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Holocaust-Überlebende „Mein Vermächtnis: Die Demokratie liegt in Euren Händen!“

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Die Holocaustüberlebende Yvonne Koch in Düsseldorf (Quelle: RK)

Seit 15 Jahren, nach über einem halben Jahrhundert Schweigens, tritt die agile Medizinerin, die früher in den USA über Aids geforscht hat, regelmäßig als Zeitzeugin in Schulen auf, soweit sie die Kraft hierzu findet. Insbesondere die Besuche in Bergen-Belsen selbst, bei Gedenkfeiern sowie bei pädagogischen Seminaren, rufen immer wieder und weiterhin Traumatisierungen in ihr wach. Und doch übernimmt sie, unterstützt durch ihren Ehemann, Verantwortung für die Geschichte, deren Opfer sie war.

Verfolgung

Yvonne Koch, 1934 in Žilina in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren, damals hieß sie noch Poláková, erlebt die Verfolgung als Jüdin bereits als Kleinkind. Ihre Eltern taufen sie, um sie vor der Verfolgung zu schützen – vergeblich. Ihr Vater versteht sich als Atheist, sie feiern aber auch die jüdischen Feiertage. 1939 verliert er aus rassistischen Gründen seine Stelle. Dann arbeitet er frei als Arzt, behandelt auch zwei untergetauchte jüdische Flüchtlinge aus Auschwitz, Partisanen. Er wird denunziert, Yvonnes Eltern tauchten unter, gehen in die Berge. Sie geben ihre Tochter in ein Klosterinternat; Abtauchen in die Illegalität zusammen mit einem Kleinkind ist nicht möglich. Dort besucht sie auch eine Schule. Die Deutschen können ihre untergetauchten Eltern nicht aufspüren, dann wird auch Yvonne denunziert: Die Polizei erscheint im Klosterinternat, möchte von der Zehnjährigen wissen, wo sich die Eltern versteckt haben. „Wenn du sagst wo Dein Vater ist kannst Du hier bleiben.“ Yvonne weiß nichts.

Dezember 1944: Ankunft in Bergen-Belsen

Nach einem Tag Untersuchungshaft wird sie am 7.12.1944 mit einem Viehwaggon in das in der südlichen Lüneburger Heide gelegene Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert. Dort lebt sie, auf sich allein gestellt, in einer Baracke mit etwa 60 älteren slowakischen Frauen. „Ja, ich habe dort auch viele Kinder getroffen, aber die hatten alle Eltern“, erzählt sie den Schüler*innen auf Nachfrage.

Sie erinnert sich bis heute des fürchterlichen Gestanks, des allgegenwärtigen Hungers. „Im Lager haben mir Mithäftlinge sogar mein Brot gestohlen.“ Solidarität unter den Gefangenen habe sie als Kind nie erlebt.

Yvonne erlebt bei der Ankunft die Selektion zwischen den gesunden und den kranken Häftlingen. Sie wird in die Frauenbaracke geschickt.

Am Fürchterlichsten war der morgendliche Zählappell um 5:30 Uhr. Zwei, drei Stunden lang müssen sie regungslos stehen bleiben, bedroht durch NS-Wärter und Schäferhunde. Wer sich bewegt, wird von den Hunden angegriffen und danach von den Deutschen erschossen. Die Todesangst ist allgegenwärtig und doch vermag sie sich heute nicht an die Ängste zu erinnern. „Ich wusste überhaupt nicht, was los war“, antwortet sie auf eine Schülerfrage. Einmal gibt ein Aufseher einem Schäferhund den Befehl „Fass“. Der Hund reagiert nicht. Allein auf sich gestellt, inmitten der terroristischen Realität, hat die Zehnjährige niemanden, der mit ihr spricht.

Das Lager ist voller Toter. Verzweifelt sucht sie inmitten zahlreicher Leichen nach einer Frau mit schwarzen Haaren: Sie sucht ihre Mutter, die sie vermisst. „Diese Szene ist mir bis heute so präsent, als wenn das jetzt passiert.“ Die Atmosphäre im Sitzungssaal des Landtages ist auch nach über 60 Minuten weiterhin konzentriert. „Ich wäre sogar glücklich gewesen, wenn ich meine tote Mutter gefunden hätte“, berichtet Yvonne Koch. Sie will ihrer Mutter in Bergen-Belsen nur nahe sein. Die 86-Jährige vermag die Schüler*innen zu erreichen, ihr durchlebter Schrecken ist präsent. „Gegen den schrecklichen Hunger“ – ihr blieb nur die tägliche Rübensuppe – „habe ich Kartoffelschalen aus dem Abfall gestohlen und diese in der Tasche meines blauen Mantels versteckt, den hatte ich noch von meinen Eltern.“ In ihrer Baracke wärmt sie diese auf dem Ofen, bleibt so einige Monate am Leben. „Nein, ich hatte keine Angst, ich habe immer nur gebetet“, berichtet sie auf Nachfrage. Sie ist, inmitten der Hunderten von Leichen, die sie täglich im Lager sieht, auf sich allein gestellt. „Ich wusste überhaupt nicht was los war!“, versucht sie den Schüler*innen ihre grausame Lebenswirklichkeit als Zehnjährige zu vermitteln. Und sie hat niemanden, der mit ihr spricht.

Die geschenkten Handschuhe

Yvonne Koch erinnert sich einer Szene, die sie bis heute lebendig vor Augen hat: Eine Mitgefangene, vermutlich Ende 20, schenkt ihr ein paar selbst gestrickte Handschuhe, vermutlich aus dem Stoff einer Pferdedecke. Diese helfen ihr, inmitten des brutalen Winters die schlimmsten Momente durchzustehen. Das Geschenk ist für sie das Schlüsselsymbol dafür, dass es doch Menschlichkeit im Lager gibt. Ihre Retterin hat sie danach nie wieder gesehen, obwohl sie nach ihr Ausschau hält. „Vielleicht ist sie auch ermordet worden, weil sie mir geholfen hat.“ Die Ungewissheit, die phantasierte Schuld, ist ihr geblieben.

Einmal erlebt sie, wie sie und viele weitere Häftlinge in eine Duschanlage gebracht werden. „Oh, es sind Brausen, es kommt Wasser, wir werden nicht vergast!“, rufen einige Häftlinge. Wenige Jahre später, als Erwachsene, hört sie von den systematischen Vergasungen der Deutschen, vermag die verzweifelten, ihr unverständlichen Rufe einzuordnen. Viele jüdische Häftlinge in Bergen-Belsen haben vom deutschen Vernichtungswerk durch Gasanlagen gehört. „Nur die Stärksten haben überlebt, es war wie im Urwald“, erzählt sie unaufgeregt, mit ruhiger Stimme.

Die Befreiung Bergen-Belsens

Die Befreiung Bergen-Belsens am 15.4.1945 erlebt sie nicht. Sie liegt im Koma, dem Tode näher als dem Leben. Allein von Januar bis April 1945, so sei nachgetragen, gab es in Bergen-Belsen 35.000 Tote. Weitere 13.000 Häftlinge starben bis Juni 1945 an den Folgen der Haft. 250 Wachleute flohen, 30 Aufseherinnen und 50 aus der Verwaltung wurden gefasst.

Bergen-Belsen ist das einzige Konzentrationslager, das von Engländern befreit wurde – bzw. die Deutschen übergaben es am 15.4.1945 kampflos an die Engländer. In der britischen Holocaust-Wahrnehmung lag der Name Bergen-Belsen anfangs noch vor Auschwitz.

Der englische Kriegsreporter Richard Dimbleby brachte den ersten Beitrag über Bergen-Belsen nach dessen Befreiung. Diesen wollte die BBC anfangs nicht bringen, so schockierend waren die Bilder der ausgemergelten Menschen in zerlumpter Häftlingskleidung, die Tondokumente und Beschreibungen, sie erschienen als unglaubwürdig. Erst als Dimbleby seine Kündigung androhte, brachte die BBC den Beitrag. In England wurde er zu einem der berühmtesten in der Rundfunkgeschichte. Er endet mit Dimblebys Ausruf: „Dieser Tag in Belsen war der schrecklichste in meinem Leben.“

Der sogenannte Belsen-Prozess endet mit elf Todesurteilen. Im Dezember 1945 wurden unter anderem Lagerkommandant Josef Kramer – der in der britischen Öffentlichkeit als „Beast of Belsen“ galt – und die berüchtigte Lageraufseherin Irma Grese in Hameln gehenkt.

Das Spital

Ein englischer Soldat bringt die totkranke elfjährige Yvonne trotz des allgegenwärtigen Typhus, der auch ihn selbst bedroht, in ein Spital. Als sie erwacht liegen neben ihr ihre – desinfizierten – Handschuhe. Ansonsten hat sie nichts. Das Krankenhauspersonal legt ihr die Handschuhe in die Hände. Der Soldat hatte die symbolische Bedeutung der Handschuhe, ihres einzigen Schutzes und Besitzes, verstanden. Sechs Wochen lang wird sie gepflegt. Dann geht sie nach Prag, trifft am 29.6.1945 ihre Eltern wieder. Sie vermag sie noch nicht einmal zu umarmen: „Nein, ich hatte kein Gefühl der Freude. Alle Gefühle waren gestorben. Ich habe nur noch primitiv reagiert. Ich war wie ein Tier. Ich fragte meine Mutter nur nach einem Stück Brot“, erzählt sie den etwa sechzehnjährigen Schülern.

Nach der Befreiung fühlt die schwer Geschädigte sich anfangs gegenüber den Mitschülern minderwertig: Sie muss wieder zu Kräften kommen, vieles nachholen, vermag sich nur schwer zu konzentrieren. Die Beschämung bleibt und hält sie vom Erinnern und Sprechen ab.

Der Sport gibt ihr das Gefühl einer inneren Stärke wieder. Beim Schwimmen fühlt sie sich lebendig, wird sogar tschechische Schwimmmeisterin. Fotos hiervon finden sich in einem Band, zu dem sie Jahrzehnte später einen Beitrag beigesteuert hat (s.u.).

Das lange Schweigen

Bis sie Anfang 70 war sprach Yvonne Koch nie über ihren Überlebenskampf in Bergen-Belsen, auch nicht mit ihren Eltern, die vergleichbar Schlimmes durchgemacht hatten. „Das war damals die medizinische Überzeugung, dass Verdrängen hilft“, bemerkte die ausgebildete Medizinerin. „Ich möchte meinen Eltern keine Vorwürfe machen. Sie waren davon überzeugt, dass Verdrängen dabei hilft, ein neues Leben aufzubauen“, erzählte sie den 200 Jugendlichen im Sitzungssaal des Landtages.

Sie heiratet einen Mitstudenten, der gleichfalls Medizin studiert, er kommt aus Deutschland. „Ich habe einen Menschen geliebt. Ob er Deutscher war oder nicht spielte dabei keine Rolle“, betont sie, als eine Schülerin nachfragt. Es folgt ein Studienschwerpunkt Mikrobiologie, eine Promotion und eine lange Tätigkeit als Medizinerin, gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem medizinischen Hochschullehrer. „Ich möchte meinem Mann danken, der mich bis heute bei meinen Erinnerungsvorträgen begleitet“, sagt sie. Dieser sitzt auf der Zuschauerbank, neben Landtagspräsident André Kuper.

Später, nach einem Forschungsaufenthalt als Medizinerin in den USA, sie forschte u.a. über Aids, zieht sie mit ihrem Ehemann nach Düsseldorf, wo sie heute noch lebt. Den Schrecken hatte sie zu verdrängen vermocht, und doch brach dieser immer mal wieder jäh in ihr durch, etwa bei einem Besuch einer Ausstellung zu abstrakter Kunst in den USA: Sie sah auf der Leinwand nur Leichen, musste die Ausstellung voller Schrecken verlassen.

Ein erster Besuch in Bergen-Belsen

Mit knapp 70 schreibt sie, von der Berufstätigkeit entlastet, nur für sich selbst kleine Erinnerungen über Bergen-Belsen auf. Ihr Mann, der die Texte im gemeinsamen Computer durch Zufall entdeckt, ermutigt sie, mit der Erinnerung zu beginnen. Sie besuchen gemeinsam Bergen-Belsen, die Ängste vermag sie nur schwer zu ertragen. Dort, eine Gedenkstätte befindet sich erst im Aufbau, zeigt sie auch ihre Handschuhe, die sie lange bei sich versteckt hatte: „Der Mitarbeiter hat genervt, er hat später immer wieder angerufen. Dann war ich bereit zu erzählen“, berichtet sie. Aber das dauerte. Anfangs wollte sie nicht, dass irgendjemand von ihrer Kindheit in Bergen-Belsen erfährt.

Ein erinnernder, halb-wissenschaftlicher Beitrag von ihr erscheint in den Dachauer Heften. „Was Anne Frank nicht mehr sagen konnte“, hat sie ihn überschrieben. Anne Frank verstarb Ende Februar oder Anfang März 1945, wenige Wochen vor der Befreiung, in Bergen-Belsen. „Vielleicht habe ich sie einmal gesehen. Ich weiß es nicht. Es gab viele Kinder im Lager.“ Insgesamt gab es, so schätzen Historiker, etwa 3000 Kinder in Bergen-Belsen, die meisten waren Juden. Etwa 100 Kinder wurden in Bergen-Belsen geboren; die beiden Jüngsten waren am Tag der Befreiung einen Tag alt.

Sie wolle heute das über Bergen-Belsen erzählen, was Anne Frank nicht mehr zu erzählen vermocht habe. Das empfinde sie als ihre Verpflichtung. Darum spreche sie auch mit 86 Jahren immer noch über die verbrecherische Vergangenheit. Anfang April, anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Bergen-Belsen, werde sie dort noch einmal einen Workshop mit einer israelischen Mutter halten.

Ihr Aufsatz wurde in der Süddeutschen Zeitung besprochen. Auch hierdurch wuchs sie langsam in die Rolle als Zeitzeugin hinein.

Bergen-Belsen ist für sie heute ein einziger riesiger Friedhof. „Da liegen so viele, und ich lebe noch“ hat sie einmal gesagt. Auch heute, bei Ausflügen, nehme sie zur Sicherheit immer etwas zu Essen mit, so tief habe sich das Gefühl des Hungers in sie eingegraben.

2012 gibt die Gedenkstätte Bergen-Belsen ein Büchlein heraus, in dem Yvonne Koch auch die Geschichte mit den Handschuhen erzählt. Das Titelbild ziert ein Foto der Handschuhe; diese befinden sich heute, seit 2007, in einer Glasvitrine der Gedenkstätte.

„Ich habe das Buch dann meinen Abifreunden geschickt. ‚Wir wussten ja gar nichts über Dich‘, haben sie mir danach geschrieben.“

Auch nach über einer Stunde reagiert die vitale Zeitzeugin mit großer Aufmerksamkeit auf Schülerfragen. „Mein Vermächtnis ist, dass so etwas nie wieder passieren darf. Das liegt in Euren Händen!“ Sie warnt vor dem Rechtsradikalismus der AfD. „Die Demokratie liegt in Euren Händen!“ ruft die 86-Jährige voller Leidenschaft den Jugendlichen zu. „Es ist egal, ob Ihr ein Christ, ein Jude oder ein Moslem seid.“ Wichtig sei es, etwas über die Vergangenheit zu wissen: „Wer in der Demokratie schläft wacht in der Diktatur auf!“A

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Literatur:

Ein Paar Handschuhe. Die Lebensgeschichte von Yvonne Koch. Mit Beiträgen von Yvonne Koch, Diana Gring, Thomas Rahe. 60 Seiten, ISBN 978-39813-6040-0, 6 Euro. Bestellung: https://bergen-belsen.stiftung-ng.de/en/shop/publikationen-der-gedenkstaette-bergen-belsen/detailansicht/?tx_simpleshop_shop%5Bitem%5D=46&tx_simpleshop_shop%5Baction%5D=show&tx_simpleshop_shop%5Bcontroller%5D=Items

Tom Segev (1995): Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg.

Eberhard Kolb: Bergen-Belsen. Geschichte des „Aufenthaltslagers“ 1943–1945. Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover 1962 (Nachdruck Lit Verlag, Berlin 2011).

Dieser Text ist zuerst bei haGalil erschienen. 

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