Holger Kulick: Herr Professor Benz, wenn sich Schüler auf dem Schulhof mit „Du Opfer, du Jude!“ beschimpfen – ist das schon Antisemitismus?
Wolfgang Benz: Es ist sehr schwierig, zu bestimmen, wo pure Gedankenlosigkeit in Absicht umschlägt. Wenn ich zum Beispiel sage, du handelst wie ein Jude, was in meiner Jugend völlig Gang und Gäbe war, habe ich mir nicht zwangsläufig irgendetwas böses dabei gedacht. Es gab zu meiner Jugendzeit auch ein Spiel, das hieß „Judeln“, da wurden Geldstücke geworfen. Keiner von uns wusste, was ein Jude ist, von Antisemitismus hatte man keine Ahnung, wir waren brave, gutartige Schüler. Aber das soll jetzt nicht entwarnen. Irgendwann lassen sich nämlich solche Stereotypen, die ja da drin stecken auch instrumentalisieren, deshalb kann man sie nicht einfach abtun.
Bedenklich ist auf jeden Fall, wenn sich so ein Sprachgebrauch einschleicht, wenn „Du Jude“ tatsächlich ein Schimpfwort wird, dann kann man es nicht abtun. In einer demokratischen Gesellschaft muss ein Lehrer das auch auffangen und besprechen, wenn jemand „Du Verlierer!“ schimpft. Das ist ungefähr analog. Das kann man nicht einfach stehen lassen und sagen, das ist halt Neudeutsch oder ein Jugendslang, die meinen das nicht so. Sondern man muss aufmerksam sein und das hinterfragen.
Was aber tun, wenn sich Schüler nicht belehren lassen, sei es als junge Mitläufer aus der Neonaziszene, die meinen, ihren Opa zu verteidigen, oder als muslimische Schüler, die nichts über Israel und den Holocaust wissen wollen?
Ich kann immer nur empfehlen, nichts stehen lassen, nicht einknicken. Wenn ein Schüler, der aus einer arabischen Familie kommt, bei der Nennung des Begriffs Israel oder Holocaust aufsteht und sagt, das ist mit meiner Ehre nicht zu vereinbaren, ich kann das nicht anhören, kann man das nicht so stehen lassen. Dann muss man in aller gebotenen Freundlichkeit sagen, das ist Lehrstoff. Ich kann auch nicht sagen, Algebra ist mit meiner Familienehre nicht vereinbar oder Geometrie ist aus emotionalen Gründen für mich nicht hinnehmbar, nein, das ist Lehrstoff. Damit haben solche emotionalen Bekenntnisse nichts zu tun, oder aber sie werden mit der entsprechenden Note quittiert. Wir müssen denen dann aber auch klar machen, dass nicht in ihre Gesinnung eingegriffen werden soll und ihre Familienehre nicht zur Disposition steht.
Es gibt ein Grundwissen über den Staat Israel, ein Grundwissen über den Genozid an den Juden, das verbindlicher Lehrstoff ist, und das man nicht mit dieser Gebärde „mein Patriotismus erlaubt mir das nicht“ stehen lassen kann. Das ist sicherlich eine Herausforderung für Pädagogen. Ich erlebe nicht selten, dass Lehrer unsicher reagieren und an dem Punkt kneifen. In Sachsen verteidigten sich Lehrer mit der Auffassung, das sei jetzt die neue Toleranz und die neue Demokratie, dass alle Meinungen gelten müssen. Und wenn nun der eine sagt, den Holocaust habe es nicht gegeben, weil sein Vater das glaubt, dürfe man dem nicht in die Parade fahren, sondern müsse das dann als Meinung tolerieren. Ein unglaublicher Fehler! Es gibt Wissensstoff, es gibt Tatsachen, die junge Leute zu ihrem Vorteil wissen müssen und wo man dann nicht, nur um seine Ruhe zu haben, oder um nicht das große Krakeelen in der Klasse zu kriegen, nachgeben darf.
Sind das denn vor allem Neonazis, die auf diese Weise auffallen?
Nicht unbedingt. Es können auch Schüler sein, wo einfach der Opa zu Hause herumgenölt hat und der Enkel das ohne zu hinterfragen als wahr in die Klasse transportiert und die Lehrerin nicht sagt, das ist Unsinn, das ist Quatsch, weil sie das für Meinungsfreiheit hält. Aber zwei und zwei ist nicht Meinungssache, ob das jetzt fünf, sechs oder sieben ist, sondern nach Erkenntnissen des Faches Mathematik ist zwei plus zwei vier. Und wer das nicht zu akzeptieren vermag, der hat dann in diesem Fach versagt. So ist das mit historischen Tatsachen oder demokratisch politischen Zusammenhängen natürlich auch: Es steht nicht zur Disposition, ob der Holocaust stattgefunden hat. Es steht nicht zur Disposition, ob es sechs Millionen Juden waren oder 200.000, wie in rechtsextremen Gazetten gelogen wird, sondern das ist ein wissenschaftlich gesicherter Fakt.
Ein Lehrer muss also unbedingt daran festhalten, dass es bei aller Toleranz und aller Meinungsfreiheit einen bestimmten Kanon von Tatsachen und Fakten gibt, die so akzeptiert werden müssen. Sicher ist das heute schwieriger, als vor 30 Jahren, heute haben die Lehrer andere Autoritätsprobleme, weil die Informationsrevolution im Internet vieles in den Bereich der Beliebigkeit gerückt hat. Es gibt zu jeder Meinung eine Gegenmeinung, zu jedem Satz auch eine esoterische Vermischung von Realität und Fiktion. Das Geschäft der Wissensvermittlung, der Aufklärung ist dadurch sehr viel schwerer geworden, deshalb ist der Beruf des Lehrers anspruchsvoller geworden, als er früher war. Dem muss man Rechnung tragen und die Lehrer entsprechend ausbilden und fortbilden und ehren, für das, was sie tun. Die gesellschaftliche Anerkennung des Lehrers ist auch ein wichtiger Teil unserer Bildungspolitik. Daran mangelt es vielfach.
Wie erklärt ein guter Lehrer denn am besten Antisemitismus?
Sie wissen, das ist nicht einfach, denn beim Antisemitismus ist der Umstand ganz besonders ausgeprägt, dass jeder Deutungshoheit darüber beansprucht und viele beteuern, ach das habe ich doch gar nicht anisemitisch gemeint. Ich habe das bei der Möllemann-Affäre gelernt, als ich häufig vor Mikrofone und Kameras gebeten wurde. Zunächst einmal gibt es diese Nachdenklichkeit: Ja, da müssen wir aber erst mal nachdenken, was überhaupt Antisemitismus ist. Und jetzt scheiden sich die Geister, die einen hängen die Schwelle ganz niedrig, da ist also dann jeder schiefe Blick, den man einem Juden zukommen lässt, schon ein schwerer, zu äußerstem Alarm nötigender Fall von Antisemitismus. Und bei der anderen, und mindestens genauso verbreiteten Version ist Antisemitismus, wenn man pauschalisiert und sagt, „die Juden lügen“, „die Juden betrügen alle“ und „die Juden haben eine verbrecherische Religion“.
Doch dann behaupten andere, das ist doch kein Antisemitismus, das ist doch nur eine Meinung, Antisemitismus beginne frühestens, wenn man einen Juden an der Gurgel packt. Also unterhalb brachialer Gewalt oder unterhalb staatlich verordneter Verfolgung gebe es gar keinen Antisemitismus. Aber das ist der Versuch, den Alltagsantisemitismus, die alltägliche Judenfeindschaft klein zu reden und zu sagen, das, was bei Hitler war, mit dem wollen wir natürlich nichts zu tun haben. Das war ganz schlecht. Und davon sind wir ganz weit distanziert und so etwas gibt es ja heute auch nicht. Und tatsächlich gibt es ja in der Bundesrepublik Deutschland kaum brachiale Gewalt, kaum Radau, selten offene antisemitistische Pöbeleien gegen Juden, sondern es spielt sich alles auf einer sehr viel feineren, verdeckteren Ebene ab.
Woran lässt sich das erkennen?
Für Außenstehende nicht einfach. Da gibt es Feinheiten, die sind längst eingeübt, also bestimmte Chiffren und Codes, um sich zu verständigen. Man muss sich ja nicht strafbar machen, indem man sagt, „die Juden sind eine betrügerische Bande von Leuten, die nur an Geld interessiert sind und an der Wallstreet das Finanzsystem der Welt in den Händen haben“. Statt dessen können sich zwei Judenfeinde leicht mit dem Tarn-Begriff „Ostküste“ verständigen, da ist das alles drin und gesagt. Man muss auch nicht grob und unflätig werden, sondern man sagt etwa „Die Herrschaften da, na Sie wissen schon“ und hat sich darüber verständigt. In solchen Kreisen muss man nicht sagen, ich halte Juden für schlecht und ich kann Juden nicht ausstehen, sondern verständigt sich über solche Chiffren. Und das ist dann die Verständigung darüber, dass zum Beispiel die Juden angeblich viel zu viel Einfluss in der Politik, in der Wirtschaft, in der Presse, in der Kultur, wo immer man will, haben, oder dass sie viel zu viele Subventionen bekommen oder vom Staat erpressen. Das funktioniert alles über Chiffren, auch deshalb, weil offener Antisemitismus und Volksverhetzung in unserem Lande verpönt und kriminalisiert sind, gibt es diese stillschweigenden Verabredungen.
Nimmt das zu?
Ob das wiederum zunimmt oder abnimmt, das ist die schwierige Frage. Ich bin mit den Kollegen der Antisemitismusforschung eigentlich ziemlich einig, Judenfeindschaft nimmt nicht zu und es nimmt nicht ab, das ist eine ziemlich gleich bleibende Konstante. Der Bodensatz an judenfeindlicher Einstellung wird ja auch regelmäßig mit Mitteln der Demoskopie gemessen, klar, es gibt Ausschläge und auch immer Reaktionen auf mediale Ereignisse. Wenn ein großer Zeitungsartikel, sagt, dass es immer schlimmer wird mit den Friedhofsschändungen, zieht das garantiert Friedhofsschändungen nach sich, und dann wird es für einige Zeit schlimmer und dann beruhigt sich das wieder. Der langfristige Trend ist gleich bleibend mit vielleicht einer leicht abnehmenden Tendenz, bewirkt durch mehr Bildung und Aufklärung. Aber diese Schwankungen, sind so gering, dass man sie nicht hervorheben muss. Im Weltbild von ungefähr 20 Prozent der Deutschen spielen judenfeindliche Einstellungen eine Rolle.
Ist also jeder fünfte Deutsche ein Antisemit?
Nein, nicht automatisch. Denn zumindest ist nicht jeder Fünfte, wie das die Schlagzeile „Jeder fünfte Deutsche ein Antisemit!“ Glauben macht, einer, der mit dem Messer durch die Straßen läuft und wie es in einem Nazi-Lied heißt, „Judenblut spritzen“ sehen will, sondern das sind Leute, die mehr oder weniger starke Reserven haben gegenüber dem Jüdischen, die zum Teil ererbte Feindbilder haben, also Stereotypen, dass die Juden angeblich unverhältnismäßig stark in der Presse vertreten sind oder so etwas, ohne dass sie das als Hetze oder Verletzungsanweisung verstehen. Beispiel: Ein Mann wird gefragt „Möchten Sie, dass Ihre Tochter einen Juden heiratet?“ „Nein“, sagt er, und hat sich natürlich damit einen Platz erworben in der Skala der Leute mit antijüdischer Einstellung.
Er ist aber vielleicht ein fundamentalistischer Protestant. Für den ist das genauso schlimm, ob die Tochter einen Katholiken heiratet oder einen Juden, aber das wird nicht gefragt. Es wird nur gefragt „Möchten Sie als Schwiegersohn einen Juden?“. Nein, das möchte er nicht, aber er möchte genauso wenig einen Katholiken. „Möchten Sie gerne in einer Gegend wohnen, wo sehr viele Juden ihre Wohnungen haben?“ Nein, möchten Sie nicht. Nicht weil Sie was gegen Juden haben, aber weil Sie ein ängstlicher Mensch sind und Rechtsextreme viel mehr fürchten als alles andere. Und in Gegenden, wo viele Juden wohnen, kommen dann vielleicht auch diese Neonazis und es gibt Radau und die Polizei kommt. „Ich will lieber unter Spießern wohnen, wo es ganz ruhig ist“. Aber die Antwort bringt den, der sich so äußert, natürlich auf die Seite derer, die eine negative Einstellung gegenüber Juden haben.
In Ihrem Buch „Was ist Antisemitismus?“ definieren sie, dass Antisemitismus „stilles Einverständnis der Mehrheit über die Minderheit“ ist.
Das ist ein sozialer, ja ein sozial-psychologischer Mechanismus, der überall, in allen Gesellschaften, funktioniert, vom Kindergarten bis zum Altersheim. Die Verständigung der Mehrheit über eine beliebige Minderheit stabilisiert die Mehrheit. Schuld an etwas ist die Minderheit, auf die sich die Mehrheit aufgrund von verbreiteten Klischees und Vorurteilen am ehesten einig ist. Und dies trifft sehr häufig die Juden, weil sie in diese traditionelle Rolle seit mindestens 2000 Jahren gedrängt sind. Die fallen einem daher am schnellsten ein, darüber kann man sich leicht verständigen, das sind die Schuldigen, weil die Großväter und Urgroßväter das auch schon geglaubt haben. Und auch die Urgroßmutter war vom selben Feindbild überzeugt. Und selbst das Unglück, das dann dieses Kollektiv, diese Minderheit betroffen hat in Form des Genozids, soll es vermeintlich wieder bestätigen, denn ein Volk, das so ein beträchtliches Unglück getroffen hat, müsse ja doch selber etwas mit verursacht haben, von allein könne das ja nicht kommen.
Das funktioniert auch bei anderen Minderheiten. Die Albaner zum Beispiel – dass wir die nicht mögen, kann nur an denen liegen. Das scheint vollkommen logisch, auch wenn wir nie mit einem Albaner in Konflikt waren, wenn wir immer nur in der Zeitung gelesen haben, dass es irgendwo eine Bande von albanischen Kriminellen gibt, oder dass so und so viele Albaner nach dem Kosovo-Krieg irgendwo in einem Heim hier Unterschlupf gefunden haben. Also die Kunde, das Gerücht über die Albaner genügt vollkommen. Die Mehrheit ist sich sicher und fühlt sich als Gemeinschaft wohl dabei
Gibt es dann tatsächlich so etwas wie ‚ewigen Antisemitismus‘, der nicht klein zu kriegen ist?
Ich muss, auch wenn mir das manchmal schwerfällt, und ich manchmal sehr deprimiert zu Hause ankomme, daran glauben, dass mit Mitteln der Vernunft und der Aufklärung etwas zu machen ist. Und die Statistik gibt mir auch Recht. Wenn man antisemitische Einstellungen mit Hilfe der Demoskopie misst, dann wird klar, je älter die Leute sind, desto eher glauben sie an die Stereotypen, je geringer der Bildungsgrad ist, desto anfälliger sind sie etwa für Verschwörungstheorien. Doch unter Gebildeten nimmt das ab. Ich habe mich jüngst wieder lange und gründlich mit einer berühmten antisemitischen Verschwörungstheorie beschäftigt, mit den „Protokollen der Weisen von Zion“, einer 100 Jahre alten russischen Geheimdiensterfindung, die rechtsextreme Kreise aber auch heute noch gerne als ihre Wahrheit im Internet und in Veröffentlichungen streuen, um zu belegen, dass es eine jüdische Weltverschwörung gebe. Dem wird geglaubt wie nie zuvor.
Absolut abstrus, vollkommen irrational. Daran glaubt man nicht, wenn man eine einigermaßen ordentliche Schulbildung bekommen hat. Doch je weniger Schulbildung man hat, desto ausgelieferter ist man den Rätseln dieser Welt. Wenn ich selbst Mühe habe, mich zu verständigen, Mühe habe mich richtig auszudrücken, wenn ich die Rechnung für Gas, Strom, Wasser nicht mehr verstehen kann, weil sie in so komplizierten Spalten angeordnet ist, je weniger ich Gerüste finde, desto anfälliger bin ich für solche schlichten Welterklärungen wie: „die Juden machen dies und das“, oder „die Juden ziehen an allen Stricken und Strängen“. Das zeigt uns also die Statistik: je besser die Schulbildung, desto geringer der Grad an judenfeindlicher Einstellung. Daraus ist zu sehen, es gibt eine Chance, und diese Chance heißt Bildung, heißt rationaler Umgang mit dieser Welt.
Wie erklärt denn nun ein Lehrer am prägnantesten Antisemitismus. Mit „Judenfeindlichkeit“?
Ja, Antisemitismus ist der Oberbegriff für alle Formen von Judenfeindlichkeit. Und dann muss der Lehrer differenzieren, denn es gibt auf jeden Fall vier Unterkategorien. Die eine und älteste ist der christliche, aus Religion entstandene Antijudaismus, also die Ablehnung des Juden, weil er „Jesus verraten“ hat und Schuld sein soll an aller Verfolgung, die daraus entstanden ist, das ist der ‚religiöse Antijudaismus‘. Dann gibt es einen rassistischen Antisemitismus, der ist im engeren Sinne eine Ideologie, die im 19. Jahrhundert entstanden ist und mit pseudo-wissenschaftlichen Unterstellungen arbeitet. Dieser ‚biologistische Rassenantisemitismus‘ gibt sich als Naturwissenschaft und hat den Anspruch, auf streng wissenschaftliche Weise den Juden zu bekämpfen und nicht auf die ältere emotional christlich-religiöse Weise.
Diese Form eines rassistischen Antisemitismus hat mit Hitler den Höhepunkt erreicht. Als dritte Erscheinungsform der Judenfeindschaft gilt der ’sekundäre Antisemitismus‘, also Judenfeindschaft als Reflex auf den Holocaust. Dieser sekundäre Antisemitismus ist nach 1945 entstanden, er macht sich beispielsweise an Entschädigungsleistungen fest. Die vierte Form der Judenfeindschaft ist dann Antizionismus, also die fundamentale Ablehnung des Staates Israel verbunden mit der fundamentalen Ablehnung seiner Bewohner, weil sie Juden sind. Mit diesen vier Haupterscheinungsformen von Judenfeindschaft hat ein Lehrer ein in der Schule taugliches definitorisches Gerüst.
Und linken Antisemitismus, gibt es den nicht auch?
Mit dem so genannten linken Antisemitismus habe ich ganz große Probleme. Ich sehe den nicht. Und ich sehe ihn nicht als eine spezielle Kategorie. Es ist klar, dass Judenfeindschaft nicht nur unter Rechten vorkommen muss, sondern auch unter Linken vorkommen kann. Aber ich sehe das jetzt nicht in einer ideologisch verortbaren Form. Bei Rechtsextremen, bei Neonazis ist klar, dass sie so gut wie immer Antisemiten sind und sich immer über Fremdenfeindlichkeit, über Rassismus, über historische Traditionen definieren, eigentlich immer etwas gegen Juden haben. Aber bei den Linken trifft das einfach nicht zu. Es lässt sich nirgendwo aus der Ideologie des Marxismus ableiten, dass „der Jude“ ein Feind ist. Daher reduziert sich dieser so genannte linke Antisemitismus vor allem auf persönliche Einstellungen einzelner Leute, die sich im linken Spektrum politisch verorten und außerdem judenfeindlich sind. Was es sicherlich gibt, ist ein angeblich linker Antisemitismus als Entlastungsangriff für den rechten: schau, schau, es gibt ja auch Linke, die Antisemiten sind. Da verwechselt der Großteil wahrscheinlich die Parteinahme Linker oder die Parteinahme des Ostblocks für die Sache der Palästinenser mit Antisemitismus.
Denn Parteinahme gegen Israel muss nicht automatisch irgendwas mit Antisemitismus zu tun haben, das kann auch anders auf der politischen Ebene gelagert sein. In der DDR-Politik galt Israel zum Beispiel als eine Filiale der Vereinigten Staaten und ein Freund der Bundesrepublik und somit als ein Feindstaat. Und man solidarisierte sich mit Palästina, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass auf der anderen Seite Juden sind. Das ist der Unterschied zu den Rechten. Die machen sich diese Gedanken. Für die ist Israel die Inkarnation des „Weltjudentums“ und mit allen rassistischen rechten Eigenschaften behaftet.
Im Zentrum für Antisemitismusforschung als Institut der TU Berlin wird derzeit ein Handbuch über Antisemitismus angelegt. Mit ganz neuen Erkenntnissen?
Das ist jetzt eine typische Frage des Journalisten: alles muss überraschend sein, muss dramatisch sein, sensationell, was Neues. dieses Handbuch fasst Bekanntes zusammen, dort finden Sie Aufschluss über ein paar hundert Personen, die sich vom Mittelalter bis zur Gegenwart als Ideologen des Antisemitismus irgendwann irgendwie hervorgetan haben, z. B. Henry Ford, den Automobilfabrikinhaber aus den Vereinigten Staaten. Das Anliegen des Handbuchs ist es, alles vorhandene Wissen zusammenzutragen und praktikabel zu machen. Sie finden darin auch ungefähr 100 Länderartikel, denn Ausprägungen des Antisemitismus in Algerien, in Malaysia, den Vereinigten Staaten bringen durchaus unterschiedliche Stereotypen über den Einsatz von Feindbildern zutage.
Eine besondere deutsche Form gab es vielleicht nach dem Dritten Reich als sich der sekundären Antisemitismus in Westdeutschland entwickelt hat, er ist aber inzwischen schon lange nicht mehr darauf beschränkt. Heute haben wir in der Bundesrepublik alle vier Formen von Judenfeindschaft und parallel und sich überlagernd in allen möglichen Formen. Rassistischer Antisemitismus ist aus nachvollziehbaren Gründen in der Bundesrepublik weniger stark vertreten als früher. Das heißt aber nicht, dass es ihn nicht gibt, und er sich nicht mit einzelnen Elementen der verschiedenen Arten von Judenfeindschaft vermengt,
Und einen spezifisch Ostdeutschen?
Das ostdeutsch Spezifische war der Antizionismus, also Israel war als Feindstaat zu definieren, und alles was mit Israel kommunizierte, war abzulehnen, aber inzwischen nivelliert sich das. Unmittelbar nach der Wende gab es in der zu Ende gehenden oder in der abgewickelten DDR eigentlich keinen Ansatzpunkt für bestimmte antisemitische Feindbilder. Hostienfrevel etwa war den Leuten in der DDR so vollkommen unbekannt, einfach weil sie nicht wussten, was eine Hostie ist, weil die so popularisiert waren, das unterschied sie von Tirol oder Oberbayern oder Mittelfranken, wo man sowohl wusste, was eine Hostie ist und auch von der Oma wusste, was die Juden angeblich mit dieser Hostie zu machen pflegten. Also in solcher Form nivelliert sich das immer stärker. Wenn unmittelbar nach der Wende in Umfragen praktisch Null Antisemitismus für die DDR das Ergebnis war, so lag das nicht zuletzt daran, dass dort die Frage überhaupt nicht verstanden wurde. Hätte man anders gefragt und die Sozialisation der DDR-Bürger berücksichtigt, hätte man auch die Grundmuster des Antisemitismus finden können.
Haben Sie eigentlich die Sorge, dass mangels noch lebender Zeitzeugen in der nächsten Generation die Aufklärung über Folgen des Antisemitismus wie den Holocaust sehr schwierig wird?
Nein, diese Sorge habe ich gar nicht. Die Zeitzeugen konnten das ja auch nicht leisten. Die Zeitzeugen waren oder sind eine gute Ergänzung für einen anständigen Geschichtsunterricht, aber die eigentliche Arbeit muss immer der Geschichtslehrer leisten. Es gibt so viel Material, es gibt – die Zeitzeugen sind nicht tot: es gibt Videos, es gibt ihre Bücher, es gibt ihre Texte. Die Sorge „um Gottes willen, was soll werden, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt“ ist ein Klischee. Überdies sind die Zeitzeugen nie die einzigen Transporteure von Wissen gewesen. Zeitzeugen im historischen Unterricht erzeugen im günstigen Falle eine Vertiefung dessen, was der Lehrer auch vorbereitet, nachbereitet und erläutert hat. Man muss diese Sorge daher nicht haben. Es wird aus einem anderen Grunde schwieriger werden, das ist ganz selbstverständlich:
Mit wachsendem Abstand zum Völkermord an den Juden ist es schwieriger, jungen Leuten klar zu machen, was passiert ist. Die Anstrengung auf der lehrenden Seite wird größer. Aber Lehrer waren noch nie so gut unterstützt mit Unterrichtsmaterialien, Anschauungsmaterialien, Texten, mit Interneteinspielungen, mit CD-ROM, didaktisch wunderbar aufbereitet. Also daran liegt es nicht, aber generell ist die Schwierigkeit, je weiter wir uns vom Ereignis entfernen, desto schwieriger ist es, Verständnis und Empathie dafür zu erringen.
Fürchten sie eigentlich eine zunehmende Professionalisierung der extremen Rechten, die ihre Mythen und Geschichtsklitterung via Internet wieder fruchtbar machen könnte?
Die Sache darf man nicht überbewerten: Vernetzung und Professionalisierung, und was immer dann an die Wand gemalt wird. Da war viel die Rede von der „Dresdner Schule“ der NPD, die ein Gegengewicht gegen die legendäre Frankfurter Schule der Sozialwissenschaft bilden sollte. Da ist in Dresden aber nie etwas an die wissenschaftlich respektierte Oberfläche gekommen. Und nur, weil sie mit Schlips und Kragen herumlaufen und nicht jedes Fremdwort falsch aussprechen, wächst dieser Funktionärs-Einfluss jetzt nicht exponentiell. An diese rechtsextreme Professionalisierung, an die würde ich erst glauben, wenn solches Denken salonfähig wäre, wenn es an der Universität ein beliebiges Angebot gäbe für ein Seminar gegen die Juden. Aber davon sind wir weit entfernt. Und deshalb ist ganz klar, im politischen Kampf sind sie professioneller als früher und nutzen dann etwa auch den Tiefschlaf von SPD und CDU wie in Brandenburg bei der letzten Landtagswahl aus, indem sie überschaubare Themen wie Hartz IV, oder die Ausländerdebatte thematisieren.
Aber das ist ja doch nur eine sehr oberflächliche Professionalisierung. Und eine Intellektualisierung, wo in Seminaren Fremdenfeindlichkeit wissenschaftlich aufbereitet wird, so etwas sehe ich nicht. Ich glaube, das ja doch eher auf Aktionismus gestimmte Publikum der Rechten, ein auf schlichte Erklärungen und schlichte Lösungen erpichtes Publikum, ist an längerem Problemgrübeln im Seminar nicht so sehr interessiert und eigentlich auch nicht fähig.
Bleibt gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus Bildung am Ende das einzige Rezept?
Das einzige! Moral und gehobener Zeigefinger und Verurteilung, das mag es mit zweifelhaftem Erfolg im Bereich des Persönlichen geben, aber Bildung, exakt und rational nachvollziehbare Erkenntnisse sind das Wichtigste. Dafür Lehrer gut zu schulen, darauf kommt es an. Wir haben zum Beispiel 2006 zum ersten Mal eine Sommeruniversität gegen Antisemitismus veranstaltet, unterstützt von der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir werden das wegen der guten dabei gewonnenen Erfahrung in 2007 wieder machen. Es erscheint mir ungeheuer notwendig, dass man Lehrer und Vermittler der politischen Bildung, am liebsten wäre mir auch die Lehrlingsausbilder der großen Betriebe, in dreitägigen Veranstaltungen mit Vorträgen konditioniert: Was tut man, wenn am Arbeitsplatz antisemitische Parolen laut werden? Wenn diese Verständigung über Feindbilder, über Stereotypen erfolgt? Die Aufklärer aufzuklären, und denen das Rüstzeug an die Hand zu geben, das ist der Sinn der Sommeruniversität, das ist der Versuch des Universitätsinstituts, sich direkt in die Gesellschaft hineinzubewegen und unsere Erkenntnisse publik und fruchtbar zu machen.
Wie ernst genommen sehen Sie sich denn mit dem Rat und den Erkenntnissen des Zentrums für Antisemitismusforschung in der Politik?
Da kommt natürlich die Gretchenfrage. Wir werden geachtet, wir werden mehr um Rat gefragt, als wir eigentlich leisten können. Wie nachhaltig das dann ist? Wenn etwas Dramatisches passiert ist, hat die Politik kurzfristig ungeheueren Beratungsbedarf. Beratungsresistenz zeigt sich dann aber auch sehr schnell. Politiker, hat man manchmal den Eindruck, brauchen schnelle und griffige Formeln, mit denen sie Kompetenz zeigen können. Wir leisten diesen Part der Beratung, der weit über das hinausgeht, was ein Universitätsinstitut eigentlich tun muss und tun kann. Aber ich bin dann auch oft eher resigniert und denke: Was ist das?
Wenn jetzt der Politiker, der sich heftigst gegen den Antisemitismus engagiert, ein festliches Abendessen veranstaltet, bei dem 150 Gegner des Antisemitismus in einem erstklassigen Restaurant zusammenkommen und mächtig Spesen machen auf Staatskosten. Was bringt das dann wirklich an gesellschaftlicher Aufklärung? Muss ich da mitspielen? Wenn etwas Dramatisches passiert, wie der Anschlag auf das Grab von Heinz Galinski, dem ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, das Neonazis in die Luft zu sprengen versuchten, dann kommen Politiker in die abendliche Fernseh-Talkrunde und sind sich schon vorher im Vorgespräch in der Garderobe einig: Das kann kein Berliner gewesen sein, der das gemacht hat, nur ein Fremder. Denn der Berliner tut das nicht. Politiker agieren in der Regel gleich auf Schadensbegrenzung und versuchen, das in ihre Erklärungswelt einzubringen.
Wie respektiert ist denn die Stellung des Zentrums an der Hochschule oder auch in der Wirtschaft, wenn es etwa um Drittmittel geht? Letzlich ist das Zentrum für Antisemitismusforschung doch eine weltweit einzigartige Einrichtung, da könnte man von Außen meinen, das muss doch etwas einfacher sein, notwendige Forschungsmittel zu erhalten?
Das ist leider Wunschdenken. An der Universität können wir uns nicht beklagen. Was die Wirtschaft betrifft, geht es uns dagegen ähnlich, wie vielen Projekten, die sich in einem gesellschaftspolitischen Bereich, der nicht jedermann schmeckt, engagieren: die Zuwendung fällt mager aus. Nur ein Beispiel: Wir haben einmal über einen Verteiler der Industrie- und Handelskammer 1000 Bitt-Briefe an Unternehmen in Berlin verschickt – ohne jede Resonanz.
Wie ist es mit Anfeindungen? Erhält Ihr Institut regelmäßig Drohbriefe aus der rechten Szene, so wie jüdische Einrichtungen in Deutschland oder die MUT-Redaktion….
Ich habe ja einmal die Briefe an den Zentralrat der Juden in Deutschland erforscht, aber weniger den sattsam bekannten antisemitischen Radau. Den gibt es natürlich. Der leise Antisemitismus kommt aber in ganz normalen Briefen genauso deutlich heraus. Viel lehrreicher über Antisemitismus ist also tatsächlich die vergleichsweise ’normale‘ Post. Da landen Beschwerden ausgelöst durch Hartz IV, durch Einkommensverlust und durch Existenzangst. Die Schreiber brauchten irgendjemand, auf den sie Verantwortung abwälzen konnten, dem sie sagen müssen, was sie schon lange beschwert, und deshalb schrieben sie an den Vorsitzenden Paul Spiegel, Durchschlag an Bundeskanzler Schröder. Da sieht man auch die Ersatz- und Stellvertreterfunktion. Anlass ist, Herr Spiegel hat eine Rede gehalten und hat irgendein Interview, Statement im Fernsehen gegeben, das bringt das Fass zum Überlaufen, und der Jude wird der Sandsack zum abreagieren. Und Schröder bekommt gleich einen Schlag mit.
Und Post an Sie selber?
Wir bekommen im Vergleich erstaunlich wenig Drohbriefe und ich privat eigentlich gar keine. Das hängt damit zusammen, dass ich nicht im Telefonbuch stehe, dass also meine Privatadresse schwer zu ermitteln ist. Das ist das Unglück von drei Menschen gleichen Namens, die im Telefonbuch stehen, die mich auch manchmal anrufen und sagen, das sei schon schlimm, was sie da manchmal zu hören kriegten am Telefon oder was man ihnen schickt. Klar, es gibt auch Drohbriefe oder Schmähbriefe an den „idiotischen Antisemitismusprofessor in Berlin“. Aber das ist keine nennenswerte Größenordnung. Ich glaube, da gibt es eine Schwellenangst vor der Universität.
Wer sagt denn, dass Du Dich schämen musst junge Frau? Du bist nicht schuldig und du musst dich nicht schämen. Aus. Ende. Du bist nur verantwortlich für das was Du heute tust und in Zukunft. Dafür gescheite Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, das ist richtig. Dieses Gefühl sich schämen zu müssen, wird manchmal von verwirrten Lehrer produziert, die zu moralisch oder weinerlich das Thema Judenverfolgung im Unterricht behandeln. Da wird viel zu viel emotionalisiert, anstatt anständiger faktenorientierter Unterricht gemacht. Und wenn dann Jugendliche kommen und lamentieren „aber was geht mich das denn an“, dann muss man ihnen erklären, dass sie das etwas angeht als Wissensstoff, und dass sie damit umgehen können, wenn sie im Ausland als Deutsche danach gefragt werden, dass das aber kein moralisches Problem ist, und dass sie sich nicht schämen müssen.
Sie schämen sich ja, wenn der Großvater in die Ladenkasse gegriffen hat, dafür wahrscheinlich auch nicht, das war Großvaters Angelegenheit. Also es gibt keine Kollektivschuld. Und auch die Kollektivscham war eine Formel, die in den 50er Jahren vielleicht einer inzwischen sehr alten Generation ein bisschen weiter geholfen hat. Das sind abgegriffene Formeln, mit denen man heute überhaupt nicht operieren kann. Also: man kann sehr viel lernen aus der Geschichte des Holocaust. Aber am Allerwenigsten, dass ein 15-Jähriger oder eine 14-Jährige deswegen Schuldgefühle haben muss.
Herr Professor Benz – herzlichen Dank.
Das Interview führte Holger Kulick.
Dieses Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).