Dieser Text entstand im Rahmen des Projektes „Get The Trolls Out”.
Um diesen Slogan und die Steigerung des Antisemitismus während der Pandemie zu verstehen, ist mehr Kontext notwendig. Ein wiederkehrendes Thema bei den Protesten in Frankreich ist ein Vergleich von Ungeimpften mit Juden und Jüdinnen während des Holocausts. Sowohl in Frankreich als auch bei Demos im Rest Europas trugen Demonstrierende gelbe Sterne (sogenannte „Judensterne“), um die Schaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft und den Verlust der Freiheit innerhalb einer sogenannten „Gesundheitsdiktatur“ anzuprangern. Diese Sterne wurden während des Nationalsozialismus ab 1941 zur Kennzeichnung jüdischer Menschen verwendet, um sie auszugrenzen, zu markieren und die Deportation in Konzentrationslager zu erleichtern. Die Behauptung, dass Impfverweigerer der gleichen Unterdrückung ausgesetzt sind, wie Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus, ist maßlos unzutreffend und beleidigend gegenüber jüdischen Menschen.
Antisemitische Äußerungen der Impfgegner:innen beschränken sich nicht auf die Relativierung des Holocausts. Seit Beginn der Pandemie werden in Verschwörungsnarrativen jüdische Menschen fälschlich beschuldigt, für die Verbreitung des Virus und für die Entwicklung des Impfstoffs mit dem Ziel der Kontrolle der Weltbevölkerung verantwortlich zu sein. Beispielsweise wird aktuell die antisemitische Wortschöpfung „Holocough“ (Holo-Husten) mit verschiedenen Bedeutungen verwendet. Eine moderne Interpretation des antisemitischen Vorurteils, mit dem Juden und Jüdinnen für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich gemacht werden und gleichzeitig als entbehrliche Opfer betrachtet werden. Der Slogan wird als Aufruf zur Verbreitung des Coronavirus unter Juden und Jüdinnen verwendet, um sie zu infizieren und zu töten; als Behauptung, dass sowohl der Holocaust als auch das Coronavirus erfunden sind und die COVID-19-Beschränkungen ein Plan des „Deep States“ sind, um ein Holocaust-ähnliches System einzuführen; und als Hinweis darauf, dass die Pandemie von einer jüdischen Elite zum Profit und zur Bevölkerungskontrolle erfunden wurde.
Im Laufe der Geschichte wurden Juden und Jüdinnen regelmäßig fälschlich beschuldigt, absichtlich Tod und Krankheit zu verbreiten – von der Vergiftung von Brunnen bis zur Verursachung der Pest. Unter Berufung auf diese jahrhundertealte Verschwörung lief Cassandre Fristot, Lehrerin und ehemaliges Mitglied der rechtsextremen Partei Rassemblement National („Nationale Front“), am 7. August in der Stadt Metz im Osten von Frankreich bei einer Anti-Impfpass-Demo mit. Sie trug dabei ein Schild mit der Aufschrift „Mais qui?“ (dt. „Aber wer?“). Auf das Schild waren zwei Teufelshörner gezeichnet, gefolgt von einer Liste französischer und internationaler Persönlichkeiten, die meisten davon jüdisch, und dem Wort „Verräter“. Fristot wurde vom Dienst suspendiert und es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet. Ihr wird vorgeworfen, zum Rassenhass aufgestachelt zu haben. Der Prozess beginnt im September. Wenn sie für schuldig befunden wird, droht ihr eine einjährige Gefängnisstrafe und eine Geldstrafe von bis zu 45.000 Euro.
Die Frage „Aber wer?“ bezog sich auf ein Interview mit dem pensionierten französischen Armeegeneral Dominique Delawarde, das im Juni 2021 im Rechtsaußen-Nachrichtensender CNEWS ausgestrahlt wurde. In diesem Interview deutete Delawarde an, dass eine bestimmte Gruppe die Medien kontrolliert. Als der Journalist ihn fragte, wen er damit meine, antwortete er mit „die Gemeinschaft, die Sie gut kennen“. Ohne es ausdrücklich zu sagen, beschuldigte der ehemalige General jüdische Menschen, den Mediensektor zu beherrschen. Dabei handelt es sich um eine gängige antisemitische Verschwörungserzählung, die auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ zurückgeht, eine nachweisliche Fälschung aus dem späten 19. Jahrhundert, die noch heute bei manchen als echtes Dokument angesehen wird. Delawarde, der nun wegen seiner antisemitischen Äußerungen strafrechtlich verfolgt wird, war einer der Verfasser eines offenen Briefs, in dem er der französischen Regierung mit einem Militärputsch drohte, falls sie nicht gegen die „Zerstörung“ des Landes infolge von „Islamisierung“, „Vorstadt-Horden“ und „bestimmten Formen des Antirassismus“ vorgehen würde.
Cassandre Fristot ist nicht die Einzige, die den Slogan „qui?“ verwendet hat. Bevor und nachdem ihr Fall in den Medien Aufmerksamkeit erlangte, waren auf den französischen Samstagsdemonstrationen gegen den Gesundheitspass Transparente mit derselben antisemitischen Frage zu sehen. Auch auf den Social-Media-Plattformen wird dieser Slogan in Beiträgen mit antisemitischen Verschwörungsgedanken geteilt, in denen behauptet wird, dass Juden Kernindustrien beherrschten und Regierungen und Menschen zu ihrem eigenen Vorteil manipulierten. Diese uralten Tropen haben sich rasch an die neuen Umstände einer globalen Pandemie angepasst und sind dazu übergegangen, jüdische Menschen zu beschuldigen, die Öffentlichkeit auszubeuten und sie zu schädigen, dies alles mit dem Ziel aus dem Virus Profit zu schlagen. Unter den zahllosen Tweets mit dem Hashtag #qui sind viele Fotos von Leitern von Pharmaunternehmen zu sehen, die Impfstoffe entwickeln. Dass der CEO von Pfizer, Albert Bourla, Jude und Sohn von Holocaust-Überlebenden ist und dass der Chefmediziner von Moderna, Tal Zaks, israelischer Jude ist, gilt in den Verschwörungserzählungen als Beweis für eine geheime jüdische Verschwörung zur Weltherrschaft.
Diese Posts und Plakate fügen sich in einen viel breiteren antisemitischen Diskurs ein, der durch die Pandemie und die heftigen Reaktionen auf die Covid-19-Beschränkungen stärker erkennbar wurde. Im August wurden in Frankreich im Rahmen des Projekts „Get The Trolls Out!“ mehrere antisemitische Vorfälle gemeldet – sie wurden häufig mit dem Coronavirus und der Impfung in Verbindung gebracht. Neben den gelben Sternen und Zahlen auf den Unterarmen, die einige Impfgegner:innen tragen, wurden Davidsterne auf Impfzentren gemalt, Quenelle-Gesten (der umgekehrte Nazi-Gruß, der von dem französischen Komiker Dieudonné erfunden wurde) werden bei Demonstrationen gezeigt und ein Gedenkstein, der an das Leben der Holocaust-Überlebenden und ehemaligen Gesundheitsministerin Simone Veil erinnert, wurde mit Hakenkreuzen beschmiert.
Antirassistische Organisationen sind alarmiert und prangern antisemitische Taten immer wieder an. Delawarde und Fristot müssen sich nun wegen Volksverhetzung vor Gericht verantworten und schließen sich weiteren prominenten Fällen an, die in den letzten Jahren dafür verurteilt wurden. Ein kleiner Schritt, um die weitere Verbreitung von Verschwörungsnarrativen und die Normalisierung des Antisemitismus zu verhindern.