Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Interview „Die demokratische Mitte denkt sich in Sachsen selber weg“

Von|
Osten Neonazi

Während sich die Corona-Pandemie in Sachsen weiter zuspitzt, gehen immer mehr Menschen auf die Straße, um gegen die Infektionsmaßnahmen und gegen Impfungen zu demonstrieren. Diese Menschen radikalisieren sich zunehmend. Am Freitagabend belagerten rund 30 Personen mit Fackeln das Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping. Laut eines ZDF-Berichts vom Dienstag haben radikalisierte Impfgegner im Messengerdienst Telegram einen Mord an Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer geplant.

Benjamin Winkler, Experte für Reichs- und Verschwörungsideologie der Amadeu Antonio Stiftung in Sachsen, erklärt im Interview, warum besonders Sachsen so anfällig für demokratiefeindliche Bewegungen ist, wie Rechtsextreme Sachsen als Experiment-Region ausprobieren, welche Rolle die AfD und Höcke in der derzeitigen Situation einnimmt und vor welchen drei Problemen die demokratische Zivilgesellschaft steht.

Belltower.News: Wie nehmen Sie momentan die Situation in Sachsen wahr?
Benjamin Winkler: Wir sehen momentan eine Zunahme an Demonstrationen, vor allem in den sächsischen mittelgroßen Städten wie Freiberg, Bautzen, Zwickau, Annaberg-Buchholz oder auch größere Städte wie Chemnitz. Die Demonstrationen sind hingegen noch nicht so sehr in den großen Städten Dresden und Leipzig angekommen. Ganz Sachsen ist also noch nicht betroffen würde ich sagen, aber es gibt regionale Schwerpunkte wie das Erzgebirge oder Ostsachsen. Was wir aber auch sehen, ist, dass die Größe und die Wirksamkeit der Proteste von Woche zu Woche zunehmen.

Warum verfangen die Proteste besonders im Erzgebirge so gut?
Im Erzgebirge kann man glaube ich ganz klar sagen, dass dort die „Freien Sachsen“ beheimatet sind. Eine Gruppe von Personen, die versuchen, neue Strategien des Rechtsextremismus auszuprobieren – eine Erneuerungen der Rechtsextremen in Sachsen quasi. Die „Freien Sachsen“ kann man also ganz klar auch als eine Art Update des klassischen Rechtsextremismus verstehen. Und viele ihrer Führungspersonen sind mehr oder weniger in der Erzgebirge-Region verhaftet. Durch diese Verankerung der rechtsextremen Szene in dieser Region gelingt es natürlich auch immer wieder, an die bürgerlichen Schichten Anschluss zu finden. Das war schon bei den Anti-Asyl-Protesten so.

Und warum ist Ostsachsen ein besonderer Schwerpunkt der Demonstrationen gegen die Infektionsschutzmaßnahmen?
Einerseits, weil dort traditionell rechtsextreme Kader stark verankert sind. Früher natürlich eher die Kameradschaften, die NPD, später dann die „Identitäre Bewegung“. Ostsachsen ist eine klare AfD Hochburg und das korrespondiert mit diversen antidemokratischen Einstellungen. In Bautzen haben wir dann noch eine Art Querfront, wo Personen aus dem klar rechten Spektrum mit Personen aus dem fundamental kirchlichen Spektrum, aus dem alternativ esoterischen Spektrum bis hin in das friedensbewegte Spektrum, Allianzen bilden und gegen „die da oben“ aufbegehren. Dieses Bündnis existiert seit mindestens 2015. Damals beschrieb es sich als das bessere oder demokratischere „Pegida“, was ist beim genaueren Hinsehen natürlich nie wahr. Auch dort traten extrem radikale Kräfte und antisemitische Personen auf Kundgebungen auf. Hier wirkt also eher eine diffuse Mischung von Akteur:innen mit.

Ist diese diffuse Mischung aus Akteur:innen in der Region Bautzen mit westdeutschen Demonstrationen wie in Stuttgart vergleichbar, die auch immer noch um ihren bürgerlichen Anschein bemüht sind?
Es gibt bestimmte Phänomene, die ostsächsische Regionen mit dem südwestdeutschen Raum verbinden: Wir haben in der Bautzener Ecke auf jeden Fall ein Problem mit fundamental religiösen Gruppen. Personen, die ein wirklich fundamentales Weltbild haben, in dem auch verschwörungsideologisches und antisemitisches Denken eine wichtige Rolle spielt. Das sind Kräfte, die jetzt die Pandemie leugnen. Allerdings aus anderen Gründen, als beispielsweise rechtsextreme Akteure:innen. In den fundamental religiösen Kreisen wird dann sowas gesagt wie: Mein Körper wurde mir von Gott geschenkt und deswegen darf da keine Spritze rein. Oder Krankheit muss man durchmachen, weil das Gottes Wille ist. Für die Region um Bautzen kommt dann noch hinzu, dass es dort eine friedensbewegte Szene gibt, die sehr stark an Russland orientiert ist. Ihr antiwestliches und antiimperialistisches Denken bietet dann wieder starke Anknüpfungspunkte mit der rechtsextremen Szene.

Wie sieht hier der Radikalisierungsprozess aus?
Das ist zum Teil schwer nachzuvollziehen, weil die Leute heute äußerst radikal erscheinen. Aber man kann schon davon ausgehen, dass es immer Personen gab, die nicht zum Kern der rechtsextremen Szene gehört haben, die sich aber mittlerweile in diese Richtung radikalisiert haben. Und an der Stelle kann man vielleicht sagen, dass am Anfang so ein diffuses Misstrauen gegenüber Institutionen, Medien, Staat, Politik, Wirtschaft stand. Vielleicht auch ein Fremdeln mit dem System BRD, vielleicht auch aus einer Enttäuschung des Wende-Prozesses heraus.

Also spielen Enttäuschungen post-1989 eine große Rolle?
Ja, sicherlich. Es gibt in Sachsen einige zentrale Akteur:innen, die aus den Erfahrungen der Wendezeit und dem damaligen Demokratie-Prozess eine Enttäuschung ableiten. Menschen, die sich in diesem System BRD nicht wohlfühlen und auch nicht gehört und gesehen fühlen. Aus dieser Enttäuschung und dem Gefühl von Machtlosigkeit haben sich viele Personen immer weiter radikalisiert. Besonders in den Regionen Bautzen und im Erzgebirge ist eine konservative Haltung sehr stark ausgeprägt. Bis in die 2000er-Jahre hinein war die CDU faktisch vor der AfD in solchen Regionen Volkspartei, also mit 40 oder 50 Prozent der Stimmen. Jetzt verliert die CDU regelmäßig erhebliche Stimmen an die AfD. Dieses konservative-bürgerliche Spektrum gab es in diesen Regionen schon immer.

Konservatismus ist an sich ja einfach nur eine politische Kategorie. Kann man nicht vielleicht zur Phänomenbeschreibung konservativ-rassistisch sagen?
Das sind, glaube ich, zwei verschiedene Sachen. Auf der einen Seite gibt es, wie in allen Teilen Sachsens, mindestens einen Alltagsrassismus, der natürlich auch schon zu DDR-Zeiten existierte und wie wir wissen, auch zu DDR-Zeiten kaum bis gar nicht bearbeitet wurde. Das hat sich dann in der Wendezeit auch nicht wirklich verbessert. Zu Ostsachsen gehört beispielsweise auch Hoyerswerda. Es gab dort also sowohl radikale Neonazis, aber auch eine Mehrheit der Bürger:innen die Pogrome Anfang der 1990er-Jahre geduldet haben. Mir geht es mit dem Begriff eher um eine ablehnende Haltung gegen die Moderne. Ein konservatives Weltbild also in dem Sinne, dass man mit der Moderne und mit der Modernisierung der Gesellschaft fremdelt. Menschen, die mit Pluralisierung der Lebensverhältnisse, Liberalisierung, Globalisierung nicht so viel anfangen können und die sich in eine Vergangenheit zurückwünschen. Eine Vergangenheit, die sie mythologisieren.

Sie meinen die Vergangenheit des DDR-Regimes?
Ja, wahlweise wünschen sie sich in Teilen die DDR-Zeit zurück, manchmal auch das Kaiserreich. So zum Beispiel Martin Kohlmann, Chef der „Freien Sachsen“. Es ist schon bemerkenswert, dass einige Sachsen schwarz-weiß-roten Fahnen hissen – nicht als Symbol der rechtsextremen Szene, sondern in einem „Reichsbürger“-Verständnis. Diese Leute sind dem Mythos aufgesessen, dass es im Kaiserreich besser war. Sie sagen beispielsweise, im Kaiserreich seien die Menschen freier gewesen als heute. Und insofern würde ich sagen, dieses konservative Weltbild, das ist nochmal was anderes. Da gehört der Rassismus natürlich dazu, aber er ist umfassender.

Wie erklärt sich die antimoderne Einstellung vieler Sachsen?
Besonders in der Region des Erzgebirges ist eine Ablehnung gegen alles Städtische groß. Viele sehnen sich in eine dörfliche Idylle zurück. Tradition und Identität spiel hier auch eine wichtige Rolle, im Erzgebirge beispielsweise die Identität als Bergarbeiter. Viele Menschen haben eine Identität inne, die mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun hat, da dort kaum noch Bergbau betrieben wird. Ich glaube auch, dass eine Region, die derart stark in alten Traditionen verhaftet ist, sich nicht neu erfinden kann. Und Leute, die mit der Moderne fremdeln und sich in eine Vergangenheit zurück wähnen, sind empfänglich nicht nur für rechtsextreme, sondern eben auch für verschwörungsideologische Propaganda, weil die Verschwörungsideologie ihnen ja verspricht, dass es eine Zeit nach der Moderne gibt.

Es ist ja auch interessant, dass besonders in Sachsen viele Vereine agieren, die vordergründig nur Heimattümelei versprechen, letztendlich aber klare Neonazi-Gruppen sind…
Na ja, also es gibt ja diese Theorie, dass Sachsen und besonders solche Regionen wie das Erzgebirge so ein Labor ist für die rechtsextreme Szene, wo man bestimmte Taktiken ausprobiert. Und das kann man jetzt gerade wieder ganz gut beobachten am Beispiel der „Freien Sachsen“.

Der Name ist nun schon einige Male gefallen. Wer genau sind die „Freien Sachsen“?
Derzeit sind die „Freien Sachsen“ maßgeblich an der Vernetzung und Mobilisierung der Corona-Demonstrationen für Sachsen beteiligt. Eine Partei, die größtenteils aus überzeugten Rechtsextremen besteht. Ihr Chef ist Martin Kohlmann, ein überzeugter Monarchist, der kein Hehl daraus macht, dass es ihm darum geht, die Demokratie abzuschaffen. Die „Freien Sachsen“ wirken wie ein Verein, sie sind letztendlich jedoch eine Partei. Sie nutzen das Parteienrecht aus, um nicht so schnell verboten zu werden, was ihnen als Verein schneller passieren könnte.

Was ist das derzeitige Erfolgsrezept der „Freien Sachsen?
Die „Freien Sachsen“ haben erfolgversprechende Führungsfiguren, die auf den ersten Blick nicht aus der Nazi-Schmuddelecke stammen, beim genauen Blick kommen sie jedoch genau daher. Die Hauptakteure sind für einige Menschen in Sachsen Identifikationsfiguren. Die „Freien Sachsen“ verfolgen zudem momentan einen dezentralen Ansatz, eigentlich sehr untypisch für rechtsextreme Mobilmachung, in der derzeitigen Situation funktioniert es jedoch sehr gut.

Diesen dezentralen Ansatz haben sie sicherlich von „Pegida“ gelernt, oder?
Ja sicherlich. Auch Pegida wurde nicht von irgendwelchen „besorgten Bürger:innen“ gegründet, sondern von Personen, die klar im rechten Spektrum verankert waren. Alleine, dass man die heutigen Demonstrationen Spaziergänge nennt, kommt von „Pegida“. Auch dass man sich politisch weder als links noch rechts versteht, und gleichzeitig der rechtsextremen Szene alle Möglichkeiten bietet, sich auszubreiten. Und auch der große Anker Verschwörungserzählung ist ähnlich zu den rassistischen Kundgebungen von „Pegida“. Damals war es der sogenannte „Große Austausch“, heute treibt die Menschen die fiktive Erzählung des „Great Resets“ auf die Straße.

Können wir aus dem „Pegida“-Vergleich etwas lernen?
Das wichtigste ist sich noch mal vor Augen zuhalten, dass die Mobilisierung und der Zuwachs an Demonstrant:innen bei „Pegida“ irgendwann abgenommen hat. Das macht mich etwas zuversichtlich, wenn ich auf die derzeitigen Demonstrationen blicke. Es ist durchaus möglich, dass die Demos jetzt ihre Teilnehmer:innen-Zahl noch mal verdoppelt, aber dann ist Schluss, denke ich, dann ist der Peak erreicht.

Also machen Sie sich nicht allzu viele Sorgen?
Doch schon. Was ich bisher absolut nicht einschätzen kann, ist, wie viele Menschen sich jetzt so weit radikalisiert haben, dass sie bereit sind, Gewalttaten zu begehen. Neonazis nutzen die Ängste und Sorgen in Teilen der Bevölkerung aus, um sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Letztendlich wollen sie den Sturz der Demokratie mit allen Mitteln vorantreiben. Natürlich müssen wir schauen, wie wir die breite Masse zurück ins demokratische System holen, aber wir müssen auch schauen, wie wir extrem rechten Ideolog:innen das Handwerk legen.

Ist das aber nicht bisschen wie mit dem Kopf der Hydra?  
Versuchen muss man es trotzdem immer wieder. Gleichzeitig sind viele Neonazi-Kader narzisstische Persönlichkeiten, die keinen Platz neben sich lassen. Insofern könnte sich das Problem ja auch irgendwann von selber lösen. Und für Sachsen gibt es einige, die einen Führungsanspruch geltend machen. Momentan halten die Allianzen zwischen den verschiedenen Gruppen noch, irgendwann werden die Ansprüche auf bestimmte Regionen jedoch kommen, da bin ich sicher.

Und dann ist da ja noch der AfD-Landesverband. Wie verhält es sich mit der AfD?
Der AfD-Landesverband verhält sich momentan relativ zurückhaltend. Als der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla den Fackelmarsch von Gegnern der Corona-Politik vor dem Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping kritisierte, waren die „Freien Sachsen“ und ihre Anhänger:innen empört. Und um die Menge dann wieder zu beschwichtigen, passiert das, was immer passiert: Der eigentliche AfD-Führer wurde gerufen. Björn Höcke zeigte sich auf einer Demonstration im thüringischen Arnstadt. Die AfD weiß genau, wen sie allzu bürgerlich erscheint, dann wird sofort der Faschist Höcke gerufen und alles ist wieder gut.

Wie bekämpft die sächsische Zivilgesellschaft die Gefahr von Rechts im Bundesland?
Eines vorweg: Wir müssen den Leuten wirklich dankbar sein, die sich rechten Strukturen widersetzen. Aber die sächsische Zivilgesellschaft hat drei große Probleme.

Und zwar?
Das erste Problem ist, dass sie in ihrem Wirken über einen bestimmten Raum nicht hinauskommt. Sie spricht im Wesentlichen ihr eigenes Klientel an und verstärkt diese Klientel vielleicht auch. Sie kämpfen beispielsweise für Orte für alternative Jugendliche, wo sie abends mal Bier trinken können, ohne sofort von Nazis angepöbelt zu werden. Und dafür müssen wir ja wirklich dankbar sein. Aber sie schafft es eben nicht, diesen Raum zu verlassen. Ich beobachte nicht, dass es gelingt, sonderlich stark zu expandieren oder dieser rechten Stimmung wirklich etwas entgegensetzen zu können, weil sie einfach zu schwach sind.

Und die anderen Probleme?
Zum zweiten Problem: Die sächsische Zivilgesellschaft erfährt fast keine oder nur sehr wenig Unterstützung durch offizielle Stellen. Die Extremismustheorie und mit ihr das leidige Hufeisen-Denken ist in Sachsen noch weit verbreitet. In dieser Logik wird Rechtsextremismus immer nur bekämpft, wenn man auch Linksextremismus bekämpft. Dieses Narrativ führt jedes Mal zu einer absoluten Erschwernis. Alles, was nichts rechts ist oder was als rechts diskutiert wird, gilt hier sehr schnell als linksextrem. Was übrigens auch eine bemerkenswerte Aussage ist für die sogenannte demokratische Mitte, dass sie sich eigentlich selber wegdenkt. Das dritte Problem ist, dass das Erstarken von rechtsextremen Strukturen auch zu physischer und psychologischer Bedrohung für engagierte Demokrat:innen führt. Und diese Bedrohungen nehmen im Zuge der aktuellen Proteste noch zu.

Was kann man tun, um die Zivilgesellschaft und Engagierte in Sachsen zu stärken?
Zum einen müssen wir die demokratischen Kräfte fördern, wie es nur geht. Andererseits müssen wir uns aber langsam mal eingestehen, dass das alleine nicht genügt. Wir brauchen langfristige Lösungen. Wir müssen einen neuen bürgerlichen Konsens schmieden, dass bestimmte Einstellungen einfach von der Mehrheit nicht geduldet werden. Und das wird nicht gehen, wenn man das nur der Zivilgesellschaft überlässt. Ich befürchte, dass wir in Sachsen vor großen Konflikten stehen, die jetzt endlich ausgetragen werden müssen, wenn man irgendwann wieder starke demokratische Mehrheiten haben will.

 

Weiterlesen

Eine Plattform der