Antisemitischen Äußerungen von Jugendlichen in pädagogischen Situationen zu entgegnen, stellt sich für viele Pädagog_innen als Herausforderung dar. Die Art und Weise, wie Fachkräfte in bestimmten Situationen handeln, steht in enger Verbindung mit der Art und Weise, wie sie eine Situation, eine Gruppe oder Person wahrnehmen und diese beschreiben bzw. dazu reflektieren. Es kann also von einer Wahrnehmungshaltung gesprochen werden, die das Handeln der Praktiker_innen vorstrukturiert oder auch »leitet«. Dies ist das zentrale Ergebnis meiner Doktorarbeit, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird. Darin habe ich anhand von 21 Interviews mit Fachkräften aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit untersucht, wie die Praktiker_innen Antisemitismus wahrnehmen und wie sie in ihrem Arbeitsalltag damit umgehen. Dabei konnte ich drei verschiedene Formen der Wahrnehmungs- und Interventionshaltung herausarbeiten: »stereotypisierend«, »immanent« und »rekonstruktiv«. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, wie die einzelnen Wege der Wahrnehmung mit pädagogischen Handlungsmöglichkeiten verbunden sind – oder diese einschränken.
Antisemitismus und pädagogisches Handeln
Judenfeindliche Äußerungen folgen einer bestimmten Struktur: Sie enthalten Gruppenkonstruktionen, die jeweils mit wertenden Zuschreibungen verknüpft werden. Auf der einen Seite stehen »die Juden«, auf der anderen steht eine Eigen- oder Wir-Gruppe. Bei antisemitischen Aussagen »über Juden« handelt es sich grundsätzlich um Konstruktionen, denn Antisemitismus hat nichts mit dem tatsächlichen Verhalten von Jüd_innen zu tun. Wer »über Juden« spricht, sagt also in erster Linie etwas über sich selbst aus. Die Konstruktion einer Differenz zwischen einer Wir-Gruppe und »den Juden« erfüllt eine Funktion für diejenigen, die sich antisemitisch äußern: Wer abwertend über »Juden« spricht, wertet sich selbst auf und ordnet sich einer (vermeintlich überlegenen) Gruppe zu.2 Aus pädagogischer Perspektive macht es daher Sinn, sich weniger den antisemitischen Konstruktionen selbst als vielmehr den Sprecher_innen bzw. ihrer »Wir-Gruppe« zuzuwenden, nach der jeweiligen Funktion einer antisemitischen Äußerung für den_die einzelne_n Jugendliche_n zu fragen und an dieser Stelle mit der Intervention anzusetzen. Dadurch geraten im Handeln der Pädagog_innen die Jugendlichen mit ihren verschiedenen Erfahrungshintergründen, Haltungen und Motiven in den Blick – nicht aber »die Juden«. Dies in der Praxis umzusetzen, ist nicht immer einfach. Inwieweit ein solcher Perspektivwechsel gelingt, hängt in hohem Maße damit zusammen, welche Wahrnehmungshaltung Jugendarbeiter_innen einnehmen.
Stereotypisierende Wahrnehmungshaltung und Interventionsform
Eine stereotypisierende Wahrnehmungshaltung lässt sich an einem generalisierenden Gebrauch von Sprache erkennen. Dieser ist von undifferenzierten Verallgemeinerungen gekennzeichnet. In den Interviews sprechen die Pädagog_innen ohne Bezug sowohl zu ihrer eigenen lebensweltlichen Erfahrungsebene als auch zu der von Jugendlichen und verwenden abstrahierende, theoretisierende Argumentationen. Die Fachkräfte reden über Jugendliche, bewerten sie und schreiben ihnen Eigenschaften oder Stereotype zu – häufig auch in Form von Zuschreibungen und Kulturalisierungen, die in Abgrenzung zur eigenen, in diesem Falle »erwachsenen« bzw. »kompetenten« und/oder mehrheitsdeutschen Wir-Gruppe benutzt werden. Dabei geraten die Vielfalt von Zugehörigkeiten und Erfahrungshintergründen sowie die Komplexität von einzelnen konkreten Situationsverläufen aus dem Blick – auch in der Interaktion mit den Jugendlichen.
Eine solche Haltung drückt sich ebenfalls in einer stereotypisierenden Wahrnehmung von Antisemitismus aus: Beispielsweise sprechen Interviewte in diesem Kontext von »uns Deutschen« und »den Juden«, unterscheiden zwischen »guten« und »schlechten Juden« und/oder verwenden für letztere gar antisemitische Ausdrücke. Wie die Einstellungsforschung zeigt, erreicht Antisemitismus in weiten Teilen der Bevölkerung hohe Zustimmungswerte. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch Pädagog_innen antisemitische Positionen vertreten können, selbst wenn sie sich selbst nicht als antisemitisch verstehen
Die stereotypisierende Wahrnehmungsdisposition geht einher mit einer belehrenden pä- dagogischen Haltung und einer hierarchischen Vorstellung von der pädagogischen Beziehung: Den Jugendlichen soll, allgemein gesprochen, das »richtige« Wissen vermittelt werden. Dieses wird in Form von verkürzenden Erklärungstheorien und Lösungsansätzen präsentiert. In den Hintergrund treten dabei aber nicht nur der subjektive Sinn, den eine Aussage in einer bestimmten Situation für den_die individuelle_n Jugendliche_n hat, sondern ebenso die dahinter liegenden Motive. Dadurch werden Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Exemplarisch zeigt sich dies, wenn ein Pädagoge als Antwort auf judenfeindliche Äu- ßerungen eine Gedenkstättenfahrt organisiert und erwartet, dass der Besuch am »authentischen Ort« der NS-Verbrechen bei den Jugendlichen – ungeachtet der Hintergründe ihrer Äußerungen – automatisch zu einer kritischen Positionierung gegen aktuellen Antisemitismus führt.
Immanente Wahrnehmungshaltung und Interventionsform
In der Offenen Jugendarbeit ist eine vertrauensvolle Beziehung zu den Jugendlichen die Voraussetzung für pädagogische Interventionen. In der Praxis kann eine solche Beziehung jedoch damit einhergehen, die kritische Distanz zu antisemitischen Positionen einzuschränken oder gar aufzugeben. Beim immanenten Typus verbleiben die pädagogischen Akteur_innen in ihren Darstellungen (im Vergleich zur stereotypisierenden Wahrnehmungshaltung) nicht vollständig losgelöst vom konkreten Alltag der Adressat_innen. Sie bauen eine verständnisorientierte Nähe zu den Jugendlichen auf und versuchen nicht nur, den Sinn ihrer Äußerungen nachzuvollziehen, sondern integrieren diese in ihren eigenen Sprachgebrauch. So greifen sie z. B. Selbstbeschreibungen der Jugendlichen unkritisch und unhinterfragt auf und laufen dabei Gefahr, dass daraus Zuschreibungen werden, hinter denen andere Erfahrungshintergründe (wie Alter, Bildung, Geschlecht, sozioökonomische Bedingungen) sowie mit ihnen verbundene Handlungsoptionen verschwinden.
Antisemitischen Aussagen über »die Juden« versuchen die Pädagog_innen zu begegnen, indem Differenzierungen eingefordert werden. Diesen Interventionen liegt die Idee zugrunde, dass judenfeindliche Aussagen widerlegt werden können, wenn auf die Existenz »anderer« bzw. »guter Juden« oder auf abstrakte Gebilde wie »die israelische Politik« verwiesen wird. Mit einem verständnisorientierten Zugang und einer daraus abgeleiteten Intervention, die auf der Differenzkonstruktion vom »Juden« als »dem Anderen« basiert, werden judenfeindliche Äußerungen jedoch festgeschrieben und bestätigt statt widerlegt.
Die Form der immanenten Wahrnehmungshaltung schließt ein berufsspezifisches Rollenverständnis ein, das eine dialogische Kommunikation »auf Augenhöhe« und eine gleichberechtigte Beziehung mit den Jugendlichen anstrebt. Diese Haltung wird jedoch kaum strategisch eingesetzt, um den Kontakt mit den Jugendlichen zu gestalten. Deutlich werden hingegen eine Konsensorientierung und die Suche nach Verständnis. Der eingeschränkte bzw. auf den objektiven Sinn des Gesagten fokussierte Blick erschwert jedoch eine nachvollziehbare und wirkungsvolle Entgegnung von Aussagen, die als problematisch wahrgenommen werden.
Rekonstruktive Wahrnehmungshaltung und Interventionsform
Den rekonstruktiven Typus kennzeichnet ein differenzierender Sprachgebrauch. Seine Darstellungen basieren auf einem Blick, der mehrere Perspektiven einbezieht, und sie enthalten ausführliche Beschreibungen von verschiedenen Erfahrungshintergründen der Jugendlichen, anstatt sie mit (ab)wertenden Zuschreibungen zu belegen und auf bestimmte Gruppenzugehörigkeiten zu reduzieren. Im Kontext von Antisemitismus werden mit dieser Wahrnehmungshaltung Aussagen über »Juden« als »die Anderen« weitgehend umgangen bzw. verunmöglicht. Die Pädagog_innen begreifen Antisemitismus als Lerngegenstand. Sie hinterfragen verkürzende Erklärungstheorien und versuchen den Jugendlichen ein komplexeres Verständnis von der Welt zu eröffnen, das weitgehend ohne Projektionen über »Andere« auskommt.
Generell nehmen die Fachkräfte eine distanzierte Beobachterposition ein, die mit einer reflexiven Haltung einhergeht. Ihr Umgang mit den Jugendlichen ist von Anerkennung und Verständnisinteresse geprägt. Sie vermitteln keine Überzeugungen oder Aussagen, von deren Geltung die Jugendlichen argumentativ zu überzeugen sind. Vielmehr zeigen die Praktiker_innen eine Haltung, die auf das Verstehen der Selbstbeschreibungen, Motive und Begründungen der Jugendlichen gerichtet ist. Ähnlich wie beim immanenten Typus, beziehen sie sich auf die Äußerungen ihres Gegenübers, verbleiben dabei jedoch nicht auf der Ebene der Aussagen selbst. Sie fragen vielmehr nach Funktionen und Kontexten, in denen die Äußerungen der Jugendlichen für diese Sinn ergeben. Die Pädagog_innen stellen detaillierte Nachfragen, ohne die Meinungen der Adressat_innen negativ zu werten oder ihnen gar Wissen abzusprechen, und suchen nach Handlungsoptionen in deren Alltag.
Vereindeutigende (Selbst-)Bezeichnungen oder ideologisch überformte Aussagen werden durch einen Bezug auf Äußerungen und alltagspraktische Erfahrungen der_s Jugendlichen hinterfragt, die im Widerspruch zu als problematisch empfundenen Handlungen oder Äußerungen stehen. Eine weitere Handlungsoption ist der strategische Einsatz von Zugehörigkeitskonstruktionen, durch den Pädagog_innen homogenisierende Vorstellungen und Konstruktionen von Wir-Gruppen hinterfragen können, ohne die Adressat_innen in ihren Selbstbeschreibungen und Identitätsbezügen anzugreifen und so einen (gemeinsamen) Lernprozess zu erschweren.
Eine andere Möglichkeit, antisemitischen Aussagen bzw. den zugrunde liegenden Konstruktionen von Differenz zu widersprechen, ist der Bezug auf allgemein gültige Positionen, die entsprechenden Zuschreibungen und Stereotypen gegenüber gestellt werden, beispielsweise wenn eine Jugendarbeiterin der Aussage, »Juden seien gierig«, entgegnet, dass doch alle Menschen nach Wohlstand streben und Gier kennen würden. Auch auf diese Weise ist es möglich, aus der Differenzkonstruktion vom »Juden« als »dem Anderen« auszusteigen und eine Diskussion über Stereotype, ihre Geschichte und ihre Funktion zu beginnen.
Fazit
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, inwieweit ein rekonstruktiver Blick und eine reflexive pädagogische Haltung mit erweiterten Handlungsoptionen in der Praxis verbunden sein können. In dieser Wahrnehmungs- und Interventionsform zeigt sich ein Zusammenhang zwischen einer differenzierenden Sprachverwendung sowie einer anerkennungspädagogischen und reflexiven Haltung. Bei einer stereotypisierenden Form der Wahrnehmung und einer belehrenden pädagogischen Haltung geraten die Vielfalt kollektiver Zugehörigkeiten von Jugendlichen, die Komplexität von Situationsverläufen und deren Bedingtheiten aus dem Blick, so dass weiterführende Reflektions- und Handlungsmöglichkeiten weitgehend verschlossen bleiben. Eine mehrperspektivische, auf die Alltagswelt der Jugendlichen gerichtete Sichtweise hingegen, mit der nach Funktionen bestimmten Handelns gefragt wird, eröffnet unterschiedliche Handlungsoptionen, die ein wirkungsvolles Hinterfragen von antisemitischen und anderen Differenzkonstruktionen ermöglichen.
Heike Radvan ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Seit 2002 arbeitet sie in der Amadeu Antonio Stiftung und leitet dort die Fachstelle Gender und Rechtsextremismusprävention.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre:
Amadeu Antonio Stiftung:„Läuft bei dir“
(PDF-Dokument, 2.5 MB)(Zum Bestellen als Print-Version hier klicken)
Konzepte, Instrumente und Ansätze der antisemitismus- und rassismuskritischen Jugendarbeit.