Der oberste Gerichtshof der USA steht kurz davor, das 1973 erlassene Gesetz „Roe vs. Wade“, welches das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche garantiert, zu kippen. Dies geht aus einem im Magazin „Politico“ veröffentlichten Gesetzesentwurf des konservativen Richters Samuel Alito hervor. Diesem Gesetzentwurf geht eine jahrzehntelange Kampagne der religiösen Rechten voraus. Belltower News sprach mit der Historikerin Annika Brockschmidt, die in ihrem 2021 publizierten Buch „Amerikas Gotteskrieger“ die Geschichte und Ideologie des christlichen Fundamentalismus in den USA analysiert.
Belltower News: Als Historikerin beschäftigen Sie sich seit Jahren intensiv mit christlichem Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten. Die aktuellen politischen Kämpfe gegen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Frauen und queeren Menschen zeigt auf erschreckende Weise, wie wirkmächtig diese Ideologie ist. Was zeichnet den christlichen Fundamentalismus in den USA aus, welches Weltbild wird vertreten?
Annika Brockschmidt: Am einfachsten lässt sich der christliche Fundamentalismus mit der Ideologie des christlichen Nationalismus erklären. Dessen Kerngedanke ist: die USA sind von weißen Christen für weiße Christen gegründet wurden – was mit der tatsächlichen Gründungsgeschichte erstmal nichts zu tun hat. Aus diesem Mythos wird ein vergangenes, goldenes Zeitalter erfunden, in dem weiße, rechte, patriarchale Christ:innen den Ton angegeben hätten. Das momentane Amerika sei jedoch dem Untergang geweiht, Schuld daran trügen die Demokrat:innen oder säkulare Einflüsse. Diese müssten mit allen Mitteln bekämpft werden, um dieses goldene Zeitalter – was es so nie gegeben hat – wieder herzustellen. Letzten Endes geht es darum, eine Gesellschaft zu etablieren, in der weiße, konservative Christen die gesellschaftliche Macht über alle Bereiche haben.
Knapp über 50 Prozent aller Amerikaner:innen stehen dem christlichen Nationalismus übrigens „positiv“ oder „eher positiv“ gegenüber – christlicher Nationalismus ist jedoch eine Skala, es gibt ihn in unterschiedlich starken Ausprägungen. Wir haben also nicht nur weiße Evangelikale, sondern christlicher Nationalismuskann auch in einem säkularen Gewand auftreten – als kulturelle Vorstellung eines weißen, christlichen Amerikas. Es ist verbindendes Element vieler unterschiedlicher konservativer religiöser Gruppierungen, zu denen inzwischen auch rechte Katholik:innen zählen.
Was sind die Ursprünge der religiösen Rechten in der USA?
Die Gründung der organisierten christlichen Rechten in den USA, mit ihrem Lobbygruppen und Thinktanks, lässt sich auf die Sechziger und Siebziger Jahre zurückführen. Die religiöse Rechte behauptet, sie sei lange Zeit unpolitisch gewesen, aber erst das Urteil im Fall Roe vs. Wade hätte sie quasi gezwungen, sich politisch zu äußern. Das ist eine schicke Geschichte, hat aber nichts mit der historischen Realität zu tun. Äußerungen zu Abtreibungen kamen von der sich erst formierenden religiösen Rechtenerst Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre. Warum erst dann? Der eigentliche Grund der politischen Organisierung war die Aufhebung der Segregation an Schulen und die daraus folgende potenzielle Besteuerung von neu gegründeten, rein weißen, christlichen Privatschulen, sogenannten Segregation Academies, die es sogar heute noch gibt. Die Steuerbehörde und der oberste Gerichtshof wollten durchsetzen, dass diese rein weißen Privatschulen besteuert werden. Schulen sind als Non-Profit organisationen eigentlich steuerfrei. Das führte zu Empörung – weiße Evangelikale wollten quasi weiter rassistisch diskriminieren, aber dafür keine Geldzahlungen in Kauf nehmen müssen. Der Protest entwickelte das Framing: „Der Staat will in christliche Erziehung eingreifen und Kinder indoktrinieren“, was ja auch ein heute noch populäres Narrativ ist. Das war der eigentliche Organisationsgrund, nur kam das außerhalb der eigenen Blase nicht so gut an – deswegen wurde sich dann der Abtreibung als Kampffeld zugewandt.
Der aktuelle Höhepunkt dieses Kampfes gegen marginalisierte Menschen stellt wohl die geplante Abschaffung des Gesetzes „Roe vs. Wade“ dar, das ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche garantiert. Wie kam es dazu?
Es handelt sich hierbei um das Ergebnis eines jahrzehntelangen Projekts der religiösen Rechten – durch Lobbyarbeit oder das Schulen von juristischem Nachwuchs. Es kommt nicht von ungefähr, dass die meisten Richter:innen am obersten Gerichtshof entweder direkte Empfehlungen der Federalist Society sind oder aus deren Umfeld stammen. Es ist eine Organisation von Juristi:innen, die sich einer sehr wortgetreuen Auslegung der Verfassung und der mutmaßlichen Intention des Verfassers verschrieben haben – der sogenannte „Textualismus“ oder „Originalismus“. Das hat natürlich radikale Folgen für alle Menschen, die keine weißen, Land besitzenden Männer sind. Letztendlich ist der Textualismus auch lediglich eine in sich nicht kohärente Pseudo-Rechtsphilosophie, die als Vorwand genommen wird, um rechtskonservative Ideologie in Urteile umzusetzen.
Die Mehrheit der US-Amerikaner:innen sind für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. Wieso kann der Supreme Court die Abschaffung durchsetzen, obwohl es gegen die Mehrheit der Bevölkerung ist?
Die religiöse und politische Rechte ist sich seit schon lange im Klaren darüber, dass sie keine Mehrheiten mehr gewinnen können. Bereits in den 1960ern und 1970ern zeichnete sich die Tendenz ab, dass die USA weniger konservativ, weniger weiß, weniger christlich werden. Die religiöse Rechte hätte also, um im demokratischen Rahmen weiter erfolgreich zu bleiben, die eigenen Positionen anpassen und mehr in die Mitte rücken müssen. Die Republikaner haben sich jedoch dagegen entschieden, und es vorgezogen, den demokratischen Rahmen zu verlassen. Das bedeutet, die amerikanische Religiöse Rechte hat von Anfang an durch gezielte Mobilisierung das politische System ausgenutzt, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Denn das politische System gewichtet Stimmen aus ländlichen, spärlicher besiedelten Gebieten stärker als die in Ballungsräumen. Und dann gibt es da noch Figuren wie Mitch McConnell, der es als seine Lebensaufgabe betrachtet, konservative Richter:innen an den obersten Gerichtshof und ins gesamte Justizsystem zu bringen. Dass Trump drei Richter:innen einsetzen konnte, war kein Glück, sondern Resultat einer gezielten Machtpolitik von McConnell. Es gibt generell sehr wenige Regularien für den obersten Gerichtshof. Die einzige Möglichkeit, dessen Macht einzuschränken, wäre eine umfassende Justizreform.
Was hat die Abschaffung von „Roe vs. Wade“ für konkrete Auswirkungen auf ungewollt Schwangere?
„Roe“ leitet, aufbauend auf dem Fall „Griswold v. Connecticut“, aus dem 14. Zusatzartikel der Verfassung ein allgemeines Recht auf Privacy ab. Darunter fällt auch die Bestimmung über den eigenen Körper. Der Urteilsentwurf von Alito hebt nicht nur „Roe vs. Wade“, sondern auch den nachfolgenden Fall „Planned Parenthood vs. Casey” auf, der die Trimester-Regelung von „Roe“ ändert und Abtreibungen mit Einschränkungen an der Überlebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Uterus festmacht, also bis etwa 24 Wochen theoretisch erlaubt. Alitos Urteilsentwurf kippt jedoch die Urteile in beiden Fällen explizit. Alito sagt, dass Roe, als auch Casey falsch entschieden wurden – das bedeutet, es wird kein landesweit geschütztes Recht auf Abtreibung mehr geben. Die religiöse Rechte behauptet, dass sie das Recht nicht verbieten, sondern die Gesetzgebung an die Bundesstaaten zurückgeben würden. Das stimmt – aber konkret bedeutet das, dass Abtreibungen in 26 Staaten gar nicht mehr oder kaum möglich wird. 13 Staaten haben sogenannte „Trigger Laws“, was das Verbot automatisch umsetzen wird, andere verfügen über bereits bestehende Abortion Bans. Es ist der Sieg eines jahrzehntelangen, politischen Projekts.
Feminist:innen befürchten, dass die Abschaffung von „Roe vs. Wade“ nur der erste Schritt in einem Feldzug gegen alle Menschen, die keine bürgerlichen, weißen, heterosexuellen cis Männer sind. Welche Auswirkungen drohen noch?
Das Kippen von „Roe vs. Wade“ wird erst der Anfang sein. Was wir in dem Urteilsentwurf von Alito sehen – das sagt er selbst – ist ein großflächiger Angriff auf alles, was unter das „Right of Privacy“ fällt. Alle Urteile, die sich aus dem „Right to Privacy“ ableiten sind bedroht. Darunter fällt auch das Urteil im Fall „Griswold vs. Conneticut“, das verheirateten Paaren das Recht auf Verhütung garantiert. Alito ist auch der Ansicht, dass die Aufhebung der Sodomiegesetze und das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe „falsch entschieden“ worden seien. Das ist eine Ankündigung dafür, was vermutlich als Nächstes auf der Liste steht: die Aufhebung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Kriminalisierung von Homosexualität. Außerdem haben wir bereits aktuell Gesetzgebungen auf Bundesstaats-Ebene, die gegen die LGBTQ-Community gerichtet sind. Dass zum Beispiel an Schulen nicht mehr über LGBTQ-Inhalte geredet werden darf oder dass es verboten ist, trans Kindern und Jugendlichen Hormonblocker zu verschreiben. Es geht ganz konkret darum, queere Menschen aus der Öffentlichkeit zu verbannen – und damit wird auch der Suizid von LGBTQ Kindern und Jugendlichen in Kauf genommen! Es werden sogar Gesetze verhandelt, die es Menschen verbieten, für geschlechtsangleichende Maßnahmen (Idaho) oder Abtreibungen (Missouri) den Bundesstaat zu verlassen. Ich glaube, die Dimension dessen, was gerade passiert, ist hier noch gar nicht richtig angekommen.
Wie konnte der christliche Fundamentalismus so stark werden? Hat sie in den letzten Jahren durch den Zuwachs der Alt-Right und die Präsidentschaft Trumps an Zulauf gewonnen oder haben sie eher mehr Öffentlichkeit bekommen?
Die Zahlen der Weißen Evangelikalen sinken stetig. Aber die religiöse Rechte bemerkt die USA werden multiethnischer und pluralistischer, und dies führt der eigenen Radikalisierung. Die bürgerliche Fassade wird aufgegeben. Ausschlaggebende Radikalisierungs-Momente waren die Wahl von Obama, die als Zeichen gesehen wurde, dass die politische und kulturelle Deutungshoheit aus den Händen weißen rechter Christen genommen wurde. EIn anderer, entscheidender Moment andere waren die Proteste nach dem Tod von George Floyd und der Start der Black Lives Matter Bewegung, auch hier ließ sich eine Verschärfung der weißen, christlichen Rhetorik bemerken. Alle Ereignisse, die rechte, weiße, christliche Sensibilitäten verletzen, dienen als weitere Bestätigung für eine Radikalisierung der Bewegung. Diese Leute haben das Gefühl, sie stehen mit dem Rücken zur Wand, deswegen gehen sie umso radikaler vor. Gleichzeitig wissen sie, dass sie ihre Macht nur erhalten können, indem sie in republikanischen Staaten das Wahlrecht einschränken.
Die Demokratische Partei hat die Mehrheit im Senat, im Kongress, und stellt das Weiße Haus. Dennoch wirkt sie momentan recht machtlos. Eine Minderheit bestimmt den politischen Diskurs. Wie kommt es dazu?
Die christliche Rechte hat es in den letzten Jahrzehnten sehr gut geschafft, Wähler:innen dort zu mobilisieren, wo es darauf ankommt. Die Demokratische Partei hat lokale Wahlen für sei es für den Stadtrat oder School Boards lange ignoriert. Sie denkt von Präsidentschaftswahl zu Präsidentschaftswahl. Die Rechte denkt eher in Jahrzehnten. Deswegen für sie eine Niederlage nicht so dramatisch, es ist nur eine kleine Hürde auf dem Weg zum Ziel. Dann haben wir kaum nachvollziehbare Ströme an „Dark Money“, Lobbyarbeit und Manpower. Es gibt außerdem ein Paralleluniversum an Medien, die einen hermetisch abgeschlossenen Raum an Desinformation führt, und das schon lange vor Facebook und Twitter. So haben rechte Geldgeber beispielsweise zahlreiche kleinere Radiostationen im ländlichen Raum aufgekauft, als der Lokaljournalismus um Niedergang begriffen war, um diese zu bespielen. Es ist ein breit angelegter, bestens finanzierter Kulturkampf mit dem Ziel, die Zeit in die Fünfziger Jahre zurückzudrehen und ein patriarchales, rechtes, christliches Land zu schaffen, und die Erfolge der Frauen, LGBTQ- und Bürgerrechtsbewegung zurückzudrehen. zu schaffen. Für Schwarze waren die USA noch in den 1950er Jahren kein demokratisches Land.
Gibt es personelle Überschneidungen zu anderen rechtsradikalen und -extremen Gruppen in den USA, wie QAnon-Anhänger:innen oder der Alt-Right?
Es gibt einzelne Brückenfiguren, die als Scharnier zwischen bürgerlich Konservativen, der Alt-Right und offenen Neonazis fungieren. Beispiele dafür sind der White Supremacist und Online-Troll Nick Fuentes oder der James Lindsey, der sich eine Karriere daraus gemacht hat, gegen die „Woke Culture“ zu hetzen und inzwischen regelmäßig Inhalte von Rechtsradikalen teilt. Und C.H. Beck hat 2022 eine Übersetzung seines Buchs publiziert! Ein weiteres Beispiel is der extrem populären FOX-Moderator Tucker Carlson. Er reproduziert seit Jahren Argumente von Rassist:innen und White Nationalists und wird dafür von der extremen Rechten gefeiert. Außerdem hat er sich in den letzten zwei Jahren weiter radikalisiert, beispielsweise spricht er offen über das rassistische Verschwörungsnarrativ des „großen Austausches“.
Lindsey ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Hass auf queere und linke Menschen innerhalb von wenigen Jahren zum Anbiedern an Faschist:innen wird.
Transfeindlichkeit ist da ein sehr guter Indikator. Wenn Accounts transfeindliche Inhalte posten, finden sich dort drei Monate später oft rechtsradikale Inhalte. In Deutschland sieht man das auch: transfeindliche „Liberale“ treten dann plötzlich auf rechten Konferenzen auf und beschweren sich dort darüber, dass die Linke zu „woke“ geworden ist.
Auch in Deutschland gibt es eine christlich-fundamentalistische Szene. Gibt es eine Zusammenarbeit mit derjenigen in den USA? Wenn ja, inwiefern?
Die religiöse Rechte ist sehr gut vernetzt, ihr Ziel ist die „Christianisierung der Erde“. So beispielsweise der „World Congress of Families“, ein christlich-fundamentalistischer Kongress, auf dem auch Deutsche sprechen. Sie geben an, die „Familie zu schützen“ – gegründet wurde er aber, um einen drohenden „demographischen Winter“ zu verhindern. Das bedeutet: es müssen mehr weiße Babys geboren werden. Auch Gloria von Thurn und Taxisist dort aufgetreten, die eine Verbindung in die katholische Rechte darstellt. Die rechte Hand von Armin Laschet, Nathanel Liminski, saß eine Zeit lang im Vorstand einer Stiftung, die eine internationale Organisationsseite verlinkt hat, auf der Konversionstherapie befürwortet wird. Auch die rechte Rhetorik aus den USA wird übernommen, ob es jetzt gegen „Political Correctness“, „Cancel Culture“ oder „Critical Race Theory“ geht.
Gibt es noch Möglichkeiten, das Ende von „Roe vs. Wade“ zu verhindern?
Theoretisch ja. Das Recht auf Abtreibung könnte durch den Kongress und den Senat in Gesetzesform gegossen werden. Das Problem ist: dafür bräuchte es entweder 10 republikanische Stimmen – das wird nicht passieren. Oder die Demokraten müssten mit 51 Stimmen den Filibuster abschaffen, das wird auch nicht passieren. Es müsste also zu einer landesweiten Protestbewegung kommen, um Druck auf die Demokraten auszuüben, die Jahrzehnte Zeit hatten, das Recht auf Abtreibung zu sichern. Dass die religiöse Rechte „Roe vs. Wade“ kippen möchte, war nie ein Geheimnis. Die Zentrist:innen in der Demokratischen Partei, die daran glauben, dass die Institutionen halten und die Angst vor Veränderungen haben, müssen überzeugt werden zu handeln. Ich selbst habe da aber wenig Hoffnungen. Es braucht eine große öffentliche Empörung, die aufrechterhalten werden muss, aber nachdem in Texas das Recht auf Abtreibungen bereits de facto abgeschafft wurde, blieb dies auch aus. Trotzdem gibt es momentan viele Menschen, die in den USA auf die Straße gehen, auch aus christlichen Gemeinden.
Wir in Deutschland können aber an Organisationen spenden, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen, falls wir vor Ort sind, uns an Demonstrationen beteiligen. Es ist kein Selbstläufer, dass die USA in den Autoritarismus abgleiten, aber gegen diesen Autoritarismus muss gekämpft werden.