MUT: Was ist eigentlich Antiziganismus und welche Rolle spielt er im Zusammenhang mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit?
Vorurteile, Hass und Feindschaft gegenüber den Roma und Sinti sind Jahrhunderte alt und tief im kulturellen Code der Mehrheitsgesellschaft verankert. Bevorzugtes Medium stellen die „Zigeunerbilder“ dar, einerlei ob mit positiver oder negativer Couleur. Im Computerzeitalter könnte man von „attachments“ sprechen, also von Botschaften, die der Minderheit angehängt werden und zwar so sehr, dass die gesamte Gruppe mit diesen Botschaften identifiziert werden kann. „Jemanden etwas anhängen“, sagt man in der Alltagssprache, wenn man andere in ein schlechtes Licht rücken, ihren Ruf schädigen oder in etwas verwickeln will. Was von außen herangetragen und von wem auch immer den Roma und Sinti angehängt wird, ist zunächst etwas, was mit ihnen selbst zunächst nichts zu tun hat, in der Folge aber wie ein Etikett oder unauslösbares Stigma an ihnen haften bleibt. Die Ursachen und Motive von Stigmatisierung sind bei den Diskriminierenden zu suchen. Es scheint sie etwas zu belasten, das sie loswerden und anderen anheften wollen.
Betrifft dieser Mechanismus auch andere Gruppen, z.B. Juden?
Roma und Sinti sind neben den Juden die einzige Minderheit in Europa, die seit Jahrhunderten mit dem Stigma des Fremden und ewigen Wanderers behaftet wurden. Angehängt und angeheftet wurden ihnen die ungelösten Widersprüche entlang gesamtgesellschaftlicher Konfliktlinien – etwa der Sesshaftigkeit/Bodenständigkeit im Feudalstaat, den sozialen Disziplinierungen in der aufkommenden Industriegesellschaft, den Ex- und Inklusionskräften des Nationalstaates oder der missglückten Aufklärung und Emanzipation. Über Jahrhunderte mussten sie als die unerziehbaren, nichteingliederbaren, nichtzugehörigen Anderen – als Gegenbild zur christlich-bürgerlichen Gesellschaft fungieren. Die damit verbundenen Ausgrenzungs- und Vertreibungsversuche, Pogrome und Zigeuneredikte sind ebenso Teil des europäischen „Zivilisationsprozesses“ wie die versuchte „Endlösung“ in Auschwitz. Das verübte Unrecht fand Rechtfertigung und Legitimation im Antisemitismus und Antiziganismus: „Die Juden sind Schuld an ihrem Unglück“, hieß es auf den Naziplakaten; diese Logik galt für die Roma und Sinti nicht weniger. Kurzum: der Begriff „Zigeuner“ erspart die Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit, ihrer Herrschafts-, Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsmechanismen ebenso wie die Analyse der konkreten Lebensbedingungen der Roma und Sinti.
Wie sieht die aktuelle Situation aus, wie wird Antiziganismus öffentlich wahrgenommen?
Vor über 100 Jahren beschrieb der jüdische Soziologe Georg Simmel das Verhältnis zwischen dem Fremden und der Eigengruppe: Der Fremde sei darin immer schon ein Teil der Gruppe; er sei kein Wanderer, der heute kommt und morgen gehe, sondern der Gast, der in der gewährten Nähe bleibt.
Die Mehrheit der Bevölkerung möchte in ihrer Nähe keine Fremden haben und mit ihnen zusammenleben. Laut Emnid 1994 wollen 68 % der Bevölkerung Roma und Sinti nicht als Nachbarn haben und 37 % fordern sogar ihre Ausweisung. Dieser Befund bildete im Vergleich zu den anderen Minderheiten in Deutschland den höchsten Negativwert. Dies ist nur ein Grund zur Annahme, dass das Verhältnis zwischen Eigen- und Fremdgruppen als ein gesellschaftlich ungelöstes gelten muss. Dies gilt jedoch nicht nur für die großen gesellschaftlichen Fragestellungen, sondern ebenso sehr für die Verletzungen und Demütigungen, die Roma und Sinti im Alltag erfahren müssen. Von gleichwertigem und respektvollem Zusammenleben kann man so lange nicht sprechen, als Angehörige der Minderheiten – wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit – in Gaststätten, Bars und Diskotheken nicht bedient werden oder keinen Zutritt bekommen; solange wie Roma und Sinti bei der Arbeits- und Wohnungssuche benachteiligt werden und solange sie in der Öffentlichkeit keine Partizipationsmöglichkeiten haben.
Was tun Sie konkret, um Antiziganismus entgegenzutreten und welche Rolle spielt dabei das Projekt „Living Equality“?
Unsere Überzeugung, dass Antiziganismus wie auch Antisemitismus als zeitlose Rechtfertigungsmuster auf unbegriffene Geschichte zurückzuführen sind, veranlasst uns, die gegenwärtigen Ursachen- und Wirkungszusammenhänge dieser Muster näher zu beleuchten. Dabei lautet das Grundmotiv unseres Projektes: „Augenblicke des Einhaltens“. Dies im doppelten und im wörtlichen Sinne. Einmal, um die Zeitlosigkeit des Alltags und seiner Gewohnheiten zu unterbrechen, um innezuhalten: Unterbrechung – Stille – ein Augenblick, der sich für sich und Neues öffnet. Zum anderen meint Augenblick, den Blick in die Augen, das Antlitz des Anderen. Eine der elementarsten menschlichen Gesten, die an die Verantwortung gegenüber dem Anderen, seine Würde und Anerkennung appelliert.
Für die Angehörigen der Minderheit wird es im Projekt darum gehen, dass sie in der Solidarität mit den Anderen lernen können, sich ihrer kulturellen Identität zu vergewissern und selbstbewusst auf ihr Recht auf Verschiedenheit zu pochen. Sie brauchen als Betroffene die Möglichkeit neue Denk- und Erfahrungsräume zu eröffnen, in denen sie sich aus der Falle antiziganistischer Denk- und Handlungsmuster befreien und selbstbewusst auf die Anderen zugehen können.
Bildungstandems aus den beiden Gruppen sollen den Jugendlichen und Pädagoginnen, die Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, zum einen mit ihrer Präsenz und zum anderen natürlich mit verschiedenen Medien und Methoden Argumentationshilfen gegen Antisemitismus und Antiziganismus nahebringen. Im lernenden Umgang mit und im Nachdenken über die eigene und gemeinsame Lebenswelten, den Blick darauf zu lenken, dass die schmerzlichen und unglücklichen Dinge nicht weniger ihren Platz haben als die Glücksversprechen und Wünsche, die uns zugehören. Dann heißt solidarisches Miteinander, dass man nicht länger vereinzelt im eigenen Glück oder Unglück verharrt, dass man den Anderen nicht als Sündenbock oder Projektionsfläche benutzt. Sondern es meint den Augenblick des Einhaltens und sich zu öffnen für eine gemeinsame Welt: „living equality“.
In Kooperation mit ausgewählten Schulen und Bildungsträgern werden wir unser Projekt erproben, um dann in der zweiten Phase die „Momente des Einhaltens“ an Mannheimer Schulen bzw. im Kulturhaus RomnoKehr durchzuführen – und auch auszuwerten. Sicherstellen wollen wir eine Vernetzung auf lokaler und regionaler Ebene, sowie eine überregionale Tagung, auf der das Projekt präsentiert und diskutiert werden wird.
Was hoffen Sie am Ende erreicht zu haben?
Wenn am Ende zwei kompetente Bildungstandems ausgebildet und mit guten Materialien und Methoden ausgestattet haben, werden wir gut gearbeitet haben. Wir hoffen eine tragfähige Basis für eine wirkungsvolle Antidiskriminierungsarbeit in Mannheim entwickeln zu können, die den Netzwerkpartnern guten Austausch und Kooperation ermöglicht, sodass unsere Bildungstandems in einem weiteren Schritt in Richtung Metropolregion gehen können.
Das Gespräch mit Egon Schweiger führte Rufus Sona.
Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).