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Interview Die Angst vor Geflüchteten oder der erste Schritt zum Vorurteil?

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Frau Küpper, was ist ein Vorurteil und wie entsteht es?

Ein Vorurteil ist eine verallgemeinernde Einstellung zu Menschen, die man einer Gruppe zuordnet und diese dann abwertet. Vorurteile entstehen in drei Schritten: Erst werden Menschen anhand von zugewiesenen Merkmalen wie z.B. der Ethnie, der Religion oder des Geschlechts in verschiedene Gruppen eingeteilt, in „wir“ versus „andere“.

Im zweiten Schritt verbindet man mit diesen Kategorien bestimmte Eigenschaften – die Stereotype. Das sind zum Teil uralte Vorstelllungen, die wir im kollektiven Bewusstsein haben und mit den Gruppen assoziieren, wobei man der eigenen Gruppe immer positivere Eigenschaften zuweist als anderen. Wenn man zum Beispiel selbst als besonders ordentlich, friedfertig und tolerant erscheinen möchte, werden „die anderen“ entsprechend schmutzig, kriminell und intolerant gemacht. Im dritten Schritt werden die Eigenschaften dann bewertet. Diese sind nämlich nicht neutral, sondern werten die bezeichneten Menschen auf oder ab. Nach dem Vorurteilsforscher G. W. Allport lässt sich sagen: „Ein Vorurteil ist, von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken“.

Sind Vorurteile denn per se rassistisch?

Naja, schon. Rassismus würde man etwas breiter definieren, da haben wir die Unterscheidung von individuellem, institutionellem und strukturellem Rassismus; und Vorurteile sind quasi der individuelle Einstellungsteil. Ja, sie sind rassistisch und zwar in dem Punkt, wo sie pauschalisierende Urteile über den einzelnen Menschen treffen, nur weil man ihn einer Gruppe zuweist und dieser Gruppe bestimmte Eigenschaften, Haltungen usw. zuschreibt.

Wer sind denn die Betroffenen von Vorurteilen? Gegen wen richten sich Vorurteile besonders?

Vorurteile können sich im Prinzip gegen jeden richten, den man einer Gruppe zuweist, die man nicht als die eigene wahrnimmt. Im kulturellen und historischen Vergleich sieht man aber, dass diese Gruppen im Laufe der Zeit sehr ähnliche waren, und zwar trifft es fast immer Menschen, die religiös, ethnisch oder kulturell als „anders“ gewertet werden. Es sind fast immer auch Kranke oder Menschen mit Behinderung, häufig nicht hetero-sexuelle und arme Menschen, fast immer auch Frauen. Wie stark die jeweiligen Vorurteile ausgeprägt sind variiert jeweils, aber sie ziehen sich durch die Geschichte und unterschiedliche kulturelle Kontexte hindurch.

Also verschwinden Vorurteile nicht einfach? Lassen sich Entwicklungen feststellen?

Man kann sich das so vorstellen: Wir haben all diese Erzählungen in unserem kulturellen Gedächtnis in einer Box, in die wir jederzeit hineingreifen und die Inhalte reaktivieren können. Beim Thema Flüchtlinge konnte man seit Sommer 2015 dabei zusehen, wie alte Vorurteile wieder auf der Bildfläche erschienen. Anhand unserer Forschung zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit lässt sich feststellen, dass lange Zeit die Abwertung von Sinti und Roma und Asylsuchenden in den Hintergrund getreten war.

Das hat uns dann 2012 eingeholt mit der Diskussion um Roma in Frankreich. Plötzlich war das Thema wieder da, und da hatten wir wieder die ganzen teils uralten Bilder und Narrative über Roma. Als zweites haben wir die Gruppe der Asylsuchenden, die in den neunziger Jahren stark mit abwertenden Vorurteilen versehen wurden. Da die Zahlen der Asylsuchenden in den letzten Jahren vergleichsweise gering waren, spielte die Abwertung dieser Gruppe fast keine Rolle mehr – und auch da müssen wir sagen, dass sie stark wiedergekommen ist. Bei der letzten Erhebung des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld im Sommer 2014 sagten rund 40%, Asylsuchende seien gar nicht wirklich verfolgt, über 60% lehnten eine großzügige Asylregelung ab – und ich befürchte, dass diese Zahlen inzwischen noch deutlich schlechter geworden sind.

Welche Vorurteile gegenüber Geflüchteten prägen aktuell die Wahrnehmung in Deutschland?

Wir haben die ganz alte Kiste: Flüchtlinge sind kriminell, Flüchtlinge vergewaltigen unsere Frauen. Da erkennt man die alten Assoziationen vom „fremden schwarzen Mann“ des klassischen Rassismus; dazu kommen Vorurteile, die sich speziell gegen Muslime richten und diese pauschalisierend als gefährlich darstellen, sei es aufgrund vermeintlicher Terrorgefahr oder Kriminalität. Außerdem wird gesagt, Muslime würden „unsere“ Werte nicht kennen, also Demokratie, Gleichberechtigung und „christlich-abendländische Werte“ – was auch immer das ist. Boshaft gesagt, sind das ja nun offenbar auch Werte, die auch den Holocaust möglich gemacht haben.

Von Asylsuchenden haben wir kein richtiges Bild, deshalb werden die Vorurteile gegen sie von dem gespeist, was wir mit ihnen assoziieren: Das Bild des Asylsuchenden addiert die Vorurteile gegenüber Roma, Muslimen, „dem schwarzen Mann“ und „dem Fremden“ allgemein und erzeugt dann das Bild des dreckigen, kriminellen, gefährlichen, sexuell potenten Vergewaltigers oder Verführers „unserer“ Frauen, je nachdem, mit welchem Thema man sie in Verbindung bringt.

Welche Rolle spielen die Medien bei der Vermittlung dieser Bilder?

Wenn die Medien die Asylsuchenden als Masse darstellen, dann ist das ein Problem, da Massendarstellungen immer mit Angst verbunden sind. Gerade die Darstellung von Menschen in Massen, denen es nicht gut geht, die auf der Straße campieren, die vielleicht dreckig sind – das knüpft unmittelbar an die Assoziation von „dem Fremden“ an, der als „dreckig“, „arm“ und „gefährlich“ wahrgenommen wird. Das heißt, diese Bilder sind für die alten Stereotype sehr zugänglich. Dann gibt es Begrifflichkeiten wie „Flüchtlingsflut“, „Flüchtlingschaos“, „Flüchtlingskrise“, selbst in den seriösen Medien. Da ist es kein Wunder, wenn man Angst kriegt, obwohl man selbst noch keinen einzigen Flüchtling gesehen hat.

Zum „Angst-Faktor“: Handelt es sich dabei tatsächlich um Ängste oder beinhaltet die Aussage „Ich habe Angst vor den Asylsuchenden“ nicht schon eine Verallgemeinerung durch negative Zuschreibungen?

Genau, da ist man dann schon mit einem Schritt beim Vorurteil. Das ist erstmal eine affektive Komponente, aber die Menschen haben ja nicht von sich aus Angst, sondern den Menschen wird Angst gemacht. Der Mensch hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf das, was er nicht kennt, zu reagieren: mit Angst und mit Neugierde.

Und wir sehen, die Hälfte der Menschen ist nach wie vor positiv den Geflüchteten gegenüber eingestellt: sie sind interessiert, sehen die Aufgabe als Herausforderung, können mit dem „Wir schaffen das!“ ziemlich viel anfangen, packen an und machen dabei viele für sie positive Erfahrungen. Die andere Hälfte reagiert mit Vorbehalten. Ob diese als Angst interpretiert oder zu Angst gemacht werden können, hängt von den Deutungsmustern ab. Teilweise wird es den Menschen einfach gemacht, ihre eigenen Unsicherheiten als Angst zu interpretieren.
Natürlich ist es eine logistische Herausforderung, in kurzer Zeit relativ viele Menschen unterzubringen. Aber da verlangen wir von uns, dass das mal eben von jetzt auf gleich funktioniert. Entweder sage ich dann: „Na klar mache ich mir meine Gedanken, wie das alles funktionieren soll, und dann müssen wir auch dafür sorgen, dass es besser klappt.“ Oder ich benenne es als Angst und gehe dieser Angst nach und fange an, lauter Assoziationen zu aktivieren, die mit dieser Angst zusammenhängen. Dann habe ich die alten Bilder präsent, vom Vergewaltigen, Stehlen usw. Das heißt die Menschen haben nicht per se Angst, sondern sie wissen zunächst nicht, wie sie sich verhalten sollen, und dann wird Angst gemacht und geschürt – und dies ist ja zum Teil auch sehr gezielt gemacht worden.

Im Netz kursieren zum Teil ganz absurde Gerüchte über Geflüchtete, die stehlen, vergewaltigen, Kinder töten würden, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wie erklären Sie sich den Erfolg dieser Gerüchte, die mit der Realität nichts zu tun haben?

Das ist das Prinzip der geschlossenen Räume. Diese Gerüchte werden ja gezielt ins Netz gestellt und verbreitet. Das Problem ist, dass Fakten gegen Gerüchte nichts ausrichten können. Natürlich ist es wichtig, dass die Polizei diese Geschichten dementiert, aber damit werden nur diejenigen angesprochen, die sich noch für die Realität interessieren, und nicht die, die sich von den Gerüchten anstecken lassen. Die befinden sich in den geschlossenen Räumen, sei es im Internet, an Stammtischen oder im Freundeskreis. Dort wird eine ähnliche Grundhaltung geteilt, und da gibt es auch keinen Widerspruch. Dazu kommen Verschwörungstheorien, zum Beispiel dass gesagt wird, die Polizei dürfe Verbrechen von Geflüchteten nicht zur Anzeige bringen. So werden auch gegenläufige Informationen direkt wieder eingewoben in die Verschwörungstheorie, und diese wird ein Selbstläufer.

Angesichts der Brandanschläge in den letzten Monaten: Wie können Vorurteilen zu Gewalttaten führen?

Zum Glück führen Vorurteile nicht immer direkt zum Handeln. Aber Vorurteile können durchaus den Boden bereiten für Gewalt, die von Einzelnen ausgeführt wird. Dabei sind soziale Normen sehr wichtig: Wenn es erlaubt ist zu sagen, dass Flüchtlinge nicht in Ordnung sind und sie weg sollen und dies auch von Politikern und den Akteuren in den Medien so geäußert wird, dann setzt das Normen oder erlaubt, bestehende Normen, wie Respekt und Toleranz, aufzuweichen. Und dann fühlen sich diejenigen, die ablehnend eingestellt sind, eingeladen, ihre Ablehnung auch in Handlungen zu übertragen.

Zum anderen sind die Bezugspersonen wichtig, die den Tätern zustimmen und den Einzelnen einladen und auffordern, aktiv zu werden und beispielsweise einen Brandsatz zu werfen. Das wenige, was wir bisher von Tätern wissen, zeigt, dass die meisten aktive Rechtsextreme sind, die aber in einem sozialen Kontext agieren. Wenn also wenige dieser Taten aufgeklärt werden, ist das auch damit zu erklären, dass die Umgebung nicht so genau hinguckt. Und dadurch wird so eine Aktion auch legitimiert, denn dann wird sie vermeintlich im Einverständnis der Mehrheit vollzogen, die sich nur nicht traut, selbst aktiv zu werden.

Außerdem gibt es Fälle, die „vom Nachbarn nebenan“ getätigt werden, und die sind interessant, da es sich da um Menschen handelt, die schon wissen, wo die Grenze des Erlaubten verläuft und die selbst Gesetzestreue immer ganz groß schreiben würden. Diese Leute bewegen sich in einem Umfeld, wo Hetze on- und offline verbreitet wird und zu Gewalt aufgefordert wird und dadurch werden sie radikalisiert und die Taten als „Notwehr“ legalisiert.

Welchen Rat hätten Sie für die mediale Berichterstattung über Geflüchtete?

Ein bisschen Gelassenheit täte der Debatte gut. Und es wäre viel geholfen, würde man das Engagement von Ehrenamtlichen zumindest wohlwollend begleiten, auch wenn man vielleicht selbst nicht aktiv mitarbeitet. Denn viele Aktive müssen sich immer wieder und immer mehr gegenüber Freunden, Bekannten und Verwandten für ihr Engagement verteidigen. Durch mediale Anerkennung würden statt der Ängste und Vorurteile diejenigen bestärkt, die für humane Lösungen der Probleme vor Ort aktiv sind.

Es ist wichtig, die Botschaft zu senden: Überfordert euch nicht und denkt, es muss alles furchtbar schnell gehen und sofort funktionieren. Wir hatten im Sommer 2015 viele sehr positive Bilder über die „Willkommensbewegung“ in Deutschland. Dieser Hype galt ja gar nicht nur den Geflüchteten, sondern war eine Art innerdeutscher Debattenbeitrag als Gegenbild zu dem, was wir zuvor bei PEGIDA gesehen haben. Also eine große Gegendemo, ein demonstratives „Willkommen-Heißen“ der Neuankommenden. Dadurch hatte dieser Hype eine etwas dysfunktionale Prägung, mit all den Teddybären usw. Auf der anderen Seite war er wichtig als echte, demonstrative Gegenwehr gegen PEGIDA.

Die Politik hat hier die Bevölkerung unterschätzt, denn die war in der Mehrzahl viel positiver eingestellt, als diese dachte, das zeigen die Meinungsumfragen. Der scheinbare Meinungswandel im Winter 2015 hat sich nicht von allein vollzogen, sondern wurde durch das vorauseilende Agieren in manchen Teilen der Politik und durch die unkritische Übernahme von PEGIDA-Deutungsmustern und Rhetoriken befördert.

Wurden da die Vorurteile von der Politik instrumentalisiert?

Ja, vor allem wurden sie zunächst aktiviert. Wenn in eigentlich seriösen Diskussionssendungen von vier Leuten einer rechtspopulistische Parolen äußert, erscheint das als eine akzeptierte Position, die man als zunächst neutraler Zuschauer übernehmen könnte. Dazu kommen die alten Bilder im kollektiven Gedächtnis, die immer abrufbar sind. Durch Ereignisse wie die Anschläge von Paris setzte sich dann das Bild durch, dass nun lauter Muslime kommen und diese vor allem radikale Islamisten seien – zuvor hatte die Religionszugehörigkeit von Syrern beispielsweise kaum eine Rolle gespielt.

Durch die Übergriffe in Köln und Hamburg kommt noch das klassische Bild des „fremden schwarzen Mannes“, der „unsere“ Frauen belästigt, hinzu. In die gleiche Richtung gingen Äußerungen, die vor den jungen, muslimischen Migranten warnen, die „unsere“ deutschen Mädchen verführen könnten. Das ist das alte Bild des Sarazenen mit dem Dolch hinterm Rücken und der Haremsdame, das immer auch Erotik transportiert. Darin steckt die Angst, dass uns „unsere“ Mädchen „weggenommen“ werden, und die Mädchen selbst werden passiv dargestellt und gar nicht gefragt. Diese Debatte ist natürlich in jeder Hinsicht furchtbar sexistisch: Frauen werden nur als Objekte des „fremden Mannes“ oder aber als „unsere Mädchen“ dargestellt. Letztlich geht es dabei nur am Rande über die Geflüchteten selbst. Sie dienen vielmehr als Folie, um Grundfragen der Gesellschaft zu verhandeln bzw. hinter der sich eine eigentlich zerrissene Gesellschaft vereinigt fühlt, wenn die Differenz zu „den Fremden“ nur groß genug erscheint.

Wie lassen sich Vorurteile abbauen? Können sie argumentativ widerlegt werden?

Widerlegen funktioniert nur sehr schwer, da es nicht allein um den kognitiven Aspekt eines Vorurteils geht, sondern um den emotionalen. Das ist auch der Ansatzpunkt, der in der Prävention ganz gut funktioniert. Empathie ist ein guter Anfang, und die ist bei Flüchtlingen ja durch Perspektivübernahme leicht zu erzeugen. Alte Menschen können zum Beispiel die heutigen Fluchtgeschichten mit ihren eigenen Erfahrungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Verbindung bringen und nachempfinden, wie sich ein Leben auf der Flucht und das Ankommen in einer unbekannten Umgebung anfühlen. Das hilft dabei, Ähnlichkeiten herzustellen und nicht immer nur auf die Unterschiede zu schauen.

Bei den Unentschlossenen, die sich noch keine genaue Meinung gebildet haben, helfen zudem gezielte Information und Fakten, die mit einer positiven Botschaft verbunden werden: Flüchtlinge können und werden uns bereichern; Deutschland hat sehr viel Erfahrung mit Migration und das alles in allem auch bisher gut hingekommen. Das zeigen übrigens trotz aller Unkenrufe über die angeblich „gescheiterte Integration“ auch die empirischen Befunde.

Das Interview führte Marius Hellwig.

Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

*Beate Küpper ist Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein. Von 2006 bis 2011 arbeitete die Sozialpsychologin an der Langzeitstudie zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Deutschland“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld mit. 

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