Es war ein Coup: Rund zehn junge Männer tauchen am Samstag, den 27.08.2016, auf dem Brandenburger Tor auf. Sie schwenken gelb-schwarze Fahnen, zünden Bengalos und hängen ein großes Banner auf, das fast über die gesamte Breite des Berliner Wahrzeichens reicht. Darauf der Spruch: „Sichere Grenzen – Sichere Zukunft“. Die Männer, die das geschichtsträchtige Bauwerk besetzen, gehören zu der „Identitären Bewegung“, dem jugendkulturellen Arm der Neuen Rechten. Einer von ihnen schimpft durch ein Megafon auf die Politik und auf all diejenigen, die seiner Meinung nach die Realität nicht erkennen. Er spricht auch von Grenzen, von Sicherheit und Identität. Die Bilder der Besetzung machen Eindruck – und genau das sollen sie auch: Mit der Aktion versucht die Gruppe entschiedener als bisher, in den öffentlichen Raum zu drängen.
Die Besetzung des Brandenburger Tors wird nach knapp einer Stunde beendet. Die alarmierte Polizei klettert schließlich selbst auf das Brandenburger Tor, holt die „Identitären“ herunter und nimmt ihre Personalien auf. Nach eigenen Angaben der „Identitären“ werden sie anschließend für sechs Stunden in Gewahrsam genommen. Gegen sie wird nun wegen Hausfriedensbruch, Nötigung und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz ermittelt. Warum und wie genau sie überhaupt trotz Sicherheitsbewachung auf das Brandenburger Tor gelangen konnten, ist bisher noch nicht geklärt.
Wie auch bei vorangegangenen Aktionen feiern sich die „Identitären“ hinterher in Sozialen Netzwerken – und sparen nicht am Pathos: Einen Tag nach der Aktion schreiben sie bei Facebook: “ Die gestrige Besetzung in Berlin auf dem symbolträchtigen Brandenburger Tor war ein großer Meilenstein im Kampf um die Reconquista in Europa.“ Ein paar Plakate als ein Meilenstein? Im Kampf um was?
Die Welt der „Identitären“ hat ihre eigene Realität – was Selbst- und Fremdbilder angeht. „Reconquista“ bezieht sich auf die christliche Rückeroberung der iberischen Halbinsel von arabischen Eroberern – im Mittelalter. Auch heute sieht die „Identitäre Bewegung“ sich, „ihr“ Land und gar Europa bedroht: Deshalb sollen sich Europäer_innen gegen die angeblich „einfallenden“ Muslim_innen wehren. Tun sie aber nicht, deshalb halten die „Identitären“ PR für ihren Rassismus für notwendig. Zur Aktion auf dem Brandenburger Tor gibt es natürlich ein Video. Hier fordern die „Identitären“ die „Remigration“ von Geflüchteten und Migrant_innen – „Ausländer raus“ klingt so sanfter und akademischer. Die Ideologie dazu heißt Ethnopluralismus: Nach Vorstellung der „Identitären“ haben „alle Völker ein eigenes Territorium“, eine „Vermischung der Völker“ wird strikt abgelehnt. Sie fordern deshalb eine „Festung Europa, die ihre Grenzen klar verteidigt“.
„Sommer des Widerstands“
In Deutschland gründen die „Identitären“ 2012 zunächst vor allem Facebookgruppen, die kaum Wirkung außerhalb des Internets entfalten. Sie werden unterstützt von neurechten Zeitungsprojekten und Think Tanks, nutzen moderne Bildsprache, rebellische Wortwahl und bedrohliches Pathos. Trotzdem ist die Außenwirkung gering.
Erst 2015 ändert sich die Strategie in Deutschland, die“ Identitären“ versuchen jetzt regelmäßig Schlagzeilen mit Aktionen auf der Straße zu machen. Auch in Berlin sind die schätzungsweise 15 bis 20 „Identitären“ im vergangenen Jahr deutlich präsenter geworden.
Anfang März 2016 kommen rund 120 Unterstützer_innen zu einem „Deutschlandtreffen“ zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Man habe beschlossen, die Organisation in verschiedene Ressorts zu strukturieren, heißt es nach dem Treffen auf dem Blog des neurechten Magazins „Blaue Narzisse“. So könne „die gesamte strategische Planung von den technischen Voraussetzungen über die Finanzplanung bis zum Aktivismus auf der Straße“ gestaltet werden, so der offenbar angetane Autor. Martin Sellner, der führende Kopf der Identitären Bewegung in Wien, ruft bei dem Treffen außerdem dazu auf, „aktiv Gesicht zu zeigen“ und „Ängste in Bezug auf soziale Reputation und Karriere zu überwinden“.
Für 2016 kündigt die „Identitäre Bewegung“ schließlich einen „Sommer des Widerstands“ an.
Das Aktionsmuster: Kurzes, überraschendes Auftreten mit professioneller Nachbereitung
In der Folge kommt es zu „Flashmobs“ an den Hauptbahnhöfen der Metropolen Hamburg, Frankfurt und München im Juli 2016: Zunächst stehen die „Identitären“ am Bahngleis, sie präsentieren „Refugees Welcome“-Plakate. Passant_innen, die die Inszenierung zunächst für echt halten, bleiben stehen und zeigen ihren Zuspruch. Plötzlich ersetzen die „Identitären“ die Banner, werben für „die Festung Europa“ und zeigen Slogans wie „No Way –You will not make Europe your Home“ (eine Anspielung auf die abschottende Asylpolitik und die „No Boat“-Kampagne der australischen Regierung). Das Spektakel dauert nur wenige Minuten. In einem anschließend veröffentlichten Kommentar heißt es über die irritierten Passant_innen: „Die überraschende Wende und das offene Skandieren der Protesthaltung gegen diese Politik weckten die Reisenden aus ihren multikulturellen Tagträumen.“ Positiver Nebeneffekt für die Aktivist_innen: Wer schnell wieder weg ist, wird auch nicht zur Rechenschaft über sein Tun gezogen. Dass die Aktionen für die Passant_innen größtenteils unverständlich sind, ist den Neurechten egal: Ihr Publikum wartet im Internet.
Ein weiteres Beispiel, ebenfalls im Juli: Als Reaktion auf den Terroranschlag in Nizza färben „Identitäre“ das Wasser von Brunnen in mehreren Stadtzentren rot. Öffentlichkeit bekommt die „Identitäre Bewegung“ erst nachträglich, vor allem durch die Verbreitung der Bilder in sozialen Netzwerken. Rote Brunnen? In der Welt der Identitären macht das Sinn: „Damit wird verdeutlicht, zu was eine unkontrollierte Masseneinwanderung aus überwiegend islamisch geprägten Ländern führen wird. Wir riskieren unseren inneren Frieden und importieren Gewalt und Terrorismus“, hetzt beispielsweise die Leipziger Gruppe nach der Aktion bei Facebook.
Es fällt auf, dass die Aktionen einem immer gleichen Muster folgen: „Eine überschaubare Zahl von Identitären taucht überraschend auf und verschwindet in der Regel ebenso schnell wieder. Sie wählen dafür symbolisch aufgeladene Orte, an denen kein nennenswerter Widerstand zu erwarten ist. Ihre Aktionen bedienen eine popkulturelle Ästhetik und werden mit professionellen Videobeiträgen in den sozialen Netzwerken auf- und nachbereitet“, heißt es in einer Analyse der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR).
Aktion auf Brandenburger Tor hat neue Dimension
Die Aktion auf dem Brandenburger Tor folgt dem altbekannten Muster nur in Teilen, hier lässt sich ein neues Selbstbewusstsein, eine neue Dimension der Präsenz im öffentlichen Raum beobachten. Anders als bisher konnten und wollten die „Identitären“ diesmal nicht einfach nach ein paar Minuten wieder verschwinden. Auch eine Anzeige war vorhersehbar. Dazu heißt es auf der Facebookseite der „Identitären Bewegung“: Auf dem Brandenburger Tor seien „junge Aktivisten“ gewesen, „die bewusst ein hohes Risiko in Kauf nehmen.“ Im Internet werden sie dafür als rebellische Helden der Bewegung gefeiert. Auf dem Blog „Politically Incorrect“ heißt es in einem Kommentar zu einem Bild der Aktion: „Dieses Foto wird in nicht allzu ferner Zukunft Eingang in die Geschichtsbücher unserer Schulen finden als Symbol für eine aufrechte der eigenen Kultur verbundenen Jugend.“ Ganz so stark ist die Jugend allerdings doch nicht, wenn man sich die Beschwerden im Netz anschaut, man sei doch viel länger bei der Polizei festgehalten worden als „andere“ Aktivist_innen.
Bei der Einnahme von öffentlichen Plätzen geht es um Aufmerksamkeit. Die ist für die „Identitäre Bewegung“ und ihre Sympathisant_innen besonders wichtig – schließlich wähnt man sich von Presse und Politik unterdrückt. So werden alle rassistischen und islamfeindlichen Thesen gedroschen, die im rechtspopulistischen, neurechten und „islamkritischen“ Umfeld beliebt sind: Der angeblich stattfindende „große Austausch“ der europäischen Kultur gegen eine andere, durch „unkontrollierte Massenzuwanderung“, dann der „Verlust der eigenen Identität durch Überfremdung“. Dies soll die Gesellschaft spalten, ein Klima der Angst schaffen – und deutlich signalisieren: Wir sind hier, mitten unter Euch.
Entsprechend begeistert ist dann auch der neurechte Vordenker Götz Kubitschek, den die F.A.Z. zur Aktion befragt: „Aktionen wie die der Identitären Bewegung auf dem Brandenburger Tor folgen einer Raum- und Wortergreifungsstrategie innerhalb der Medienmechanismen unserer Zeit“, sagt Kubitschek. „Was man sonst nicht mitbestimmen kann und darf, etwa die tägliche Berichterstattung über existentielle Themen, kann man auf diese Weise anstoßen und schlagartig prägen“. Wieder eine Narration der neuen Rechten: Dass über das Thema Migration, Flucht und Integration aktuell nicht genug medial berichtet werde, ist schlicht eine Farce – dass der Ton der Berichterstattung den Neuen Rechten nicht gefällt, ist dagegen anzunehmen. Und sie fühlen sich damit offenkundig nicht allein: Dem Aufruf Martin Sellners, „Gesicht zu zeigen“, folgten die „Identitären“ auf dem Brandenburger Tor. Auf den Fotos bei Facebook sind fast alle der teilnehmenden Mitglieder deutlich zu erkennen. Angst vor sozialer Ausgrenzung haben sie offensichtlich nicht mehr.