Die Geschichte der Brandenburger Opferperspektive beginnt Anfang der 1990er Jahre: Die Mauer ist gefallen, und rechtsextreme Gewalt steigt rasant. Eines der ersten Todesopfer der sogenannten Baseballschlägerjahre ist Amadeu Antonio, der in Eberswalde von Neonazis zu Tode geprügelt wird. Aber es gibt auch viele andere, deren Schicksale bis heute weitgehend unbekannt sind. Eine Reihe von Projekten aus selbstorganisierten Jugendzentren will dieser Entwicklung etwas entgegensetzen: praktische Solidarität für Betroffene.
Aus diesen Strukturen entsteht 1998 die Opferperspektive, das erste Projekt, das die junge Amadeu Antonio Stiftung – im selben Jahr gegründet – fördert. „Rechte Gewalt war damals ein ganz selbstverständlicher Alltag für viele Menschen“, erinnert sich Anne Brügmann, Projektkoordinatorin des Vereins, „und die mediale Behandlung des Themas war sehr täterzentriert“. Deshalb „Opferperspektive“, auch wenn Brügmann heute lieber von der „Betroffenenperspektive“ spricht. „Der Name steht eben in Abgrenzung zu der überall vorhandenen Täterperspektive“, sagt die 46-Jährige. Damals lautete die These, rechtsextreme Täter*innen seien Verlierer*innen, „akzeptierende Jugendarbeit“ war an der Tagesordnung. „Bei uns ging es um einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel“, so Brügmann.
25 Jahre später ist die Opferperspektive eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur in Brandenburg, sondern bundesweit. Sie gilt als erste Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt, als Blaupause für ähnliche Strukturen in ganz Deutschland und bietet inzwischen auch eine Antidiskriminierungsberatung. „Unseren Ansatz kann man ein Stück weit mit dem der autonomen Frauenhäuser vergleichen“, erklärt Brügmann. „Wir bieten eine individuelle, parteiliche Unterstützung von Betroffenen: Stichwort Opferschutz.“ Brügmann sitzt im Büro des Vereins – eine in die Jahre gekommene Villa am Griebnitzsee in Potsdam mit hohen Decken und viel Charme, wo die rund 20 Mitarbeiter*innen der Opferperspektive arbeiten. An der Wand klebt ein Plakat mit Strand und Sonne: „Schöner leben ohne Nazis“ steht darauf.
Zum Ansatz der Beratung gehören „Interventionen“: „Wir versuchen, gemeinsam die Stimme der Betroffenen zu stärken. Denn so ein Angriff ist kein individuelles Problem, es gibt eine strukturelle Dimension“, so Brügmann. Rechtsextreme Gewalttaten seien Botschaften. „Es geht oft nicht um die einzelnen Betroffenen, sie werden eher zufällig ausgewählt.“ 138 rechtsextreme Übergriffe zählt die Opferperspektive für das Jahr 2022 in Brandenburg. Seit 2002 wertet der Verein solche Gewalttaten statistisch aus, sie kommt dabei auf höhere Zahlen als die Sicherheitsbehörden. Auch 23 Todesopfer rechtsextremer Gewalt hat die Opferperspektive seit 1990 dokumentiert, dazu neun weitere Verdachtsfälle.
Im vergangenen Jahr stand Brandenburg nach rassistischen Vorfällen wiederholt in den Schlagzeilen: Nachdem sie einen Brandbrief wegen rechtsextremer Vorfälle geschrieben hatten, wurden zwei Lehrer*innen aus Burg massiv angefeindet und verließen schließlich die Schule. In einem Ferienlager in Heidesee wurde eine Berliner Schulklasse rassistisch beleidigt und bedroht. Solche Fälle landen auf Brügmanns Tisch. „Wir haben zahlreiche Fälle von Mobbing im Nachbarschaftskontext, vor allem gegen geflüchtete Familien“, sagt sie. Dazu zählen Verleumdungen, ungerechtfertigte Anzeigen bei der Polizei, zerkratzte Briefkästen, aber auch Körperverletzung.
Vor diesem Hintergrund blickt Brügmann mit Sorge auf die kommende Landtagswahl in Brandenburg. Laut Umfragen steht die AfD weit vorne, zuletzt mit 32 Prozent. „Für potenziell Betroffene wäre das furchtbar“, sagt sie über einen Sieg der Rechtsradikalen, „die Stimmung wäre noch bedrohlicher“. Schon jetzt will die AfD Initiativen gegen Rechts mit parlamentarischen Anfragen einschüchtern, auch die Opferperspektive. Auch das zeigt: Nach 25 Jahren ist die Opferperspektive nötiger denn je.