen Bereich. Das bestätigt erneut, was für eine große Bedrohung von Rechtsextremisten ausgeht.

Menschenverachtung, die in Gewalt endet, hat heute offiziell wieder einen traurigen Höhepunkt erreicht, so Timo Reinfrank. Überrascht haben ihn die Zahlen allerdings nicht. Die Hemmschwelle zu Bedrohungen und Gewalt ist spürbar gesunken, das wissen und erleben alle, die sich ernsthaft mit diesen Milieus auseinandersetzen.

Von Politik fordert er eine Gesamtstrategie, die alle Ressorts einbezieht und den Rechtsextremismus dort bekämpft, wo er sich zeigt: in allen Teilen der Gesellschaft. Die Politik darf sich nicht in kleinteiligen Einzelmaßnahmen verlieren“.

Gewalt gegen geflohene Menschen und antisemitische Straftaten

Auch die Straftaten gegenüber geflohenen Menschen haben im Jahr 2022 um 12,75 Prozent zugenommen. Insgesamt führt die Statistik hier 1.420 Straftaten auf. Im Jahr 2021 gab es 1.254 solcher politisch motivierten Delikte.

Zwar sind die antisemitischen Straftaten im Jahr 2022 um 12,75 Prozent auf 2.641 Taten (2021: 3.027) zurückgegangen. Doch das ist kein Grund zur Entwarnung: Im vorigen Zählungsraum, im Jahr 2021, gab es mit 3.027 einen Höchststand. Die Gewalttaten sind im Vergleich zum Vorjahr auf 88 gestiegen (2021: 64). Der weit überwiegende Anteil der Taten von etwa 84 Prozent der antisemitischen Taten sind der politisch rechts motivierten Kriminalität zuzurechnen, 2.181 Fälle.

Antiziganistische Gewalttaten und Hasskriminalität

Dem BKA wurden insgesamt 145 sinti- und romafeindliche Straftaten gemeldet, das ist ein Anstieg um 33 Prozent zum Vorjahr (2021:109).

Im Bereich der Hasskriminalität führt die Statistik eine deutliche Zunahme um rund zehn Prozent auf insgesamt 11.520 Straftaten. Drei von vier dieser Straftaten sind dem Bereich PMK rechts zuzuordnen. Die Zahl der Gewalttaten ist noch deutlicher um 33 Prozent auf nun 1.421 gestiegen.

Linke Gewalt deutlich gesunken

Im Bereich PMK links ist die Zahl der Delikte deutlich um rund 31 Prozent auf 6.976 Straftaten gesunken. Bei den Gewalttaten haben die Polizeibehörden einen Rückgang um etwa 30 Prozent auf rund 842 Delikte registriert. 

Die registrierten Zahlen im Bereich PMK religiöse Ideologie sind mit 481 weitgehend konstant (2021: 479). Zahlen der PMK ausländische Ideologie haben jedoch mit 3.886 Straftaten zugenommen, genau wie die Zahl der 372 registrierten Gewalttaten (2021: 140). Grund hierfür sei der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der Konflikt der Türkei mit der PKK und der Menschenrechtsprotest im Iran. Die Fallzahlen im Phänomenbereich PMK religiöse Ideologie entsprachen mit 481 Delikten etwa dem Vorjahresniveau. Die Anzahl der Gewalttaten nahm hier um rund 15 Prozent auf 51 Fälle ab.

Erstmals explizit Frauenfeindlichkeit erfasst

Bis 2022 wurden Angriffe aus Frauenfeindlichkeit, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Queerfeindlichkeit in der Statistik zusammengefasst unter der Kategorie „Geschlecht / Sexuelle Identität“. Erstmals wurde im vergangenen Jahr Straftaten aus frauenfeindlicher Motivation gezählt. 206 Delikte wurden an das BKA übermittelt. Im Bereich der „geschlechtsbezogenen Diversität“ waren es 417 Straftaten. Insgesamt 15 Fälle von „männerfeindlicher Gewalt“ führt das BKA.

Coronaleugner*innen und Reichsbürger*innen

Ein Problem, das sich hier zeigt, sind die viele Straftaten, die unter „PMK nicht zuzuordnen“ fallen, die aber klar aus einer anti-demokratischen Einstellung heraus resultieren. Dieser Bereich macht den größten Anteil der Straftaten aus: 24.080 Delikte, ein Anstieg um 12 Prozent, mit immerhin 1.608 Gewaltdelikten, mit 546 Verletzten und vier versuchten Tötungsdelikten.

Insgesamt 13.988 Straftaten wurden im Zusammenhang mit Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen gezählt. Nahezu alle Delikte, 12.698 (90 Prozent) wurden jedoch in dem Phänomenbereich „PMK nicht zuzuordnen“ registriert.

Reichsbürger und Selbstverwalter: 333 Gewalttaten 

Auch Straftaten aus dem Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter ordnet das BKA im Bereich „PMK nicht zuzuordnen“ ein. Mit 1.865 Taten registrierten Polizeibehörden eine deutliche Zunahme an Straftaten – ein Anstieg um 39,7 Prozent. Erschreckend: Die Zahl der Gewaltdelikte hat sich um 40 Prozent auf 333 Delikte erhöht. Das bedeutet aber auch, dass unter anderem das radikale Netzwerk hinter dem versuchten Prinz-Putsch keinem Bereich zugeordnet wird, obwohl die Ideologie dieser Täter klar als verschwörungsideologisch und rechtsextrem einzuordnen ist. 

Dass der allergrößte Teil der Straftaten unter den Bereich nicht zuzuordnen fällt, bezeichnet Timo Reinfrank als Erfassungsdefizit der Sicherheitsbehörden. Hier würden Straftaten, die sich gegen die Demokratie und gegen Menschenrechte richten, entpolitisiert, so der Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung. Wenn Straftaten nicht genauer eingeordnet werden, können auch keine geeigneten Gegenmaßnahmen erarbeitet werden. Die Gefahren aus den rechten Mischszenen um Coronaleugner, Querdenker und Co. müssen endlich als die Gefahr für die Demokratie benannt werden, die sie sind.

Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

Auch die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt haben am Dienstag ihre Zahlen veröffentlicht. Sie registriert für das Jahr 2022 einen Anstieg rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten in den ostdeutschen Bundesländern, Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. 

Insgesamt registrierten sie 2.093 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe mit 2.871 Betroffenen. Alarmierend: Die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen hat sich im Vergleich zum Vorjahr auf 520 Angegriffene nahezu verdoppelt (2021: 288). Besorgniserregend ist auch der Anstieg von mehr als 15 Prozent bei rechten Gewalttaten (2022: 1.340) – insbesondere Körperverletzungsdelikten – als auch eine Verdreifachung der Nötigungen und Bedrohungen, insbesondere aus rassistischen und antisemitischen Motiven mit 653 Delikten. Damit wurden in mehr als der Hälfte aller Bundesländer im Jahr 2022 täglich mindestens fünf Menschen Opfer rechter Angriffe. Rassismus war auch 2022 – wie schon in den Vorjahren – das häufigste Tatmotiv.

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