Dr. Sergey Lagodinsky ist Politiker und Jurist: Seine Dissertation „Kontexte des Antisemitismus“ (2014) untersucht das Verhältnis von Antisemitismus und Meinungsfreiheit in Deutschland und im Völkerrecht. Er war Programmdirektor des Berliner Büros des American Jewish Committee und Mitglied des Präsidiums der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Seit 2019 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments für die Grünen und ist dort im Rechts-, Innen- und Außenausschuss tätig. Zudem ist er Vizepräsident der Working Group on Antisemitism des Europäischen Parlaments. Die „Aktionswochen gegen Antisemitismus“ der Amadeu Antonio Stiftung meinen: „Wir hätten also kaum jemand Qualifizierteren für ein Gespräch zu Antisemitismus in Europa finden können.“
Herr Dr. Lagodinsky, ab dem 01. Juli 2020 übernimmt Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU). Was erwarten und fordern Sie von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Bezug auf Antisemitismus?
Deutschland bringt eine besondere Expertise im Bereich Antisemitismus mit und das meine ich an dieser Stelle positiv: Eine Expertise im Bereich der Erinnerungspolitik und in der besonderen Aufmerksamkeit sowie Sensibilität für das Problem des Antisemitismus.
Im Jahr 2018 hat der Europäische Rat eine Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitskonzepts verabschiedet, um jüdische Gemeinden und Institutionen in Europa besser zu schützen. Die Nachverfolgung dieses Rahmenbeschlusses muss ernsthaft und systematisch vorangetrieben werden. Also was konkret aus dem Beschluss resultiert, wie und welche Maßnahmen in den Mitgliedstaaten implementiert werden.
Das bedeutet auch, dass eine Operationalisierung der IHRA-Definition von Antisemitismus vorangetrieben werden muss, nicht so sehr als Rechtsbegriff, aber als Konzept in den Bereichen Aufklärung, Bildung und Fortbildung, in Trainings sowie in Verwaltungsstrukturen, in der Justiz und der Strafverfolgung.
Deutschland kommt im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft auch an einem weiteren Punkt eine besondere Verantwortung zu: Aktuell verhandeln wir in der EU das Budget für 2021-2027. Hier sollen 20 Prozent der Gelder für Anti-Rassismus und Anti-Antisemitismustrainings und auch für andere zivilgesellschaftliche Maßnahmen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gestrichen werden. Das geht nicht! Ich erwarte von Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft, dass eine besondere Aufmerksamkeit dafür geschaffen wird.
Auch mit Blick auf den Wiederaufbau-Fonds im Kontext der Corona-Pandemie dürfen die sozialen Aspekte nicht hinter die rein wirtschaftliche Krisenbewältigung zurücktreten und verloren gehen.
Wie meinen Sie das?
Wir dürfen auf EU-politischer Ebene die Corona-Pandemie nicht auf wirtschaftliche Aspekte verengen. Das ist natürlich ein zentraler Aspekt, die wirtschaftlichen Folgen werden enorm sein. Unsere Wirtschaftsordnung wird sich verändern, es wird eine Wirtschaftsunordnung geben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass auch die zivilgesellschaftlichen Akteure Leidtragende sind, die auch gleichermaßen unsere Unterstützung brauchen.
Deswegen muss bei den Wiederaufbau-Fonds aufmerksam und effektiv auf Erhaltung der Demokratien, auf Anti-Rassismusprogramme, Anti-Hass-Programme geschaut und auch investiert werden. Die Stärkung der demokratischen Strukturen, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit stellen, die Stärkung unabhängiger Medien, die es auch hart trifft, muss an erster Stelle stehen. Ohne diese rechtstaatliche Komponente wird es nicht funktionieren. Und da beschäftige ich mich aktuell mit der Konditionalität der Gelder aus dem Wiederaufbau-Fonds, also: Was sind die Vorbedingungen dafür, dass Gelder aus dem Wiederaufbau-Fonds in die jeweiligen Mitgliedsstaaten fließen?
Wie können Zivilgesellschaften in Zeiten der Krise gestärkt werden?
Ich bringe den Vorschlag im EU-Parlament ein, dass die Mitgliedstaaten, bevor sie das Geld bekommen, erklären müssen, wie sie die Gelder außerhalb des wirtschaftlichen Bereichs investieren wollen. Wie viele und welche Maßnahmen sie also für die Zivilgesellschaft, den Non-Profit Bereich, für unabhängige Medien und für Kommunalverwaltungen zur Verfügung stellen. Von daher kann es eine Chance sein, dass diese Aushandlung während Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft stattfindet und gerade Deutschland in diesem Bereich sensibilisiert ist.
Was hat denn diese Krise mit Antisemitismus zu tun?
In Zeiten von großer Verunsicherung wegen Krisen und Epidemien kommt immer eine Welle von irrationalen Verschwörungsmythen auf, die irgendwann die Minderheiten treffen, Jüdinnen und Juden sowieso. Und ich denke, das ist noch nicht vorbei und da wird noch mehr kommen. Wir haben bislang nur die ersten Erschütterungen gesehen und wir müssen darauf vorbereitet sein, dass in der wirtschaftlichen Misere, die irgendwann ausbricht, noch weiter und noch intensiver auf irrationale Weise nach Schuldigen gesucht wird.
Für mich sind irrationale Systemkritik und alle Verschwörungsmythen, auch wenn das Wort Jude nicht explizit fällt, ein erster Schritt in Richtung Antisemitismus. Das bedeutet nicht, dass wir keine Systemkritik üben sollten, aber es gibt zum Teil irrationale Züge, die sich gefährlich entwickeln können.
In Deutschland gab es eine starke Zunahme antisemitischer Verschwörungsgeschichten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Wie haben Sie das wahrgenommen? Gab es ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern?
Auch Kolleg*innen aus Tschechien oder Osteuropa haben ähnliches erzählt, aber dort ging es mehr um Vorfälle im digitalen Bereich. Offline, beispielsweise bei den sogenannten Hygiene-Demos, gab es meines Wissens nach keine vergleichbaren Fälle wie in Deutschland.
Das könnte natürlich mit den vergleichsweise geringen Einschränkungen und dem lockeren Lockdown in Deutschland zusammenhängen. Zudem gab es eine schiefe Grundrechtsdiskussion, in der ich als Jurist natürlich genau schaue, wo wir tatsächliche Rechtsstaatsdefizite haben und wo es sich um übertriebene Ängste handelt. Jede Mund-Nasen-Maske als Grundrechtsbeschneidung zu verstehen, ist unangemessen. Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass unsere Freiheiten nicht unter dem Deckmantel der Pandemie-Bekämpfung unrechtmäßig beschnitten werden. In Deutschland führte eine im Vergleich zu Frankreich oder Spanien milde Freiheitseinschränkung zu der schiefen Wahrnehmung Einiger, dass alles Unbequeme und Ungewohnte zwangsläufig rechtswidrig sei. Und dazu kam eine psychologische Destabilisierung der Bevölkerung. Da frage ich mich schon, was da aktiviert wurde, was wir auch historisch angelegt haben – also nicht in einem kulturalistischen, sondern in einem historischen Sinne.
In einer bestimmten Generation in Deutschland können vermutlich viele auch nicht nachvollziehen, was wirkliche Grundrechtseingriffe sind. Und dadurch entsteht eine Schieflage, wo man quasi endlich auf die Barrikaden gehen darf, um vermeintlich für die Freiheit zu kämpfen. In Deutschland nehme ich das sehr massiv wahr, in Spanien gibt es auch eine große Unzufriedenheit mit der Regierung – dort gab es aber striktere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und einen strikteren Lockdown.
Als MEP haben sie nicht nur einen gesamteuropäischen Blick auf Probleme und Herausforderungen, sondern auch auf Gegenstrategien und Handlungsstrategien. Haben Sie dafür gelungene Beispiele?
Aus einer jüdischen Community-Perspektive finde ich Begegnungsprojekte sehr gut. Unsere Gesellschaft redet über Jüdinnen und Juden, ohne jüdische Personen zu kennen und mit ihnen zu interagieren. Und das ist ein großes Manko, weil das direkt ein Einfallstor für alle möglichen Fantasien ist. Insofern finde ich Begegnungsprojekte gut z.B. auch mit Leuten aus den muslimischen Communities oder Menschen, die als Musliminnen markiert werden oder auch mit nicht-muslimischen migrantischen Commmunities, die in der Debatte häufig ausgeblendet werden. In Deutschland gibt es beispielsweise auch unter den viereinhalb Millionen Russlanddeutschen ein Potenzial an Feindlichkeiten und Stereotypen gegenüber jüdischen Menschen. Darauf müssen wir mehr achten. Begegnungsformate, Safe Space-Formate finde ich wichtig. Wir dürfen hierbei nur nicht zu naiv sein: Begegnungsprojekte sind schön, aber sie werden immer episodisch bleiben – Wir haben nicht genug Juden für jeden Antisemiten und das ist ein Problem.
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