Der lebensweltorientierte Ansatz, Jugendliche an den Orten aufzusuchen und abzuholen und dort mit ihnen zu arbeiten, wo sie sich freiwillig und gern aufhalten, ist für eine präventive Arbeit unverzichtbar. Das Konzept der Digital Streetwork sieht vor, rechtsaffines Auftreten von Jugendlichen auf Facebook, das sich durch Kommentare und/oder das Teilen eines Posts mit menschenfeindlichem Inhalt zeigt, aufzusuchen. Über personal messages (PM) werden diese Jugendlichen direkt und in der digitalen Umgebung in einer »One-to-One«-Interaktion angesprochen. Darüber hinaus sind die Mitarbeiter*innen auf unterschiedlichen öffentlichen Seiten aktiv und begegnen abwertenden Kommentaren mit (Gegen-) Argumentationen »One-to-Many«. Jugendlichen, die sich bereits zu menschenfeindlichen Kommentaren äußern und diese nicht unwidersprochen stehen lassen, werden empowert.
Pädagogische Counter Speech
Counter Speech ist ein Ansatz der Gegenrede zu antidemokratischen und menschenverachtenden Inhalten im Netz – sie wird angewandt, um vor allem stille Mitleser*innen zu aktivieren und hasserfüllt Inhalte nicht als solche im öffentlichen Raum stehenzulassen.
Als Mittel der pädagogischen Interaktion, um Hate Speech zu begegnen, bieten sich zwei Formen der Counter Speech an, die Intervention und das »Debunking« (dt. Entlarven).
InterventionBeispiel: EXIT – pädagogische Intervention, langfristige Arbeit One-to-OneDebunkingBeispiele: ProAsyl, hoaxmap, Mediendienst Integration, PsiramFür die Intervention wird eine »One-to-One«-Interaktion angewandt, deren pädagogischer Gehalt im persönlichen Gesprächsansatz liegt: eine konfrontative Verunsicherung auf der Basis von Aufgeschlossenheit. Beim Debunking wird die »One-to-Many«-Interaktion genutzt, die pädagogisch gesehen mithilfe von Aufklärung und Themensensibilisierung wirken kann.
Die Entwicklung der »One-to-Many«-Interaktion lehnt sich an die Gegebenheiten der »Halböffentlichkeit« der Sozialen Online-Netzwerke an. Denn sobald Jugendliche sich auf einen öffentlichen Austausch einlassen oder auf einen Kommentar öffentlich reagieren, werden Freund*innen der Jugendlichen darüber informiert. Je länger Communitys wie z.B. Facebook, Instagram oder YouTube bei den Jugendlichen populär sind, desto größer wird auch der Kreis der so genannten Freund*innen, mit denen sie online Informationen teilen.
Nur etwa jede*r zehnte Jugendliche nimmt Einschränkungen innerhalb des Freund*innenkreises vor. Wird die Einstellung »Freunde von Freunden« für die Sichtbarkeit von Statusmeldungen, Fotos, Markierungen etc. gewählt, erhöht sich der Adressat*innenkreis schnell auf eine fünfstellige Zahl. In ihren Sozialen Online-Netzwerken bewegen sich Jugendliche also in einer Halböffentlichkeit, in der schnell der Eindruck entsteht, durch die Auswahl der Freund*innen bestimmen zu können, wen sie an ihrem Leben teilhaben lassen; real aber können sie häufig – im Sinne der informationellen Selbstbestimmung – gar nicht mehr wissen, wer was über sie weiß oder gesehen hat. Dies, kombiniert mit einem Algorithmus der Plattformen, der Inhalte nach bestimmten, nicht transparent kommunizierten Kriterien filtert und verstärkt, bildet die sogenannten »Echokammern«. Diese Räume, in denen gegenteilige bzw. differenzierte Sichtweisen kaum noch auftauchen, können einen Effekt auf die Selbstwahrnehmung und Meinungsbildung haben. Ebenso bleibt auch der Teil der Informationsaufbereitung durch die Plattformen-Algorithmen bestimmt, so dass z.B. bewusst desinformative Nachrichten aus rechts-alternativen Blogs neben klassischen Informationsaufbereitungen wie einem Onlineartikel aus der Tagespresse in vermeintlich gleicher Aufbereitung in den Pressevorschau-Schnipseln erscheinen.
Während sich 2010 durchschnittlich etwa 160 Freund*innen im Community-Profil von Jugendlichen fanden, hat sich die Zahl innerhalb von drei Jahren fast verdoppelt, und zwar auf 290 Freund*innen – die 16- bis 17-Jährigen versammeln sogar durchschnittlich 380 Freund*innen in ihrer Facebook-Freundesliste. Dabei sind über die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 24 Jahren online mit Leuten vernetzt, die sie noch nie persönlich getroffen haben. Die Mehrheit der Jugendlichen teilt ihre Profilinformationen auch genau mit dieser Gruppe der Freunde. Im Oktober 2013 änderte Facebook seine Standardeinstellung der Sichtbarkeit von Inhalten für neu angemeldete Nutzer*innen zwischen 13 und 17 Jahren zwar auf »nur Freunde«, bereits bestehende Profile bleiben davon aber unberührt. Gleichzeitig ermöglicht es das Netzwerk Jugendlichen, auch öffentlich zu posten, was bisher bis zum 18. Geburtstag nicht möglich war.
Zwischen Facebook-Freundschaft und Professionalität
Laut aktuellen Studien verwenden Sozialarbeiter*innen und Pädagog*innen das persönliche Facebook-Profil, um damit auf Facebook aktiv zu sein. Allerdings ist diese Form des halb privaten, halb professionellen Auftritts von zwei Seiten zu betrachten. Einerseits gibt es Sozialarbeiter*innen, die mit dem privaten Profil arbeiten, weil dies sich so ergeben hat. Andererseits ist es für eine professionelle Kinder- und Jugendarbeit notwendig, die Grenze zwischen privatem und professionellem Handeln deutlich zu machen. Dafür gilt es ein »Arbeitsprofil« zu entwickeln, in dem gekennzeichnet ist, um welche Einrichtung es sich handelt und wer dort angestellt ist (siehe hierfür das Kapitel: Projekt-Profile). Daran festgemacht wird die Beziehungsebene zwischen Sozialarbeiter*innen und Adressat*innen.
Ein gewandelter »Freundschaftsbegriff«, wie er in den Sozialen Online-Netzwerken verwendet wird, umfasst alle sozialen Beziehungen und führt so zu einer Verwischung der Grenzen der Beziehungsebenen. Dies ist insbesondere mit Blick auf die Beziehungen mit asymmetrischen Verhältnissen – wie sie zwischen Sozialarbeiter*in und Adressat*in bestehen – zu beachten. Denn das vermeintliche Gleichgewicht, welches sich aus einer solchen Beziehung ergibt, kann problematisch werden und erfordert eine Reflexion des eigenen professionellen Umgangs.
Neben der Reflexion der eigenen Professionalität gilt es auch die Grenzen der Kinder und Jugendlichen zu wahren. So muss bei der Methode »One-to-Many« ein »Nicht-Reagieren« der Adressat*innen unbedingt als Rückzug verstanden und respektiert werden. Mehrfaches »Nachbohren« oder öffentliches Bloßstellen sollte selbstverständlich unterlassen werden.
Bei der Methode »One-to-One« gehen die Sozialarbeiter*innen mit den Adressat*innen über personal message (PM) in den Austausch unter vier Augen. Hier ist die Gefahr gegeben, dass sich aus den einzelnen Gesprächen eine Handlungsnotwendigkeit ableitet und ein intensives Beratungsgespräch vorgenommen werden müsste. In diesem Fall müssen die Grenzen beider Parteien gewahrt werden. Die Sozialarbeiter*innen müssen in einer solchen Situation die Adressat*innen an entsprechendes Fachpersonal weiter vermitteln.
Um sich als Sozialarbeiter*innen, oder Pädagog*innen für die Arbeit in Sozialen Online-Netzwerken gut zu wappnen, sollte eine Möglichkeit zur Supervision unbedingt mit geplant werden. Denn die Arbeit auf den einzelnen Facebook-Seiten oder in den Kommentarspalten bietet ein extrem hohes Angebot an Hass und menschenverachtenden Inhalten.
Was treibt Dich um? Lass uns reden!
Die Projekt-Profile
Mit Hilfe eines Projekt-Profils wird Kontakt zu Jugendlichen hergestellt. Den Erfahrungen der Mitarbeiter*innen nach haben sich Profile bewährt, die die ansprechenden Personen repräsentieren. Der Aufbau eines authentischen Profils basiert auf detaillierten Kenntnissen über jugendliches Kommunikationsverhalten im Internet und erfordert die Adaption sowohl von verschiedenen Jugendkulturen als auch (und vor allem) der aktuellen Netz-Kultur. Das Profil ist als pädagogische Mitarbeiterin der Institution gekennzeichnet und enthält persönliche, jedoch keine privaten, Informationen. Dies dient vor allem dem Selbstschutz der Mitarbeiter*innen. Es wird transparent und mit authentischen Angaben gearbeitet.
Es ist klar gekennzeichnet, dass „Antonia“ Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung ist, Erziehungswissenschaften studiert hat und in Berlin wohnt. Dies sind reale Angaben der Mitarbeiterin. Unter der Rubrik »Info« werden noch weitere Angaben sichtbar, wie z.B. das Geburtsjahr (in diesem Fall 1984) und die nähere Beschreibung der Position (pädagogische Referentin). Es ist also klar, dass hier keine Jugendliche, sondern eine 32-jährige Pädagogin agiert.
Das eigene Nutzer*innen-Profil im Sozialen Online-Netzwerk ist das für Adressat*innen nach außen sichtbare und spielt neben dem Wortlaut eine große Rolle dabei, ob nach einer Erstansprache eine Antwort erfolgt oder nicht. Wenn die Kommunikation nicht mit einem vollständig anonymen Arbeitsprofil stattfindet, sondern ein persönlicher Anknüpfungspunkt gegeben ist, kann eine Beziehung zu der/dem Angesprochenen besser aufgebaut werden.
Die Anspracheorte innerhalb von Facebook
Die Auswahl der Anspracheorte bei Facebook steht in direktem Zusammenhang mit der intendierten Adressat*innengruppe. Da die zentrale Adressat*innengruppe des Projekts rechtsaffine junge Menschen der zweiten Präventionsstufe sind, wurde der Fokus der Ansprachen zunächst auf rechtspopulistische Seiten, wie zum Beispiel die von »Pegida« oder von lokalen Initiativen gegen Sammelunterkünfte für geflüchteten Personen, sogenannte »Nein zum Heim-Gruppen«, gelegt. Im Zuge der Arbeit wurde jedoch deutlich, dass zumindest die aktiven Diskutant*innen schon über ein zu geschlossenes Weltbild verfügten und somit von der Adressat*innengruppe des Projekts ausgeschlossen werden mussten.
Möglicherweise gibt es in diesen virtuellen Orten eine schweigende Mitleser*innenschaft, die für die Arbeit als Adressat*innen durchaus relevant wäre – diese Gruppe stellt die größte Herausforderung an die Präventionsarbeit da, da sie selten kommuniziert und fast nur passiv Inhalte konsumiert. Da die Mitarbeiter*innen in der Testphase der digitalen Streetwork ausschließlich als Reaktion auf öffentliche Kommentare von User*innen aktiv wurden und sich die gesellschaftliche Debatte im Netz verstärkt polarisierte, wurden diese Orte ausgeschlossen, als sich vermehrt dort Menschen mit geschlossenen Weltbildern äußerten und eine Intervention oder Gegenrede kaum mehr umzusetzen war.
Die Anspracheorte waren in der Testphase der Ansprache nachfolgend hauptsächlich Facebook-Seiten von (niedrigschwelligen) Zeitungen. Dort wurden und werden einzelne Artikel gelesen und die Kommentarspalte darunter nach Kommentaren durchsucht.
Jede einzelne Facebook-Seite (z.B. einer Zeitschrift oder Tageszeitung) hat ein spezifisches Publikum und eine bestimmte Community, die sich anhand von Kategorien wie Alter, Interessen, politische Orientierung, Bildungssozialisation, Geschlecht undsexuelle Orientierung auf den einzelnen Seiten zusammenfindet. Auf diesen Seiten findet ein Austausch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, z.B. durch das Teilen von Inhalten, statt.
Die Auswahl der anzuschreibenden PersonDie Onlineansprachen der digitalen Streetwork richten sich gezielt an eine ausgewählte Person, die anhand ihres Beitrags in der Kommentarspalte aufgefallen ist. Die wissenschaftliche Auswertung ergab, dass es zu empfehlen ist, vor jeder Ansprache die Profile anhand der Kategorien »Musik«, »Gruppen«, »Gefällt mir«-Angaben und »Abonniert« in Augenschein zu nehmen, da eine rechte Affinität daran bereits eindeutig erkennbar sein kann. Das weitere Vorgehen kann darauf abgestimmt werden.
Mittels einer eigens entwickelten Grafik (siehe Titel) wurde entschieden, ob eine Ansprache stattfindet und ob die Person als Adressat*in des Projektes gilt. Der Inhalt der Aussage und die Inhalte des Facebook-Profils der Person werden entsprechend der Grafik eingeordnet und die Adressat*in per personal message (PM) angeschrieben.
Die Grafik macht deutlich, in welchen Bereichen Jugendliche sich auf welche Art äußern und handeln und in welchen Grad rechtsextremer Affinität dies einzuordnen ist. Es wird außerdem sichtbar, mit welcher Art von pädagogischer Arbeit ihnen in denunterschiedlichen Prozessen begegnet werden kann und welcher Präventionsstufe dies zuzuordnen ist. Die Abbildung zeigt zudem, wo sich debate// mit dem Ansatz der »One-to-One«-Interaktion verortet, an und bis zu welchem Punkt die präventive Arbeit des Projektes stattfindet.
Mehr zum Thema Gesprächsstrategien und Ansätze finden Sie in der Broschüre!
Die Broschüre
Christina Dinar, Cornelia Heyken:„Digital Streetwork – Pädagogische Interventionen im Web 2.0“
Hrsg.: Amadeu Antonio StiftungBerlin 2018
PDF zum Download:
http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/pressemitteilungen/digital-street-internet.pdf
BEREITS AUF BELLTOWER.NEWS ERSCHIENEN
Neue Broschüre: „Digital Streetwork“ (Einleitung)Digital Streetwork: Jugendliche Selbstverständlichkeiten – Leben im und mit dem Netz Connect with me! Jugend(sozial)arbeit off- und online